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Sprachliche Stolperfallen bei der Mobilitätswende
Wenn das noch was werden soll mit der Mobilitätswende, müssen wir Gas geben. Als Leserin oder Leser der mobilogisch! wissen Sie schon: Die Mobilitätswende ist eine große und komplexe Baustelle, da geraten wir schnell ins Schleudern. Obwohl uns manchmal scheint, die Situation sei festgefahren, ist es wichtig, dass wir – als Gesellschaft – die Kurve kriegen.
Wegen der Verkehrsgewalt, wegen des Klimas, wegen der öffentlichen Gesundheit und vieler weiterer Gründe können wir uns keinen Leerlauf leisten. Wir müssen auf die Überholspur und dürfen nicht länger auf die Bremse treten. Aber vielleicht müssten wir erstmal einen Gang runterschalten, Energie tanken? Um dann so richtig mit quietschenden Reifen durchzustarten?
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass in jedem Satz des vorigen Absatzes mindestens eine Automobilmetapher vorkommt. Damit wollen wir zeigen, wie tief das Auto in unserem Sprachgebrauch verankert ist. Und was tief in unserer Sprache verankert ist, ist ebenfalls tief in unseren Köpfen, unserem Denken und Fühlen verwurzelt. Das Auto durchdringt unsere Kultur, unsere Politik und prägt unser Denken und Handeln so sehr, dass wir auch dann vom Auto reden, wenn wir das gar nicht wollen.
Selbst wenn wir uns ein kleines Stückchen von der Dominanz des Autos befreien wollen, orientieren wir uns an der Normalität des Autos. Wir wollen zum Beispiel für die Mobilitätswende Fahrrad-„Autobahnen“ einrichten oder „auto“-freie Stadtteile gestalten. Mit dem Ausdruck „autofrei“ betonen wir, dass etwas an der Straße positiv von der Auto-Norm abweicht, nämlich, dass sie frei von Autos ist. Unsere Orientierungsgröße aber bleibt das Auto.
Was ist eine Straße?
Die Bemühungen um menschengerechte Städte und Dörfer, um aktive Mobilität und um die Mobilitätswende wird auch durch unsere sprachliche Autoorientierung gelähmt. Sie verfestigt und reproduziert die autogerechte Welt in unterschiedlicher Weise.
Die Vorstellungen, die der Begriff „Straße“ hervorruft, illustrieren dies. Unsere Vorstellungskraft entwirft „Straße“ als einen Ort, an dem Autos fahren oder geparkt werden. Der Duden definiert die Straße als einen „aus Fahrbahn und zwei Gehsteigen bestehender Verkehrsweg für Fahrzeuge (und bes. in Ortschaften) Fußgänger“. Im Duden und in unseren Köpfen ist die Straße offenbar verankert als Autorevier. Menschen ohne Auto kommen im besten Fall an dessen Rand vor.
Dies hat Folgen: Was stellen Sie sich vor, wenn Sie ein Schild mit der Aufschrift „Straße gesperrt“ sehen? Wohl, dass hier keine Autos fahren dürfen. Dass eine „gesperrte“ Straße aber für Fußgänger „offen“ ist, kommt uns nur mit Glück in den Sinn. Denn unser Straßenverständnis – den Frame, der das Wort Straße in unseren Köpfen aufruft - flüstert uns ein, dass offene Straßen für Autofahrende offen und für zu Fuß Gehende „gesperrt“ sind! Wir denken die Straße so stark vom Auto aus, dass wir eine Straße, auf der ein Straßenfest gefeiert oder ein Markt geöffnet wird, als „gesperrt“ ansehen. Dabei wird die Straße nur für eine einzige Sache gesperrt, für den Autoverkehr.
Wir sollten etwas genauer hinschauen, wenn eine Straße als ‚gesperrt‘ bezeichnet wird. Mit ihrer „Öffnung” ist die Straße nämlich weit mehr als hauptsächlich Durchgangs- und Lagerraum für Autos, sie kann auch Lebensraum für Menschen und Pflanzen sein. Vielleicht sind Straßen – vor allem städtische - offener als wir gewöhnlich denken. Ist der Autoverkehr in unseren Köpfen einmal entthront, tut sich ein breites Spektrum möglicher Nutzungen auf, vom Straßenmarkt über das Straßencafé zum Straßentheater zur Straßenmusik bis hin zu Spielplätzen, Wiesen und Bäumen, eine Verwandlung, die man durchaus nicht als „Sperrung“ sehen muss.
Räume, die nicht von der Autovorherrschaft betroffen sind, bezeichnen wir meist als „Zonen“ oder „Bereiche“. So sprechen wir etwa von Fußgängerzonen oder Begegnungszonen. Auch gibt es verkehrsberuhigte Zonen und Tempo-30-Zonen. Auffällig ist auch hier die Sprache. Als Zonen oder Bereiche bezeichnete Räume bilden meist Inseln, Entschleunigungsoasen, die gegen Widerstand innerhalb der Autowelt eingerichtet wurden. Warum, kann man fragen, gibt es eigentlich keine „Autozonen“? Die Antwort lautet: weil (in unseren Köpfen) die Straßen ohnehin den Autos gehört. Nun könnte man ja sprachlich etwas gegensteuern und damit beginnen, Autobahnen und andere autoverkehrsorientierte Straßen als „Autozonen“ zu bezeichnen. Auf diese Weise würde klar, dass Straßen nicht selbstverständlich den Autos gehören.
Wie ist diese Autoherrschaft entstanden? Der amerikanische Historiker Peter Norton beschreibt in seinem Buch Fighting Traffic(1), wie die kollektive Wahrnehmung der Straße in den USA sich innerhalb eines Jahrzehnts durch konzertierte Aktionen der Autoindustrie komplett veränderte. Anfang der 1920er Jahre verstand man städtischen Straßen als Orte der Begegnung, des Aufenthalts, des Handels und vielem mehr. Wurde ein Mensch von einem Autofahrer verletzt oder getötet, war die Empörung groß und richtete sich gegen den Autofahrer.
Bis zum Ende der 1920er-Jahre aber wurden aus Straßen Räume, in denen der Autoverkehr Vorrang genoss. Fußgänger, auch Kinder, galten nun als selbst schuld, wenn sie verletzt oder getötet wurden. Dies schlug sich nieder in Gesetzestexten, in Gerichtsverfahren - und in unseren Köpfen. Kinder wurden von den Straßen in Wohnzimmer und in Reservate mit dem neuen Namen „Spielplatz“ verbannt. Mit diesem neuen Verständnis der Straße leben wir spätestens seit den 1950er-Jahren. Es lässt sich übrigens linguistisch belegen: In Zeitungstexten kann man nachweisen, dass seit 1945 die Wörter Parkplatz, Fahrbahn und Spielplatz immer häufiger vorkommen, ein Anzeichen, dass das Auto von der Straße Besitz ergriffen hat und die Kinder auf neu geschaffene „Spielplätze“ regelrecht vertrieben wurden.
Verkehrsgewalt
Wir leben heute mit einem Massaker, das sich aus Einzelfällen summiert: In Deutschland wurden 2022 auf den Straßen 2.776 Menschen getötet, in der Schweiz waren es 241. Leider bleiben diese Zahlen seit über zehn Jahren etwa konstant. Ein Grund dafür liegt unter anderem in der Art, wie die Medien über Verkehrsgewalt berichten. Leider kann man aus den täglichen Unfallmeldungen kaum lernen, dass Unfälle zu verhindern wären, und wie dies geschehen könnte. Sie vermitteln vielmehr den Eindruck, als wären Unfälle ein Schicksal, das man hinnehmen muss.
Ein Grund liegt im Wort „Unfall“ selbst: Mit dem zweiten Wortteil „Fall“ verbinden wir zwei Bedeutungen: 1) eine Abwärtsbewegung (Bsp.: Der Fall des Apfels) sowie 2) einen möglichen Umstand (Bsp.: im günstigsten Fall). Im Kompositum „Unfall“ sind beide Bedeutungen präsent: Erstens ist ein Unfall ein unerwünschter Umstand, der eintritt, zweitens ein solcher, der metaphorisch als Abwärtsbewegung, als Fallen, dargestellt ist. Von fallenden Bewegungen wissen wir, dass in ihnen die Schwerkraft wirkt. Die Schwerkraft ist die Kraft, die das Fallen antreibt und es ‘verantwortet’. Das Fallen ist somit ein Naturgeschehen – das Menschen unter Umständen auslösen – dem sie selbst aber physikalisch ausgeliefert sind.
