Ein Innovationsschub für ländliche ÖPNV-Systeme

Der demografische Wandel führt dazu, dass viele ländliche Regionen massiv Einwohner verlieren, durch Geburtenrückgang und Abwanderung. Auf wegbrechende Schülerzahlen wird allenthalben mit Angebotseinschränkungen im ÖPNV reagiert. Mangelnde Mobilitätschancen verstärken aber die Abwanderung. Politik hält diese Negativentwicklung oft für unvermeidlich. Attraktiver ÖPNV in der Fläche gilt als unbezahlbar und unnötig. Jetzt naht das Ende dieser Epoche.

Bei wachsender Altersarmut und hoher Arbeitslosigkeit werden Autobesitz und -nutzung für einige Bevölkerungsgruppen zu teuer. Zudem hemmen motorische oder sensorische Mobilitätseinschränkungen die Autonutzung im hohen Alter. Die öffentliche Armut begrenzt die teuren kommunalen Ausgaben für Straßenbau, -unterhalt und Parkraumbereitstellung. Das problemlose Leben und Planen mit dem Auto findet klare Grenzen. Der ländliche Raum kann und darf nicht mehr „Autoland“ bleiben. Was dann?

Dünn besiedelte Regionen in Skandinavien und der Schweiz führen vor, wie auch im ländlichen Raum attraktiver, leistungsfähiger und wirtschaftlicher ÖPNV organisiert werden kann. Viele Regionen der Schweiz praktizieren das Konzept des Integralen Taktfahrplans. Und viele Regionen in Finnland und Schweden praktizieren das Konzept des Kombibus, also des kombinierten Personen- und Güterverkehrs im Straßen-ÖPNV. Beide Ansätze werden jetzt auch in Deutschland in einem Modellvorhaben in der Uckermark zusammen gebracht, um der „Fläche“ einen attraktiven ÖPNV und eine dezentrale Versorgung zu sichern. Die Autoren sind an diesem Modellvorhaben beteiligt.

Rückzug aus der Fläche

Die letzten Jahrzehnte waren in den meisten ländlichen Regionen Deutschlands geprägt vom Rückzug öffentlicher und privater Angebote. Den Anfang machten die Gebietsreformen mit der Fusion von Gemeinden, Kreisen und Regierungsbezirken sowie der Zentralisierung öffentlicher Einrichtungen der Daseinsvorsorge für Verwaltung, Bildung, Gesundheit und Kultur. Parallel zu dem öffentlichen Kahlschlag zog auch die private Wirtschaft ihre Handels-, Gastronomie- und Freizeitangebote aus der Fläche zurück. Politik und Wirtschaft unterstellten, dass im Zeitalter der „Vollmotorisierung“ die potenzierte Distanzverlängerung und Autoabhängigkeit keine Probleme bereiten würde. Für den autolosen Rest (die berühmten „5 A“) wurden marginale „Restmobilitätssysteme“ der Schülerbeförderung belassen, hochsubventioniert, unattraktiv für den „Jedermannverkehr“, aber eine interessante Einnahmequelle für die ländlichen Busunternehmen. Die Aufgabenträger (vor allem Landkreise) reagieren auf den Schülerrückgang mit Angebotskürzungen haben wenig Ehrgeiz, stattdessen aus dem mageren ÖPNV-Angebot mehr zu machen, weil sie keine Wachstumspotenziale für den ÖPNV sehen.

ÖPNV als Schlüsselfaktor

Nun aber stagniert die Motorisierung insgesamt und geht bei den oberen Altersgruppen und Gruppen mit geringem Einkommen auch deutlich zurück. Autogerechter Straßen- und Parkraumbau bekommt aus Umwelt- und Landschafts- sowie Ortsbildsschutz eine Akzeptanzkrise. Damit wird ÖPNV wieder wichtiger für die Standortattraktivität und Überlebensfähigkeit dünn besiedelter Regionen. Benötigt wird eine Neuausrichtung des Jahrzehnte vernachlässigten ÖPNV in der Fläche. Hierfür braucht man eine schonungslose Analyse der derzeit bestehenden Angebotsstrukturen, der Verbesserungsmöglichkeiten, der qualitätsabhängigen Nachfragepotenziale und der Erfahrungen mit innovativen Konzepten und Elementen.