Dies macht den Un-fall zu einem Ereignis, das jemandem widerfährt. Hinzu kommt etwas Weiteres: Fallen ist ein intransitives Verb, ähnlich wie wohnen, schweben, wachsen, also ein Verb, das keine Objekte an sich bindet. So kann ich zum Beispiel nicht sagen: Ich falle den Ball. Möglich und richtig ist hingegen: Der Ball fällt oder Der Apfel fällt. Dies führt uns zurück zum Naturgeschehen, das den Unfall in die Kategorie des Unabwendbaren rückt. Das Verb fallen im Nomen Unfall macht es nicht leicht, nach Ursachen des „Unfalls“ zu fragen.
Etwas Weiteres kommt hinzu: Das Wort „Unfall“ erscheint statistisch am häufigsten zusammen mit den Verben „sich ereignen“, „passieren“ und "geschehen" (vgl. DWDS). Die Verbindung mit diesen Verben erweckt den Eindruck, wir seien ohnmächtig gegenüber Unfällen. Ein Unfall, der „sich ereignet“, ist ein Vorgang, der sich selbst hervorbringt. Bei einem Unfall, der „geschieht“ oder „passiert“, stellt sich sprachlich eher nicht die Frage nach dem Grund für das Geschehen.
Anders gesagt: Wer Formulierungen wie diese liest, muss sich die handelnden Menschen ebenso wie die kontextualen Ursachen zu den Unfällen hinzudenken. Die Unfälle kommen von außen über die Menschen, Unfallverursachende bleiben unsichtbar. Auch die Formulierung „Es kommt zu einem Unfall“ ist sehr häufig. Sie deutet an, dass ein Kausalzusammenhang zwischen einer Ursache („Es”) und einer Wirkung („Unfall”) vorliegt. Doch das unpersönliche Pronomen „es“ verschleiert, wie dieser Zusammenhang zustande kommt.
Kurz: Ebenso wie bei den obigen Verben werden die Ursachen und Verantwortlichen der Unfälle verdeckt. Man könnte meinen, sie kämen aus dem Nichts und ohne Grund über die Menschen. Nun wissen wir aber, dass hinter Verkehrsunfällen durchaus Gründe und Verantwortlichkeiten stehen. Und dass wir als Gesellschaft diesen gegenüber nicht ohnmächtig sind. Als die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h auf Landstraßen eingeführt wurde, oder als die Promillegrenze gesenkt wurde, sank die Zahl der Opfer von Verkehrsgewalt deutlich. Tausende von Strafbefehlen und Gerichtsurteile benennen Verantwortliche und zeigen Unfallgründe auf. Nur entstehen diese Analysen erst lange nach einer Kollision. Sie fehlen in den Unfallmeldung, die wir jeden Tag hören und lesen und gelangen selten an die Öffentlichkeit. Die Berichterstattung der Medien zur Verkehrsgewalt braucht einen differenzierteren Sprachgebrauch.
Unfallfreies Kommunizieren
Kann die Berichterstattung ohne das Wort Unfall auskommen? Im englischsprachigen Raum gibt es Empfehlungen, die vom ebenfalls schicksalsträchtigen Wort accident abraten und als Ersatz collision und crash vorschlagen. Kollision und Crash sind im Deutschen Fremd- bzw. Lehnwörter und fokussieren stark auf den Vorgang des Zusammenpralls. Da sie weitgehend frei sind vom Beigeschmack des Schicksalhaften, bieten sie sich von Fall zu Fall als Alternativen an. Der aus dem Englischen traffic violence übersetzte Ausdruck Verkehrsgewalt kann Übersicht schaffen und das Bewusstsein dafür schärfen, dass das System Verkehr (mit seinen Geschwindigkeiten und Energien) ein Gewaltpotential enthält, das wir allzu oft übersehen.
Ein Beispiel: Als vor Weihnachten 2022 in Zürich ein 6-Jähriger von einem bis heute unbekannten Gefährt zu Tode gefahren wurde, titelten drei Schweizer Medien (Neue Zürcher Zeitung, Blick, TeleZüri) mit der Schlagzeile „Bub stirbt“, als wäre der Junge einfach so gestorben. Eine Schlagzeile wie „Bub getötet“ hätte die ungewollte aber tolerierte Existenz von Verkehrsgewalt sachgerechter benannt als das gewaltverhüllende „Bub stirbt“.
Es gibt aber (leider) weitere sprachliche Gewohnheiten, die Einsichten in die Gründe der Verkehrsgewalt verhindern: Es sind Formulierungen wie diese: „Zwei Radfahrer bei Unfall verletzt“. Passivformulierungen dieser Art rücken die Handlungsinstanz aus dem Blick. Selbst wenn klar ist, dass es sich um eine Kollision mit einem Lastwagen handelt, verhüllt die Passivwendung, wer oder was die zwei Menschen verletzt hat. Direkter und sachgerechter wäre hier eine Aktivformulierung: „Ein Lastwagen verletzte zwei Menschen.“
Geht es noch sachgerechter? Ja! Im obigen Satz handelt ein Gegenstand, der Lastwagen. Doch in der Realität sind es immer Menschen, die etwas mit dem Gefährt tun. So ist es wohl präziser zu sagen: „Ein Lastwagenfahrer verletzte zwei Menschen.“ In Aktivformulierungen sowie in der Benennung der Handelnden (wenn sie bekannt sind) wird deutlicher, worin die Ursache der erlittenen Verkehrsgewalt liegt. Dies ist wichtig, denn erst wenn wir einem Geschehen Ursachen zuschreiben können, sind wir in der Lage, Überlegungen zu vorbeugenden Maßnahmen anzustellen. Bleibt etwas Zufall oder Schicksal, so sind wir gelähmt.
Oft fehlt der Kontext
Polizeimeldungen entstehen meist unter Zeitdruck, ebenso die Medienmeldungen, die sich oft an ihnen orientieren. Entscheidend ist, dass uns Unfallmeldungen meist als Einzelereignisse erreichen. Angesichts der hohen Opferzahlen auf den Straßen ist eine Darstellung von Verkehrsgewalt als isoliertes Phänomen fehl am Platz. Denn Verkehrsgewalt hat System. Einzelne Kollisionen sind eingebettet in einem Kontext, in dem sie immer und immer wieder vorkommen. Aus dieser Einsicht folgern wir einen Aufruf an die Polizei und den Journalismus: Wir brauchen vermehrt Berichte, die Statistiken über die Häufigkeit bestimmter Unfälle liefern, Hintergründe, die einen Zusammenhang zwischen Mängeln in der Verkehrsinfrastruktur und dem Vorfall herstellen, auch solche, die einen Zusammenhang mit den Verkehrsregeln festhalten, statt die vermeintliche Normalität ihrer Übertretung zu betonen.
Kurz: Wir brauchen Informationen, aus denen Leserinnen und Leser Schlüsse über die Ursachen der menschlichen und gesellschaftlichen Tragödien und für ihr eigenes Verhalten ziehen können. Ohne Wissen über den Kontext bleibt bei Lesenden der Eindruck, die vielen Kollisionen seien isolierte Einzelfälle: ein unerwünschter Umstand, der sich eben ereignet, passiert, oder geschieht, wie ein Naturphänomen, das als Schicksal über uns kommt.
Das Normale hinterfragen, anders sprechen
Verkehrsgewalt und autodominierte Straßen erscheinen in unserem Sprachgebrauch als das Normale. Entscheidungen – vor allem politische – die das Normale ändern wollen, haben so eine schwierige Ausgangslage. Soll die Verkehrswende gelingen, braucht es in den Köpfen eine Abwendung vom Auto als das Normale. Wir können diese gedankliche Wende durch einen genaueren Sprachgebrauch unterstützen. Sprechen wir von Verkehrsgewalt und Kollisionen, statt von Unfällen, reden wir von geöffneten anstatt gesperrten Straßen, benennen wir die Täter, wo sie bekannt sind. So können wir die Mobilitätswende auf die Sprünge helfen, sodass wir am Ende mehr in die Pedale – und nicht auf der Stelle – treten.
Quelle:
(1) Peter D. Norton (2008). Fighting Traffic. The Dawn of the Motor Age in the American City. Cambridge Massachusetts, London, England: The MIT Press.
Hinweis:
Der Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes „Sprachkompass". Weiteres Material zur Bedeutung der Sprache in der Kommunikation über Mobilitätsfragen finden Sie hier
Dieser Artikel von Dirk von Schneidemesser (Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit RIFS) und Hugo Caviola (Centre for Development and Environment CDE, Universität Bern) ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2024, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
Verkehrswende 2.0: Brauchen wir einen Neustart?
Es sind aufregende Zeiten. Wir befinden uns mitten in einer Situation, in der Herausforderungen unterschiedlichster Art für die Gesellschaft wachsen (Klimawandel, Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, Rechtsextremismus etc.) und gleichzeitig eine zunehmende Spaltung diese Gesellschaft zu lähmen scheint.
Polarisierung statt offener Diskurs, Selbstblockaden in der Politik, Pflege des Dissenses statt Suche nach Konsens – und mitten drin die Verkehrswende (ich verwende dieses Wort hier durchgehend als übergreifenden Begriff, verstanden als das Zusammenwirken von Mobilitäts- und Antriebswende). Auch bei diesem Thema scheinen Widerstände zu wachsen, werden teilweise eigentlich selbstverständlich erscheinende Maßnahmen hinterfragt, wachsen in Teilen der Politik Zurückhaltung und Mutlosigkeit, bis hin zur Verweigerungshaltung. Woran liegt das?
Der Rollback bei der Verkehrswende – vielfältige Ursachen
Wenn man ehrlich ist, dann können wir diese Entwicklung schon seit längerem beobachten, zumindest bezüglich wichtiger Teilaspekte, sie hat sich aber zuletzt augenscheinlich immer weiter verstärkt. Ein paar Momentaufnahmen aus der letzten Zeit:
- Die Verkehrswende-Bubble hat eine Zeitlang die zuversichtliche Botschaft verbreitet, mit der Verkehrswende könne man Wahlen gewinnen, die Mehrheit der Gesellschaft stehe dahinter. Momentan lernen wir, dass man damit leider auch Wahlen verlieren kann, wie u. a. die letzten Wahlen in Berlin und Bremen gezeigt haben (übrigens gilt das teilweise auch für das europäische Ausland).
- Das vorläufige Scheitern der noch lange nicht ausreichenden Reform des Straßenverkehrsrechts im Bundesrat im November 2023 zeigt, dass neben einer zeitgemäßen Verkehrspolitik auch der Stellenwert der für die Umsetzung der Verkehrswende besonders wichtigen kommunalen Interessen und damit auch der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen in der Bundes- und Landespolitik viel zu gering ist. Fachliches wird im Zweifelsfall politischer Taktiererei untergeordnet.
- Die Aufkündigung der Zusammenarbeit zwischen SPD und Grünen in Hannover durch die SPD begründet durch die Verkehrspolitik des grünen OB Belit Onay macht beispielhaft deutlich, dass die Verkehrswende auch auf kommunaler Ebene zum parteitaktischen Spielball zu werden droht (fachlich ist die Begründung der Hannoveraner SPD kaum nachvollziehbar, mit der sie im Übrigen ihren eigenen für Mobilität und Verkehr zuständigen Stadtbaurat im Regen stehen lässt).
- Selbst kleine temporäre Maßnahmen in großen Städten in vergleichsweise „verkehrswendeaffinen“ Umfeldern stoßen mittlerweile auf teilweise erbitterten Widerstand, sowohl bei manchen Verbänden als auch direkt betroffenen Menschen. Mag man die vieldiskutierte Friedrichstraße in Berlin als Sonderfall mit sehr ortsspezifischen Ursachen betrachten, so gilt dies mittlerweile auch für eigentlich gut vorbereitete und kommunizierte Projekte wie die Columbusstraße in München.
Diese beispielhaften Schlaglichter machen deutlich: Es gibt in Deutschland trotz aller verbaler Bekundungen keine Mehrheiten (weder politisch noch gesellschaftlich) für eine Verkehrswende, die diesen Namen auch verdient. Neben dem schon erwähnten unzureichenden politischen Stellenwert (und der damit verbundenen Inkonsistenz im Handeln der unterschiedlichen föderalen Ebenen, die durchaus auch von den Bürger*innen wahrgenommen wird) und den hinderlichen übergeordneten Rahmenbedingungen beim Rechtsrahmen und bei der Finanzierung gibt es bei den Ursachen weitere Aspekte, die teilweise auch die „Verkehrswende-Bubble“ adressieren:
- Menschen mögen in der Regel Veränderungen nicht besonders, vor allem wenn sie das individuelle Verhalten adressieren. Je weniger ein durch den Wandel erreichbarer persönlicher Mehrwert erkennbar ist, desto stärker ist die Abwehrhaltung. Und wenn dann noch durch die Befürworter einer Maßnahme bestimmte Lebenslagen ignoriert werden, muss man sich nicht wundern, wenn manche Bevölkerungsgruppen sich komplett verweigern.
- Oft sind Forderungen nach einer Verkehrswende (ob auf genereller Ebene oder auf bestimmte Maßnahmen bezogen) mit einem hohen moralischen Impetus bis hin zum Weltrettungsgestus verknüpft, gerade in Richtung der Autofahrenden. Dadurch wird eine Verweigerungshaltung eher gestärkt, entsprechende Maßnahmen werden als „von oben aufgezwungen“ empfunden und abgelehnt. Die daraus teilweise resultierende Polarisierung der Debatte wird durch die Medien häufig noch verstärkt.
- Die Diskussion um die richtigen Strategien und Maßnahmen hat teilweise zu einer Rückkehr zum sektoralen, verkehrsträgerbezogenen Denken und Argumentieren geführt. Besonders ausgeprägt ist dies beim Radverkehr. So legitim jede einzelne Forderung sein mag, sie kann integrierte Planung und Abwägungsprozesse nicht ersetzen. Das gilt für die „großen Linien“, aber vor allem auch für die Gestaltung des öffentlichen Raums.
Man kommt nicht darum herum: Wandel braucht Mehrheiten, politische wie gesellschaftliche, beides ist momentan nicht vorhanden. Und es braucht trotz des hohen Handlungsdrucks Zeit, diese zu erreichen. Der beliebte Spruch „einfach mal machen“ ist da nur bedingt hilfreich, wenn er die notwendigen Prozesse ignoriert, um die erforderlichen Mehrheiten zu erreichen.
Nicht den Mut verlieren: Die Verkehrswende hat Zukunft!
Dass eine Verkehrswende wichtiger ist denn je, bleibt davon unbenommen, die Gründe dafür sind bekannt. Und nicht alles geht in die verkehrte Richtung, ein paar Beispiele:
- Wandel findet statt: In vielen, vor allem großen Städten geht trotz steigender Motorisierung das Kfz-Verkehrsaufkommen kontinuierlich zurück, insbesondere in den Innenstädten.
- Die Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ (lebenswerte-staedte.de) hat mit mittlerweile über 1.000 Mitgliedskommunen (darunter ca. 85% aller Großstädte und fast die Hälfte aller Mittelstädte in Deutschland) gezeigt, dass der Diskurs zur Verkehrswende auf kommunaler Ebene vorangeht – und zwar parteiübergreifend: Es ist möglich, das Thema aus den parteipolitischen Schützengräben herauszuholen.
- Auch wenn es sich nicht in ausreichendem Maße im Agieren der Politik niederschlägt: Das zivilgesellschaftliche Engagement für den Wandel gewinnt an Breite und ist bei weitem nicht mehr nur eine großstädtische Angelegenheit.
Was heißt das für die Zukunft der Verkehrswende in Deutschland? Wir brauchen einen langen Atem und ein Agieren sowohl „top down“ wie „bottom up“, von der Politik in Bund, Ländern und Kommunen wie von der Zivilgesellschaft. Eine ganz zentrale Grundvoraussetzung: Die unterschiedlichen politischen Ebenen müssen eine konsistente Botschaft aussenden: Wenn Bundeskanzler und Verkehrsminister kund tun, eigentlich müsse sich nicht wirklich etwas ändern, mit Technologie und Digitalisierung kriege man alles in den Griff – dann muss man sich nicht wundern, wenn ambitionierte Maßnahmen auf kommunaler Ebene auf Unverständnis und Widerstand treffen.
Um die Menschen zu erreichen, die diesen Wandel letztendlich tragen sollen, gibt es eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Ansätze:
- Die Verkehrswende braucht eine positive Grundbotschaft: Die Weltrettung (mit Fokus auf den Klimaschutz) verbunden mit Verlustängsten und Verzichtsforderungen ist denkbar ungeeignet, zögernde Menschen zu überzeugen. Es muss um das „gute Leben“ gehen, um Lebensqualität mit erkennbarem Mehrwert für den einzelnen Menschen in seiner jeweiligen Lebenslage. Dazu gehören entsprechende greifbare positive Zukunftsbilder, nicht als ferne Utopie sondern aus dem Jetzt hergeleitet. Und es gibt ja eigentlich durchaus schon eine ganze Menge positiver Geschichten zu erzählen – Optimismus hilft immer!
- Dabei unterstützt das Motto „Ausprobieren und Lernen“, mit ergebnisoffenen temporären Maßnahmen, gut kommuniziert und partizipativ aufgesetzt, nicht belehrend, auch mit dem Risiko des Scheiterns (das hat auch eine kulturelle Dimension).