Kombibus - das skandinavische Vorbild

In zahlreichen ländlichen Regionen Finnlands und Schwedens nutzt der ÖPNV die Kombination von Personen- und Güterverkehr. Der finnische „Matkahuolto“ und der schwedische „Busgods“ vermeiden so Leerfahrten im Personen- und Güterverkehr und steigern die Effizienz und die Einnahmen. Die Netzknoten bilden kleine Güterverkehrs- und Personenverkehrszentren, für den Güterverkehr mit entsprechenden Logistik- und Stapeleinrichtungen, für den Personenverkehr mit entsprechenden Serviceeinrichtungen (Bistro, Kiosk). Das Personal bedient beide Teilmärkte gleichzeitig. Die Systeme kooperieren mit dem Handel, dessen Läden zugleich Verkaufsstellen des ÖPNV und Annahme- und Ausgabestellen des Güterverkehrs sind.

Das Ganze hat Systemqualität, mit professionellem Personal, offensivem Marketing und moderner Kommunikations- und Dispositionstechnik. Die Güter- und Personenbeförderung bilden einen Querverbund. Die Systeme sind sehr variantenreich. Als Stauraum genutzt werden die „unterflurigen“ Kofferräume oder ein Teil der Sitzreihen oder verbreiterte Plattformflächen oder Anhänger. Es gibt auch Hybridfahrzeuge (halb LKW, halb Bus. Der logistische Standard ist hoch. Es gibt dynamische Fahrgastinformationen und internetbasierte Routendisposition. Viele Waren sind mit Funkerkennungsfunktionen ausgestattet, für die Warenortung im Raum, für das Übermitteln von Mengen- und Haltbarkeitsdaten und für die räumliche und zeitliche Bündelung von Teilmengen. Auch Lebensmittel und Blutkonserven werden mit dem Kombibus befördert. Das System erlaubt im Linienverkehr flächendeckend die tagesgleiche Belieferung und stützt so den dezentralen Einzelhandel.

ITF- das Schweizer Vorbild

Die zweite für den ländlichen ÖPNV relevante Innovation ist das ITF-Prinzip. Im schweizer Schienenverkehr vermeidet der ITF unnötig teure Infrastrukturen und konzentriert die Investitionen auf solche Strecken, an denen eine Verbindung beschleunigt werden muss, um einen Knoten zur richtigen Zeit zu erreichen. Dort wird die Kontenkapazität bedarfsgerecht ausgebaut. Der ITF wird auch im Busverkehr angewendet. Er vermeidet Parallelfahrten, Anschlussbrüche und Totzeiten, steigert also die Attraktivität und Wirtschaftlichkeit. Er garantiert attraktive Reisezeiten dank minimierter Wartezeiten. Der schweizer ÖPNV differenziert seine Angebote Systeme nach Aktionsradius und Geschwindigkeit. Die Basis bilden die kleinen, feinerschließenden ÖPNV-Systeme (Orts-, Stadt-, Rufbus. Hinzu kommen attraktive Regionalbusse und Regionalbahnen (RB, RE) und Fernverkehrsbahnen (IR, IC). Und alle Teilsysteme sind im ITF miteinander verknüpft.

Innovativer ÖPNV „von unten“ mit ITF und Güterintegration

Im erfolgreichen ÖPNV werden die Lehren einer differenzierten Bedienung und hohen Systemqualität konsequent angewendet.

Lokale Netze garantieren hohe Kundenbindung

Die feinerschließenden lokalen Bussysteme (Dorfbus, Ortsbus, Quartiersbus, Citybus und Rufbus/AST) verkehren mit relativ kleinen Fahrzeugen (Mini- und Midibus, Großraumtaxi), damit sie auch in enge Gassen und verkehrsberuhigte Straßen passen. Fallweise können auch sie auf ausgewählten Fahrten Güter befördern, für die kleinteiligen Auslieferungs- und Einsammelverkehre. Diese feinerschließenden Basissysteme liegen in der Verantwortung der untersten administrativ-politischen Einheiten, also der Gemeinden oder Quartiere/Bezirke. Leider sagen die Nahverkehrsgesetze der Länder wenig zu diesen Netzen. Die für den Straßen-ÖPNV bislang primär zuständigen Kreise kümmern sich kaum um die Qualität der lokalen Netze, sie denken primär in regionalen Netzen. Der regionale Bus kann aber lokale Bedienungsaufgaben nicht attraktiv übernehmen, dafür müsste er zu oft halten und einen viel zu diffusen Linienweg fahren.