- Auch wenn der Wandel strategisch gut vorbereitet wird, er kommt nicht von allein. Um Mehrheiten muss gekämpft werden, dabei sollten wir im Diskurs alle Lebenslagen ernst nehmen und Polarisierung vermeiden (was eine klare Positionierung ausdrücklich nicht ausschließt). Polarisierung stärkt letztendlich die Kräfte der Beharrung und Stagnation. Zielorientierte Ambition muss mit notwendigem Pragmatismus verbunden werden: besser ein guter Kompromiss als die nie realisierte Idealvorstellung.
- Die Verkehrswende lässt sich nur dann breit und nachhaltig in allen betroffenen Handlungsfeldern verankern, wenn wir integriert denken und handeln (bei Strategien, Maßnahmen, Prozessen und Kommunikation).
- Die Kommunen brauchen mehr politischen Einfluss auf Bundes- und Länderebene sowie deutlich mehr Handlungsspielräume: Sie sind der Ort des Wandels und des Diskurses, dort wird die Verkehrswende sichtbar, mit dem öffentlicher Raum als Schauplatz.
- Dazu gehören ein entsprechend angepasster Rechtsrahmen (nicht nur beim Straßenverkehrsrecht, es geht z. B. auch um Bau- und Planungsrecht oder um Raumordnung) und eine Neuordnung der Finanzierungs- und Fördersystematik: Von der Erschließung neuer, auch nutzerbasierter Finanzierungsquellen bis zu einer deutlich vereinfachten Fördersystematik.
Diese Liste ist durchaus noch nicht komplett. Sie soll die Vielfalt der Handlungsebenen deutlich machen, die mit einer nachhaltigen Verkehrswende verknüpft sind. Und, auch wenn das vielleicht ein wenig paradox klingt, sie soll auch ermutigen. Nichts davon ist Hexenwerk. Für alles gibt es bereits etwas, worauf man aufbauen kann. Dranbleiben und einen langen Atem haben!
Dieser Artikel von Burkhard Horn ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2024, erschienen.
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Bedeutungsplan für wichtige Wege
Tausende Bordsteine sind nicht abgesenkt, Gehwege sind über Kilometer in einem schlechten Zustand oder nicht breit genug. Unzählige Hauptverkehrsstraßen behindern eine sichere Querung. An vielen Orten lädt die Gestaltung der Straße nicht zum Aufenthalt und Gehen ein. Um die Verkehrssicherheit und Barrierefreiheit voranzutreiben, ist ebenfalls überall noch Luft nach oben… Die Problemlagen sind sicherlich allen Kommunen bekannt. Die Hände über den Kopf zusammenschlagen ist aber keine Option.
Wie können also die vielen Probleme und Hindernisse für den Fußverkehr so bearbeitet werden, dass sich strategische Prioritätenlisten ergeben und durch konkrete Maßnahmenprogramme händelbar und bearbeitbar werden? Die Stadt Leipzig hat hierzu ein methodisches Vorgehen entwickelt – den Bedeutungsplan für den Fußverkehr.
Ausgangslage
In der strategischen und konzeptionellen Verkehrsplanung wird in der Nachfrageanalyse oder der Bedarfsplanung maßgeblich auf die funktionale Netzgestaltung der FGSV Richtlinie zur integrierten Netzgestaltung (RIN) zurückgegriffen, um zu einer konkreten und differenzierten Maßnahmenplanung zu gelangen. Dies macht natürlich Sinn und niemand würde auf die Idee kommen, den MIV, den ÖPNV oder auch den Radverkehr ohne eine dafür konzipierte Netzplanung in der Stadt zu bearbeiten.
Ein klassifiziertes Netz hilft uns, bestimmte Dinge zu priorisieren, zu hierarchisieren oder auch bestimmte Ausbaustandards zu definieren. Jedoch existiert eine solche stringente Herangehensweise für den Fußverkehr in Deutschland nicht. Die RIN ist hierbei keine wirkliche Hilfe und legt recht lapidar fest, dass nur zwei Kategoriengruppen zu unterscheiden sind: Fußverkehr außerhalb bebauter Gebiete (Kategorie AF) und Fußgängerverkehr innerhalb bebauter Gebiete (Kategorie IF). Nach Verbindungsfunktionsstufen wird explizit nicht unterschieden, da unterstellt wird, dass es keine darstellbare räumlich-differenzierte Verbindungsbedeutung für den Fußverkehr gibt.
Diese Aussage ist zum Teil nachvollziehbar, denn mit dem bestehenden Ansatz der RIN wird es methodisch nicht gelingen, maßgebende Verbindungsfunktionsstufen für den Fußverkehr zu bestimmen oder abzuleiten. Hier müssen andere Ansätze her, wie etwa über Indikatoren die Bedeutung von Netzabschnitten oder Räumen zu bestimmen. Dafür muss die Grundannahme getroffen werden, dass spezifische straßenräumliche Randnutzungen und Flächennutzungen ein spezifisches Fußverkehrsaufkommen mit definierten Reichweiten generieren und zu einem Bedeutungswert zusammengefasst werden können. Diese Ableitungen können am Ende in einen Bedeutungsplan überführt werden.
Einem solchen Ansatz folgt derzeit die Stadt Leipzig. Mit diesem Bedeutungsplan sollen für gesamtstädtische Entwicklungsschwerpunkte identifiziert und ein gesamtstädtisches Planinstrument entsprechend der unterschiedlichen Anforderungen und Bedeutungen aufgestellt werden.
Unter Bezug auf den Bedeutungsplan soll es nunmehr möglich sein, bei allen aufkommenden Maßnahmen eine Priorisierung und Hierarchisierung aus Sicht des Fußverkehrs vorzunehmen. Bei der Vielzahl von notwendigen Maßnahmen für den Fußverkehr im gesamten Stadtgebiet ist eine solche Systematik zwingend erforderlich, um eine systematische und strategische Eintaktung unter den Zwangspunkten der finanziellen und personellen Ressourcen aufstellen zu können.
Der verwendete raumdifferenzierte Ansatz soll in seiner Methodik hier kurz umrissen werden:
Methodik
Durch den Bedeutungsplan wird erstmalig für jeden Straßenraum eine Aussage über die (potentielle) Bedeutung des Raums für den Fußverkehr möglich, die sich aus fußverkehrsrelevanten Infrastrukturen im Umfeld ergeben. Dafür wurde mittels Geographischem Informationssystem (GIS) das Leipziger Wegenetz gesamtstädtisch einer entsprechenden Geodatenanalyse unterzogen und kartographisch aufbereitet.
Fußverkehr hat im Unterschied zu anderen Verkehrsarten insbesondere nahräumliche Zusammenhänge. So sind es weniger Quell- und Zielbeziehungen entlang von Routen und Achsen über große Distanzen, die für das Fußverkehrsaufkommen entscheidend sind, als vielmehr das direkte Umfeld mit seinen Nutzungsmöglichkeiten und räumlichen Gegebenheiten. Eine Grundannahme der Betrachtung ist dementsprechend, dass es in der Stadt verschiedene fußverkehrsrelevante und --erzeugende Orte gibt, wie Randnutzungen und Infrastrukturen – so genannte Points of Interest (POIs) – aber auch bedeutsame Flächenkulissen (z. B. Grünräume und Wohngebiete).
Übergeordnet soll im Folgenden dabei von Bedeutungsträgern die Rede sein. Die POIs sind dabei nicht nur an ihrem Standort für den Fußverkehr wirksam, sondern wirken in unterschiedlichem Maße in ihr Umfeld hinein, d. h. sie haben einen Einflussbereich. Hier wurde insbesondere auf die Empfehlungen für Fußverkehrsanlagen (EFA, Tabelle 4, Seite 17) zurückgegriffen. Dabei wurde auch angenommen, dass die Bedeutungsträger eine unterschiedliche Rolle für den Fußverkehr spielen und daher auch unterschiedlich stark ins Gewicht fallen. Entsprechend wurden Gewichtungen von Bedeutungen zwischen unterschiedlichen Bedeutungsträgern vorgenommen. So hat eine Haltestelle eine größere Gewichtung gegenüber einem Café oder einem Laden. Letztlich kommt es im Straßenraum zu vielfältigen Überlagerungen von Einflussbereichen unterschiedlicher POIs und weiteren Bedeutungsträgern, die in ihrer Summe zu einer bestimmten Bedeutungsausprägung an einem Ort führt. Die räumlich differierte Addition dieser unterschiedlichen Bedeutungsträger führt zu einem Bedeutungsplan, welcher ortskonkrete Potenzialräume für den Fußverkehr aufzeigt.