In den lokalen Netzen muss Kundennähe das oberste Gebot sein. Daher gilt als Faustzahl für die räumliche Angebotsdichte: „10 mal mehr Haltestellen als heute“, nur so entsteht Kundenbindung und lokale Identifikation. Schließlich kann man mit dem Auto ja auch bis vor die Haustür und bis an den Laden fahren. Lokale Systeme müssen alle Siedlungsteile bedienen, also auch die verkehrsberuhigten Wohngebiete und Dorfkerne, die Gewerbegebiete und Supermärkte, die Friedhöfe und Sportplätze und die Wanderparkplätze am Ortsrand.

Lokale Systeme fahren dichte Taktverkehre, wegen der geringen Umlauflängen können sie in der Regel je nach Ortsgröße im 15-30 min Takt bedient werden, was gegenüber der bisherigen minimalen Restbedienung ein riesiger Quantensprung ist. Bei geringen Einwohnerzahlen können mehrere benachbarte Siedlungsgebiete gemeinsam bedient werden (Nachbarortsverkehr), dann wächst der Aktionsradius entsprechend und die Taktdichte sinkt ein wenig. Die Streusiedlungslagen jenseits der Ortsränder werden mit bedarfsgesteuerten, flexiblen Angebotsformen (Rufbus, AST) bedient.

Regionale Netze für den überörtlichen Personen- und Güterverkehrsmarkt

Lokale Netze bilden topologisch zunächst mal „Inselsysteme“ für die Nahmobilität. Auf der nächst höheren Maßstabebene für die überörtliche, regionale Mobilität operieren die Regionalbusse. Sie profitieren von der Freistellung von lokalen Bedienungsaufgaben und erhalten dadurch eher Schnellbusqualität. Hier werden wegen der Bündelung größere Kapazitäten benötigt und dementsprechend eher Standard-, im Ausnahmefall auch mal Großraumbusse, die bei entsprechender Gestaltung auch ausreichend Platz für Güter bieten können.

Lokale und regionale Netze sind an definierten Knoten räumlich und zeitlich verknüpft. Die Planung dieser Knoten und der dafür zweckmäßigen Netzsymmetrien erfordert besondere Sorgfalt, damit die Knotenzeiten und Umsteigebeziehungen optimiert werden können. Umsteigen wird in Deutschland oft „dämonisiert“, aber es gehört zu einem attraktiven ÖPNV dazu (die Schweiz und Japan, die Weltmeister im ÖPNV, haben auch die höchsten Umsteigeanteile bei der Nutzung, weil es so viele gut funktionierende Knoten gibt). Das problemlose Umsteigen muss als entscheidender Attraktionsfaktor auch entsprechend vermarktet werden, daher so symbolische Namen wie „Treffpunkt“ oder „Rendezvous“ oder „Backe an Backe“.

Neben den regionalen Bussen sind natürlich auch die regionalen Bahnen (RB und RE) und die überregionalen Bahnen (IR und IC) einzubinden. An den Bahnhöfen und Haltepunkten werden entsprechende Verknüpfungen sichergestellt. Allerdings finden sich die wichtigsten Verknüpfungspunkte vorzugsweise dort, wo die Mehrzahl der Fahrgäste hinwill und ihre räumliche Orientierung festmacht, also mitten in den Orten, auf den Marktplätzen oder am Rand der Fußgängerzonen.

Vor allem in den regionalen Bussystemen wird der Gütertransport ein wichtiges Zusatzgeschäft eröffnen. Hier können Regionalvermarktung und regionale Busnetze eine produktive Symbiose eingehen, beispielsweise um die Belieferung kleiner Läden zu sichern, die von den großen Lieferanten und Spediteuren nicht mehr bedient werden.

Alle Teilsysteme kooperieren räumlich, zeitlich und logistisch. Die Kooperation wird durch die Verkehrsverbünde sichergestellt und durch einheitliche logistische Plattformen technisch erleichtert.