Datenquellen und –typen
Kommunen erheben und sammeln oftmals einen großen Pool an Geodaten und halten diesen vor. Jedoch wird dieser Datenschatz viel zu selten genutzt und das Potenzial in der Weiterverarbeitung ausgeschöpft. Die Geodaten der meisten Bedeutungsträger für die Stadt Leipzig lagen deshalb größtenteils bereits zur Verfügung. Falls keine flächendeckenden gesamtstädtischen Datensätze vorhanden waren, sind diese durch Daten von dem freizugänglichen Kartendienst OpenStreetMap (OSM) ergänzt worden. Teilweise sind auch innerhalb bestimmter Klassen und Einrichtungsarten Datensätze aus beiden Quellen zusammengeführt worden. Dabei wurde darauf geachtet, dass es nicht zu Dopplungen kommt bzw. diese bereinigt wurden. Einige wenige Datensätze sind mangels Verfügbarkeit händisch recherchiert und nachgetragen worden. Bei den meisten Bedeutungsträgern handelt es sich um POIs, die entsprechend als Punkte vorliegen. Darüber hinaus sind Rasterdaten (Einwohnerdichte) und Flächendaten-Polygone (Grün-, Blau- und Platzflächen, historische Ortslagen) eingeflossen. Ebenso wurden räumliche Bewegungsdaten hinzugezogen, die den Freizeitverehr (Spazierengehen, Joggen) abbilden können.
Auswahl und Struktur der Daten
Bei der Auswahl der Bedeutungsträger wurden zunächst jene Einrichtungen herangezogen, für die in den Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen (EFA) [FGSV 2002, Tabelle 4] ein Einflussbereich mit erhöhten Anforderungen an Gehwege definiert wurden. Dazu zählen laut der Richtlinie Wohnheime, Schulen, Dienstleistungen, Versammlungsstätten, Haltestellen des ÖPNV sowie Pflegeheime und Krankenhäuser.
Erweitert wurden diese im Laufe der Bearbeitung beispielsweise durch Orte der grün-blauen Infrastruktur, wie Parks, da diese ebenfalls von Bedeutung für den Fußverkehr sind. Auch innerhalb der Gruppen und Klassen sind nochmals Justierungen und Spezifizierungen in der Auswahl und Strukturierung der Daten, Entsprechend der Verfügbarkeit und Sinnhaftigkeit vorgenommen worden. So sind beispielsweise in der Gruppe Wohnen auch ergänzend die städtischen Rasterdaten zu Einwohnerdichten mit eingeflossen. Generell wurden Datensätze auf ihre Plausibilität und Vollständigkeit geprüft und wenn notwendig überarbeitet.
Letztlich stützt sich die Analyse auf einen umfangreichen Datensatz an Einzelelemente von Bedeutungsträgern wie POIs (6.629 Datensätze), Einwohnerraster (46.000 Datensätze), Grün- oder Gewässerflächen (3.085 Datensätze) und Bewegungsdaten.
Einflussbereiche
Neben der Auswahl an Einrichtungen wurden der EFA auch die definierten Einzugsbereiche übernommen. Lediglich die Einflussbereiche der ÖPNV-Haltestellen wurden mit 300m am Leipziger Nahverkehrsentwicklungsplan orientiert. Auch der Einflussbereich der Krankenhäuser wurde unter Abwägung auf 500 m hochgesetzt, aufgrund der Wichtigkeit medizinischer Versorgung. Die als Flächen/Polygone vorhandenen Freiraumstrukturtypen Wald/Gehölz, Friedhof, Kleingartenanlage, Stadtplatz und die Rasterfläche der Einwohnerdichte werden in ihrer jeweiligen flächenhaften Ausprägung wirksam und haben keinen darüber hinaus gehenden Einflussbereich. Gewässern und Parks/ gestalteten Grünflächen wurden zusätzlich noch mit einem 100 m Puffer versehen, um Ihre Ausstrahlungseffekte ins umliegende Wegenetz zu berücksichtigen.
<p>Um einen differenzierten Ausgleich zu schaffen zwischen den innerstädtischen Bereichen und den randstädtischen Lagen wurden die Zentren der historischen Ortslagen im Leipziger Stadtgebiet erhoben und in ihrer Bedeutung gesteigert. Die Bewegungsdaten greifen vor allem innerhalb der Parkanlagen und differenzieren deren Wege in ihrer Nutzungshäufigkeit. Dadurch wurde ausgeglichen, dass innerhalb der Parks keine Ziele in dem Sinne sind, die mit ihren Einzugsgebieten Fußverkehr generieren. Durch die Bewegungsdaten konnte der ziellose Freizeitverkehr in den Bedeutungsplan mit einfließen.
Gewichtung der Bedeutung
Für die unterschiedliche Gewichtung der Bedeutungsträger konnten wir uns im Gegensatz zu den Einflussbereichen nicht auf eine Richtlinie stützen, sondern mussten diese selbst definieren. Für die Bestimmung des Wertes berücksichtigten wir
- sowohl quantitative (wie viel Fußverkehr erzeugt ein POI bzw. wie hoch ist eine Einrichtung frequentiert)
- als auch qualitative Kriterien (gibt es besonders sensible Nutzergruppen wie Kinder, alte und/oder körperlich eingeschränkte Personen).
In einem gewissen Maße sind auch planerische Zielstellungen oder Ansprüche bereits in die Gewichtung eingeflossen, beispielsweise durch eine hohe Wertung von ÖPNV-Haltepunkten. Für die Zuordnung der Bedeutung der Einwohnerschwerpunkte wurde mit einem Raster der gemeldeten Einwohner gearbeitet.
Die Gewichtung wurde mehrfach verwaltungsintern und über die AG Fußverkehrsförderung mit der Fachöffentlichkeit diskutiert und auch in ihrer Auswirkung auf das Gesamtergebnis zusammen mit den Stadtbezirks- und Ortschaftsräten in ihrer lokalen und nahräumlichen Ausprägung evaluiert und angepasst.
Sonderfall Haltestellen
Einen Sonderfall in der Bedeutungsgewichtung stellen die ÖPNV-Haltestellen dar. Dort ist der Grundwert um weitere Bedeutungspunkte ergänzt worden. So erhielten Umstiegshaltestellen, die einen Verknüpfungspunkt darstellen, extra Bedeutungspunkte. Auch eine erhöhte Bedienungshäufigkeit führt zu höheren Bedeutungen der Haltepunkte. Ebenfalls flossen die ehemaligen Dorfkerne der Stadtrandlagen in die Wertung als Sonderfälle ein.
Die Bewegungsdaten flossen zum großen Teil auf die Wege in den Parkanlagen ein. Da diese ansonsten zu wenig Bedeutung aufwiesen.
Verkehrswegenetz
Das für die Analyse zugrundeliegende Wegenetz basiert auf zwei Datensätzen. Zum einen das Wegenetz von OSM als Linien und zum anderen Verkehrsflächen als Polygone von der Stadt Leipzig. Während die Verkehrsflächen nur jene Flächen umfasst, die in der Liegenschaft des Verkehrs- und Tiefbauamtes liegen, umfasst das Wegenetz von OSM auch Wege in Grünanlagen (Liegenschaften Amt für Stadtgrün und Gewässer), Wege im halböffentlichen und privaten Raum und teilweise auch informelle Wege, die letztlich auch bedeutsame Verbindungen für den Fußverkehr darstellen. Der Datensatz der OSM-Wege wurden lediglich um jene Wege bereinigt, die nicht durch zu Fuß Gehende begangen werden können (z.B. Autobahnen und Autobahnauffahrten). Wichtig war es, ein umfassendes Wegenetz anzulegen, das alle potenziell nutzbaren Wegeverbindungen enthält. Damit kann die Realität besser abgebildet werden, da jeder Weg von Menschen genutzt wird, wenn er angeboten wird (ob gewidmet oder nicht).
Ergebnis
Nach Durchlauf der Berechnungen konnte im Ergebnis eine Karte erstellt werden, welche an vielen Orten deckungsgleich mit den gefühlten Wahrnehmungsmustern der urbanen Zentren und Aufenthaltsräume ist. Die höchsten Bedeutungswerte wurden deshalb ebenso in der Leipziger Innenstadt erreicht. Der höchste errechnete Wert liegt sogar direkt auf dem Leipziger Marktplatz. Generell zeigt sich, dass Dienstleistungen, Einzelhandel und Gastronomie aufgrund räumlicher Ballungen die Bedeutungsräume des Fußverkehrs deutlich prägen. Beziehungsweise stehen natürlich viele Bedeutungsträger in direkter Abhängigkeit zueinander und bedingen sich gegenseitig. So sind natürlich Haltestellen bestenfalls dort zu finden, wo viele andere Randnutzung vorherrschen. Entsprechend zeichnen sich auch die im Stadtentwicklungsplan (STEP) von A bis D definierten Zentren deutlich ab. Aber auch abseits dieser definierten Zentren gibt es Räume mit sehr hohen Bedeutungsausprägungen.
Ausblick
Die Einsatzbreite des Bedeutungsplans ist vielseitig. Aus diesem Grund plant die Stadt Leipzig diesen Bedeutungsplan auch als offizielles Planinstrument im städtischen Fußverkehrsentwicklungsplan zu bestätigen. Eine finale Beschlusslage zum Zeitpunkt dieses Artikels lag jedoch noch nicht vor. Die möglichen Anwendungsfelder des Bedeutungsplans reichen von der Priorisierung von Baumaßnahmen und Instandsetzungen bis hin zur Ableitung von möglichen Potenzialräumen und Entwicklungszielen.
Ebenso können mögliche Konfliktbereiche oder Flächenkonkurrenzen evidenzbasiert aufgezeigt werden. Wenn die Netzplanungen anderer Verkehrsarten über den Bedeutungsplan gelegt werden, kann zum Beispiel erkannt werden, dass eine innergemeindliche Radschnellverbindung einen Raum mit hoher Bedeutung für den Fußverkehr kreuzt, wo entsprechende Ableitungen notwendig werden. Ebenso wäre es auch möglich, Schwerpunktgebiete für die Verkehrsüberwachung zu definieren. Da in Gebieten mit einer hohen Bedeutung für den Fußverkehr personelle Ressourcen zielgerichtet eingesetzt werden könnten. Dies trifft auch auf die einleitend erwähnten 2.000 Meldungen zu. Durch den Bedeutungsplan ist es nunmehr möglich, Schwerpunkte in der Bearbeitung zu setzen und peu à peu den Riesenberg an Notwendigkeiten abzuarbeiten.
Dieser Artikel von Friedemann Goerl und Frederik Sander ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2023, erschienen.
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Mit temporären Gestaltungen den Fußverkehr fördern
Temporäre Umgestaltungen von Straßen und öffentlichen Räumen fördern den nachhaltigen Verkehr und können die Lebensqualität der Bevölkerung verbessern. Schweizweit wurden in den letzten Jahren mit Projekten in unterschiedlichster Ausprägung Erfahrungen damit gesammelt.
Manchmal geht Probieren über Studieren
Aktuell stehen wir vor der großen Herausforderung, dem Klimawandel und dem Rückgang der Biodiversität mit wirksamen Maßnahmen zu begegnen. Der Umstieg auf eine nachhaltige Mobilität wie dem Zufußgehen und Fahrradfahren und die Reduktion des motorisierten Verkehrs leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Der Handlungsbedarf ist groß, für die Bevölkerung die öffentlichen Räume aufzuwerten und der Natur wieder mehr Platz zu geben – damit kann auch die Lebens- und Wohnqualität gesteigert werden.
Aufwertung partizipativ testen
Um herauszufinden, was dafür nötig ist, sind temporäre Umgestaltungen von Straßen und Plätzen ein nützliches Mittel. Diese neue Art im Siedlungsraum zu planen, bezieht sich auf die Tradition des „tactical urbanism“ der auf kleinräumigen, kostengünstigen und zeitlich begrenzten Umgestaltungen beruht. Diese dienen dazu, zu testen, welche Maßnahmen sich eignen, um Verbesserungen zu erreichen und welche davon allenfalls von einer temporären zu einer langfristigen Lösung werden können.
Voraussetzung dafür sind partizipative Prozesse, mit denen gezielt auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingegangen und das soziale Miteinander angeregt werden kann. Die Umnutzung des öffentlichen Raums im Rahmen solcher Projekte lädt die Bevölkerung dazu ein, sich ihre Wohnquartiere wieder aufs Neue anzueignen und selbst mitzugestalten. Es zeigt sich zudem, dass solche temporären, von der Bevölkerung mitentwickelte Projekte weniger anfällig auf Widerstand und Opposition sind.
Gerade in den städtischen Zentren wird momentan mit provisorischen Gestaltungen getestet und gepröbelt, was das Zeug hält. Einige Beispiele aus der neuen Publikation von Fussverkehr Schweiz mit dem Titel „Temporäre Gestaltungen – Neue Wege, die Stadt zu entdecken“ sollen einen Überblick über aktuelle Projekte geben (Download: www.fussverkehr.ch/publikation).
Begegnungszonen mehr Leben einhauchen
Die Städte Bern und Zürich gehören zu den Vorreitern bei der Einrichtung von Begegnungszonen.(1) In beiden Städten bestehen über 100 solcher Zonen, in denen Tempo 20 gilt und die Menschen zu Fuß Vortritt haben. Ein großer Vorteil dieses Verkehrsregimes ist, dass es in verschiedensten Kontexten angewendet werden kann; in Wohnquartieren, im Einflussbereich von Schulen, auf Bahnhofplätzen, an belebten Einkaufsstraßen etc. Insbesondere in den Wohnquartieren findet jedoch in der Realität trotz Verkehrsberuhigung noch zu wenig Aneignung statt. Das Potenzial der Quartiers-Straßen als Begegnungs- und Spielraum wird nicht ausgeschöpft.
Deshalb hat Fussverkehr Schweiz im Sommer 2022 während dreier Monate in Zusammenarbeit mit dem Dachverband für Offene Kinder- und Jugendarbeit DOJ das Pilotprojekt „Begegnen, Bewegen, Beleben in Quartieren von Bern und Zürich“ durchgeführt.2 Dabei wurden mit Anwohnenden zusammen Begegnungszonen in Straßen temporär mit Möbeln, Bemalung und Pflanzen ausgestattet. Der Vorteil eines solchen Vorgehens: Anwohnende verfügen über lokales Knowhow und wissen meistens genau, wo der Schuh drückt. Zudem wird ein gemeinsam gestalteter Raum von ihnen mehr gepflegt. Das Angebot, mitzumachen, wurde von der Bevölkerung rege genutzt, viele griffen selbst zu Hammer, Spaten und Pinsel und werkelten fleißig mit. Die Quartiersbewohnerinnen und -bewohner konnten stets ihre Meinung zum Projekt einfließen lassen und wurden mehrfach dazu befragt.
Die Aktion verlief erfolgreich. Während der Testphase wurden deutlich mehr Interaktionen im öffentlichen Raum festgestellt – die Leute begegneten sich vermehrt, konnten sich in der umgestalteten Zone ungestört und einfach bewegen und die Quartiere wurden belebt. Eine Entschleunigung fand statt, und die Hektik des Stadtlebens wurde gemindert. Dadurch wurden als gewollter Nebeneffekt auch das Zufussgehen und Velofahren gefördert.
Es entstehen Begegnungsorte
In Zürich wurde die Kyburgstraße in einem dicht bebauten Quartier als Schauplatz für eine Aufwertung auserkoren. Sie wurde temporär möbliert und es parkten weniger Autos, der motorisierte Verkehr nahm deutlich ab, Menschen zu Fuss und auf dem Fahrrad waren deutlich in der Mehrzahl. Alle Altersgruppen von Jung bis Alt wurden von der neu gestalteten Begegnungszone angezogen, sie wurde zu einem populären Treffpunkt. Die aufgestellten Tische waren besonders beliebt, dort setzten sich die Leute zum Essen hin oder auch nur um gemütlich zu reden oder Brettspiele miteinander zu spielen – wo kann man das sonst auf einer Straße, ohne Angst haben zu müssen, überfahren zu werden? Anwohnende bemalten den Asphalt bunt, so ergab sich auch von außen ein farbiges und lebensfrohes Bild, und der Nachwuchs konnte herumklettern und sich austoben. Anfangs gab es Befürchtungen seitens der Bevölkerung, dass die Umgestaltung zu mehr Lärm und Festbetrieb führen würde. Das war aber nicht der Fall. Die wissenschaftliche Begleituntersuchung hat gezeigt, dass das Projekt von vielen Personen begrüßt wurde und die Rückmeldungen aus dem Quartier überwiegend positiv waren.
In der Bundeshauptstadt Bern wurde der Benteliweg umgestaltet – dies stieß vor allem bei den Kindern auf Begeisterung. Denn diese Straße ist in der unmittelbaren Nähe von Kindergärten und Kitas – dementsprechend wurde während der Testphase der Benteliweg von viel mehr Kindern als zuvor besucht, aber auch die älteren Semester unter den Anwohnenden waren vermehrt dort anzutreffen. Spielerische und kreative Aktivitäten nahmen deutlich zu, die Möbel auf dem Trottoir regten die Kinder dazu an, der Straßenraum wurde mit Leben erfüllt. Der Versuch kann also als Erfolg gewertet werden, doch gab es auch hier kritische Stimmen. Die Verkehrssicherheit wurde teilweise als ungenügend kritisiert – denn der Benteliweg wird vom lokalen Gewerbe als Durchgangs-Straße genutzt. Auch hier zeigte sich aber, dass die Umgestaltung sich bezüglich der nachhaltigen Mobilität positiv auswirkte, denn die motorisierte Verkehr nahm deutlich ab.