Abgesang an die Mängelverwaltung, Aufruf zu innovativen Konzepten

Netze, die sich nur an Schulstandorte und Takte, die sich nur an Schulzeiten orientieren, sind für die Allgemeinheit niemals zufriedenstellend. Systeme, die sich abends, an Wochenenden, an Feiertagen und in Ferienzeiten in die Depots verabschieden, negieren den immer größer werdenden touristischen Markt und Freizeitmarkt. Netze, die die Einkaufsstraßen und Supermärkte aussparen, negieren den besonders relevanten Einkaufsmarkt. Netze, die viele Wohngebiete, vor allem die mit engen und verkehrsberuhigten Straßen aussparen, negieren die wichtige Kundennähe.

Nur bei angemessener Netz- und Fahrplan-Gestaltung werden Touristen, Einkäufer und Freizeitverkehre sowie die breite Wohnbevölkerung gewonnen und gewöhnen sich auch Menschen mit zwei Autos in der Garage an die regelmäßige Busnutzung. Wer seine freien Frachtraumkapazitäten auch für Güter öffnet und seine Fahrplantreue und Taggleiche als Trumpf für Lieferdienste ausspielt, kann seine verkehrliche Wirksamkeit und seinen wirtschaftlichen Erfolg deutlich steigern. Der Blick nach Skandinavien und in die Schweiz lehrt: Multifunktionalität, die intelligente Ausnutzung von Effizienzsteigerungen und eine sorgfältige Ausschöpfung von Synergien machen Qualitäten möglich, die wir hierzulande bislang für ausgeschlossen halten.

Hier öffnet sich ein weites Feld für Konzeptstudien und Modellprogramme. Die Aufgabenträger müssen aus ihrer oft routinierten Mängelverwaltung in eine kreative, konzeptionelle Offensive wechseln und sich – bei begrenzten Planungs- und Organisationskapazitäten - ggf. den nötigen Sachverstand einkaufen.

Modellbeispiel Uckermark

In Deutschland versucht seit 2011 die Uckermärkische Verkehrsgesellschaft (UVG) in einem vom Bundesministerium des Innern und dem Land Brandenburg geförderten Modellprojekt diese Erfahrungen aus Skandinavien und der Schweiz zu übertragen. Dabei unterstützen sie drei Büros, die Interlink GmbH aus Berlin, die Fahrplangesellschaft B & B mbH aus Oelsnitz und das Institut für Raumentwicklung und Kommunikation (raumkom) aus Trier. Sie haben maßgeblich die Überzeugungsarbeit gegenüber den politischen Gremien gestaltet, das Liniennetz überarbeitet, den ITF vorbereitet, die Schulung des Fahrpersonals und der Logistiker übernommen, die Kontakte zur Wirtschaft hergestellt und das Betriebskonzept erarbeitet.

Erste Partner aus der Wirtschaft nutzen das Angebot. Ein regionaler Lebensmittelproduzent (Q-Regio) nutzt die attraktiven Lieferoptionen und sichert damit eine dezentrale Versorgung seiner sechs Läden. Weiter Firmen stehen vor dem Abschluss. Das Hotelgewerbe wird demnächst mit dem Gepäcktransport per Kombibus für Fuß-, Rad- und Wasser-Wanderpublikum beginnen. Die wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Aufgabenerweiterung für den ÖPNV ist in einem Rechtsgutachten geklärt. Einige Speditionen begrüßen das Abgeben des schwierigen und teuren Feinverteilungsgeschäfts auf den letzten Kilometern. Die örtliche Wirtschaft begrüßt, dass nun auch wieder das Geschäft mit kleinen Mengen und Margen möglich wird.

In Kürze

In Finnland, Schweden und der Schweiz wird auch in dünn besiedelten Regionen ein guter ÖPNV angeboten. Erfolgsfaktoren sind effiziente Be-triebsweise, attraktive Netz- und Fahrplandichte, gebündelt in einem ITF. Wirtschaftlich wird der ÖPNV dort durch die Übernahme von Transportauf-gaben des Güterverkehrs mit Bussen im Linienverkehr. Inzwischen wird auch für Deutschland an Kombibusprojekten gearbeitet, ein erstes Modell läuft in der Uckermark.

 

Nähere Details zu den Projekten findet man unter www.kombibus.de

 

Dieser Artikel von Heiner Monheim, Christian Muschwitz, Johannes Reimann, Constatin Pitzen, Anja Sylvester und Holger Michelmann ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2013 erschienen. 

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