Begleitstudien zeigen Potenziale
Die extern durchgeführte, systematische Vorher-Nachher-Analyse3 zeigt auf, dass die Umgestaltung an der Zürcher KyburgStraße tatsächlich zu mehr Aktivitäten und Begegnungen führte und einen bisher nicht erfüllten Bedarf bediente. Zum Erfolg beigetragen hat die partizipative Entwicklung vor Ort und die Möglichkeit der Mitwirkung und der Eigeninitiative. Eine „von oben verordnete Neugestaltung“ ist hingegen keine gute Ausgangslage, um die nötige Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhalten. Die Erkenntnisse leisten einen Beitrag, herauszufinden, welche Gestaltungselemente und Prozesse helfen, die Aufenthaltsqualität zu steigern und die Aneignung des Lebensraums durch die Menschen zu verbessern.
Geschätzte „Sommerinseln“ in Biel
In Biel trägt ein temporäres Umgestaltungsprojekt am Unteren Quai den poetischen Namen „Sommerinseln“. Der Untere Quai, der die Innenstadt mit dem See verbindet, wird von den Bieler Bevölkerung geschätzt, obschon er eher als funktionale, weitgehend dem Autoverkehr überlassene Verbindungsachse dient, denn als Ort für Flanieren und Erholung. Schon lange wird über die Aufwertung dieses bedeutenden städtischen Raumes spekuliert. Bevor ein definitives Projekt ausgearbeitet wurde, entschloss sich die Stadtplanung zunächst mit Test-Interventionen, die zusammen mit der Bevölkerung entwickelt und umgesetzt wurden, Erfahrungen zu sammeln.
Vom Juni bis September 2019 wurde der Untere Quai provisorisch umgestaltet, gleichzeitig eine Brücke für den motorisierten Verkehr gesperrt und einige Parkplätze umgenutzt. Die dort wohnenden Menschen konnten ihre Ideen und Wünsche einbringen und nutzten den Raum sehr gerne, die Resonanz war positiv. Das Experiment wurde 2022 mit modifizierten Interventionen wiederholt und parallel die Elemente eines inzwischen entwickelten Vorprojekts zur Umgestaltung des Quais zur Diskussion gestellt. Um zu erfahren, wie die Leute darauf reagieren, wurden Befragungen und Workshop-Spaziergänge durchgeführt.
Die Bilanz der Stadtbehörden ist bislang positiv. Die temporären Umgestaltungen werden von der Bevölkerung geschätzt und machen die Vorgaben für ein zukünftiges Projekt fassbarer. Dank der Alltagsexpertise weisen die Benutzerinnen und Benutzer immer wieder auf relevante Aspekte hin. Dies ist umso befriedigender als der partizipative Prozess erhebliche personelle Mittel bindet und eine aktive Kommunikation erfordert.
Oft längere Nutzungsdauer
Erfolgreiche temporäre Gestaltungen können weit über die ursprünglich vorgesehene Einsatzdauer hinaus verlängert werden. Wenn sie attraktiv sind und den Bedürfnissen entsprechen, werden diese Einrichtungen bis zu zehn Jahre weiter betrieben. So wurden etwa Projekte in den Westschweizer Städten Nyon und Sion aufgrund des überwältigenden Rückhalts seitens der Bewohnerinnen und Bewohner über Jahre verlängert. Die dortigen temporären öffentlichen Räume lassen Kreativität und multifunktionale Nutzungen zu, und werden – auch weil sie günstig sind – von den Nutzerinnen und Nutzern positiv aufgenommen. Die Eingriffe können jederzeit rückgängig gemacht werden. Befragungen haben aber gezeigt, dass die Zonen als „Erlebnislandschaften“ wahrgenommen und die Bevölkerung die vielfältigen Möglichkeiten zur Nutzung schätzen.
Vereinfache Verfahren nötig
Temporäre Gestaltungen stellen für Städte zweifellos eine Bereicherung dar. Alle Erfahrungen zeigen, dass insbesondere der Fußverkehr gleich mehrfach davon profitiert. Das Gehen als aktive Mobilitätsform wird gefördert und die Zahl der Bewegungen zu Fuß nimmt zu. Zusätzliche Aufenthaltsangebote werden dankbar angenommen, so dass mehr Fußgängerinnen und Fußgänger zu beobachten sind, die verweilen oder sich ausruhen. Dies führt zu einer Belebung des öffentlichen Raumes, zu mehr sozialen Interaktionen und einer größeren Identifikation des Wohnumfeldes.
Die Ausprägung von temporären Gestaltungen ist ganz unterschiedlich. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie entwicklungsfähig sind und je nach Bedürfnissen kurzfristig und flexibel angepasst, erweitert oder verschoben werden können. Die Erfahrungen mit solchen provisorischen Einrichtungen können als wichtige Grundlagen für die Erarbeitung von definitiven Projekten dienen.
Daher ist eine systematische Evaluation der Auswirkungen auf der Basis von Beobachtungen vor Ort zentral. Allerdings können die heutigen Bewilligungsverfahren und administrativen Prozesse entmutigend wirken und sollten vereinfacht werden. Um die erzielten Effekte über einen repräsentativen Zeitraum testen und analysieren zu können, wäre die öffentliche Hand gut beraten, temporäre Gestaltungen nicht als Bauprojekte, sondern als partizipative Prozesse mit flexiblem Maßnahmenmix zu begreifen.
Temporäre Gestaltungen sind also nicht als unwichtiges Nebenprodukt, sondern als notwendige Phasen bei komplexen, lernorientierten Planungsprozessen im Siedlungsbereich zu begreifen. Konsequenterweise ist vorausschauend auch zu berücksichtigen, dass die finanziellen und personellen Ressourcen für Betrieb und Unterhalt beziehungsweise Erneuerung und Weiterentwicklung der provisorischen Maßnahmen als integraler Bestandteil des Planungsprozesses betrachtet werden.
Quellen:
(1) Informationen über Begegnungszonen und Beispiele: www.begegnungszonen.ch
(2) Informationen zum Pilotprojekt: www.fussverkehr.ch/begegnen
(3) Zwischenbericht der Vorher-Nachher-Analyse vom Februar 2023. Die ausführlichen Resultate der wissenschaftlichen Begleitstudie werden Ende 2023 publiziert.
Dieser Artikel von Pascal Regli ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2023, erschienen.
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Das Kreuz mit dem Queren
Das Queren von Radwegen zu Fuß ist scheinbar ganz leicht. Aber viele Menschen haben Probleme damit, und diese wachsen mit dem Ausbau der Rad-Infrastruktur. Darum braucht es hier sichere, komfortable Querungen genauso wie über herkömmliche Fahrbahnen.
Über den Radweg kommt man immer?
In der Theorie wie im Alltag vieler fitter Menschen ist ein Radweg kein Hindernis: Da sind langsamere und schlankere Fahrzeuge unterwegs, gelenkt von Menschen ohne Schutzpanzer, die darum größere Vorsicht walten lassen. Eigene Querungsanlagen braucht man da angeblich nicht; sie hemmen nur den rollenden Verkehr.
Aber in der Praxis und gerade für weniger starke, schnelle Menschen sieht es ganz anders aus. Ihnen erscheinen Radwege manchmal sogar schwerer querbar als Fahrbahnen mit Motorisierten. Denn auf dem Radweg verlaufen die Bewegungen anders: in nicht ganz so geraden Linien, darum schlechter zu berechnen. Nicht mit dem ampelstraßen-typischen Wechsel von dichten Pulks und Leerräumen, die sich gut queren lassen. Auch nicht bei starkem Radverkehr mit mehr Fahrzeugen auf weniger Raum. Und schließlich in sehr unterschiedlichem Tempo vom gemütlichen Opa-Radeln bis zum S-Pedelec.
Schwierig ist das für alle, bei denen körperliche oder mentale Fähigkeiten eingeschränkt sind. Das betrifft mal das Sehen oder Hören, mal das Schätzen von Tempo und Distanz, das Antizipieren von Bewegungsverläufen und nicht zuletzt die eigene Reaktionsfähigkeit und Beweglichkeit. Wo all das fehlt, da fehlt oft das optimistische Selbstvertrauen, sich zwischen Radlern durchzuschlängeln und den eigenen Anspruch offensiv auch mit Körpersprache zu erheben.
Solche Einschränkungen sind weiter verbreitet, als viele junge und mittelalte Menschen glauben. Nach einer Faustformel haben rund zehn Prozent der Menschen stärkere chronische Behinderungen, etwa 20 Prozent aller Menschen sind in irgendeiner Hinsicht eingeschränkt – Kinder und Greise, Kranke, Behinderte und akut Verletzte. Sie alle sind nicht an dynamischen Fahrverkehr anpassbar, sondern der muss sich ihnen anpassen, sollen alle zügig und sicher umeinander herum und aneinander vorbei kommen.
Das gilt besonders bei sehr dichtem Radverkehr. Ihn nehmen vor allem Kinder, Alte und Weitere mit weniger Selbstfahr-Routine als Barriere wahr. Sie alle können Geschwindigkeiten schlecht einschätzen, wohl aber meist Entfernungen. Darum wirken langsame, doch nahe Fahrzeuge heikler als schnellere, die noch ein Stück entfernt sind. Die sind zwar objektiv gefährlicher, aber die subjektive Wahrnehmung suggeriert das Gegenteil und ist ernst zu nehmen.
Die schwierigsten Querungsorte
Relativ leicht zu Fuß zu queren sind schmale, nur in einer Richtung befahrene Radwege – vor allem dann, wenn deren Benutzer keine überraschenden Ausweichbewegungen machen können, Zweirichtungswege sind schon deutlich anspruchsvoller, wuselige Kreuzungen erst recht. Heikel sind alle Plätze und weiteren Flächen, wo Radverkehr nicht auf einem abgegrenzten Weg, sondern potenziell überall geschieht. Das ist dort der Fall, wo es gar keine Radführung gibt oder wo sie durch mangelhafte Abgrenzung vom Gehweg unverbindlich wirkt. Radler mögen solche Flächen und vermeiden mögliche Stolperkanten, aus Fuß-Sicht sind sie dagegen nützlich und so nötig wie Bordsteinkanten zwischen Gehweg und Fahrbahn.
Auch eine größere Zahl querender Radwege macht das Gehen nicht leichter – zum Beispiel, wenn auf einem kleineren Platz eine Radkreuzung ist und womöglich einer der Wege am Platzrand auch noch zwischen Gehraum und Haltestelle führt. Das Hüpfen von Insel zu Insel zwischen Radwegen beim Gehen ist anstrengend und kann sogar bewirken, dass Menschen zu Fuß wegen der Inflationierung keinen der vielen Radwege mehr ernst nehmen.
Ein altbekannter Konfliktort sind Haltestellen. Hier werden vielerorts Menschen zu Fuß und auf dem Rad durch ignorante Planung geradezu aufeinandergehetzt. Wer zu Fuß ist, will Fahrzeuge verlassen oder betreten – der Bus vorn und die von hinten Nachdrängelnden warten nicht. Wer hier radelt, bekommt durch seinen Weg Vorfahrt suggeriert und ignoriert oft die Vorschrift, Haltestellen allenfalls langsam zu passieren. Nicht viel besser sind Radwege, die hinterm Wartebereich entlang führen. Sie engen den Gehweg ein und erzeugen neue Konflikte mit Menschen, die zum stehenden Fahrzeug eilen oder zu Fuß zügig weg wollen.
Unorte für viele Menschen zu Fuß sind auch Radwege, die rechts an einer Ampel mit Fußquerung vorbei führen und Radlern vermitteln, Fahrzeug-Rot gelte für sie nicht. Das stimmt formal oft, hat aber unangenehme Folgen für Gehende: Man hat Grün, aber kommt nicht weiter. Entweder nicht über den Radweg auf die Fahrbahn-Furt, was im Extremfall eine Wartephase mehr bedeuten kann. Oder nicht von der Fahrbahn auf den rettenden Gehweg, weil der Radweg dahinter gerade stark frequentiert ist.
Da sollen zwar Warteflächen zwischen Radweg und Fahrbahn die gröbsten Folgen mildern. Aber oft sind sie zu klein, so dass zum Beispiel das Leitpersonal für größere Kindergruppen in ein gruseliges Dilemma kommen kann: Entweder man jagt die vorderen Schutzbefohlenen in den Rad-Querverkehr. Oder es müssen die hinteren auf der Fahrbahn bleiben, auch wenn dort Fahrzeuglenker schon wieder Grün bekommen.
Hässliche Mobilitätskiller sind solche Radwege an größeren Kreuzungen. Da liegen oft Mittelinseln zwischen den Fahrbahnen und die Fuß-Ampeln kennen kein durchgängiges Grün. Im schlimmsten Fall muss man zwischen zwei Kreuzungsecken viermal warten. Und wenn vor und nach den Fahrbahnen auch noch Radwege mit Nachrang zu queren sind, bis zu achtmal.
Das alles spricht auch gegen „freie Rechtsabbieger“ fürs Rad. Sie sind eine Erfindung der Autostadt: Wer rechtsrum fahren will, tut dies auf eigenen ampelfreien Spuren rechts von der Kreuzung. Gehfreundliche Städte bauen solche Spuren nach und nach zurück. Geh-ignorante ergänzen autogerechte Geh-Schikanen mit weiteren zugunsten des Rades. Manche Radlobbyisten propagieren „holländische Kreuzungen“ mit solchen Spuren als ultimative Lösungen.
Lösungen: Entschleunigen, entspannen – aber nicht: entflechten
Die scheinbar sauberste Lösung ist aus simplen Gründen keine: das Entflechten von Fuß- und Radnetzen. Beide Netze können nur auf gleicher Bodenebene verlaufen, Brücken- und Tunnelsysteme bleiben ein Spleen von Träumern.
Damit zum Realisierbaren. Zuerst sind da Zebrastreifen, die an allen zum Gehen wichtigen Querungsorten über den Radweg gehören. Das Zebraverhalten mancher Radler ist anders als das von Autofahrern: Sie versuchen ungebremst knapp neben den Gehenden zu passieren. Wo das häufiger vorkommt, müssen sie entschleunigt werden; in den Niederlanden sind hierfür Aufpflasterungen nicht selten.
Eine Spezialregelung für alle Radwegquerungen brauchen Blinde, die Räder weder sehen noch hören können, also ganz auf deren Rücksicht angewiesen sind. Diese Rücksicht sollte mit einer eigenen Regel amtlich verlangt werden: Wo immer ein blinder Mensch seinen weißen Langstock über den Radweg nach vorn streckt und dann langsam losgeht, hat er Vorrang. Ob amtlicher Überweg oder nicht: der Stock entfaltet immer Zebrastreifen-Wirkung.
Was tun mit Radwegen rechts neben beampelten Übergängen, deren Rotlicht nicht fürs Rad gilt? Lösung Nummer1 ist umstritten: Zebrastreifen über den Radweg. Richtlinien verbieten beide Querungsformen in unmittelbarer Nähe. Was das heißt, ist strittig: Dürfen Ampelfurt und Zebrastreifen nicht nebeneinander? Oder können sie nur nicht auf derselben Fahrbahn kurz hintereinander folgen, aber nebeneinander auf getrennten Bahnen durchaus? Wenn das nicht möglich ist, sollten auch fürs Rad Ampeln gelten.
Eine fußfreundliche, in Deutschland kaum angewandte Ampelschaltung bringt auch flexible Radler rasch voran: das Rundum-Grün, bei dem alle in allen Richtungen gehen können und in dieser Zeit niemand fahren darf. Wer auf dem Rad ist, kann bei Grün für die eigene Fahrbahn rollen und bei Fußgrün absteigen und kurz schieben. Das ist gerade fürs Linksabbiegen die reibungsloseste und sicherste Form. Und man profitiert auf dem Rad sowohl vom Fahr- wie vom Gehgrün, hat also die wenigsten Wartezeiten.
Eine simple Methode zum Vermindern von Querungsorten ist die gemeinsame Fahrbahn für Räder und Motorisierte. Aber wollen wir von dieser nicht gerade weg? Manche Radplaner schon, andere weisen auf die vielen dafür zu schmalen Straßen hin – und darauf, dass jedes von der Fahrbahn genommene Rad mehr Raum und Tempofreiheit fürs Auto bedeutet, also genau falsche Anreize schafft. Statt Separation empfiehlt sich konsequent entschleunigter Motorverkehr – wo Radler unterwegs sind, sogar eher mit 25 oder gar 20 als mit 30 km/h.
Wo viele Menschen gehen und wo sie in jeder Richtung Sicherheit, Vorrang und entspannte Atmosphäre haben sollen, muss auch Radverkehr entweder ausgeschlossen oder angepasst sein, sprich langsam. Das gilt zum Beispiel für Fußgängerzonen mit erlaubtem Radeln. Hier können die klassischen Instrumente der Verkehrsberuhigung Querungskonflikte entschärfen: Schwellen, Kissen und sinusförmige Wellen, Engstellen und Schwenks.
Fazit
Der angenehmste Weg zur friedlichen Fuß-Rad-Begegnung ist ein mentaler: der Entschluss, öfter mal Sekunden zu schenken statt Sekunden zu schinden – langsamer fahren, andere vorlassen, natürlich auch zu Fuß tun, wenn zum Beispiel ein Kind quer radelt. Das entstresst beim Fahren und Gehen, bringt Dankbarkeit und bessere Stimmung. So kommen die verschenkten Sekunden mehrfach zurück.
Dieser Artikel von Roland Stimpel ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2023, erschienen.
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