Es begab sich zu der Zeit, als die Kommunen und Bundesländer weniger Lichtsignalanlagen (LSA) als früher installierten und bestehende zunehmend durch kleine Kreisverkehrsplätze ersetzten. Damals wurde das sogenannte Umweltsensitive Verkehrsmanagement (UVM) erfunden, das der Verkehrstechnikbranche weiterhin Aufträge bescherte.
Ein UVM misst laufend Luftschadstoff-Immisionswerte und Kfz-Verkehrsmengen (NO2, ggf. Feinstaub), prognostiziert Grenzwertüberschreitungen und aktiviert dann bestimmte Regelungen, die diese vermeiden oder gering halten sollen. Angesteuert werden LSA-Schaltungen, Wechselverkehrszeichen, informelle Infotafeln und individuelle mobile Informationsgeräte. Kfz-Verkehr wird dann z.B.
Um ein solches System aufzubauen und zu betreiben, ist ein enormer technischer Aufwand erforderlich: sehr viele Detektoren und Messgeräte an sehr vielen Stellen, komplexe Luftschadstoff- und Verkehrsmodelle, hochmoderne Steuergeräte, zusätzliche Infrastrukturen zur Verkehrsbeeinflussung. Besonders aufwändig hinsichtlich der Beschilderung sind i.d.R. temporäre Umleitungsrouten für Lkw oder alle Kfz.
Trotz der sehr hohen Kosten begeistert UVM allerorten Verwaltungen und Kommunalpolitik, und zwar die gesamte Bandbreite, von den Autoaffinen (die sich freuen, dass das Auto nur zeitweise und lokal eingeschränkt wird und ansonsten weiter wie bisher fahren darf) bis zu den Ökos (die sich über die in Aussicht gestellten Umweltentlastungen freuen). Als Baustein einer „Smart City“ gilt UVM als clever, intelligent und zukunftsweisend.
Für ein nur bedarfsweise ins Verkehrsgeschehen eingreifendes UVM werden u.a. folgende Vorteile genannt: (1)
a) Vermeidung von Voreingenommenheit der Betroffenen, die es bei dauerhaften, d.h. statischen restriktiven Maßnahmen gäbe.
b) Geringere Störung der ‚Verkehrsabläufe’ als bei statischen Maßnahmen. (2)
c) NO2- und Feinstaub-Minderungspotential in der Größenordnung von Umweltzonen, jedoch anders als diese „ohne juristischen Vorlauf“ an zukünftige Entwicklungen anpassbar. (3)
d) Vermeidung von dauerhaften Mehrbelastungen auf etwaigen Entlastungsstrecken.
e) Vermeidung von dauerhaften Zunahmen beim Kraftstoffverbrauch und CO2-Ausstoß durch nur temporäre Umleitung auf Entlastungsstrecken und zumindest teilweise ausgleichende Maßnahmen.
Lärmminderung kann teilräumlich als Nebeneffekt auftreten, ist aber wegen der nur temporären und meist kurzzeitigen UVM-Aktivierung nur sporadisch wirksam.
Manche anderen Erwartungen sind unbegründet, z.B. „dass temporäre Restriktionen im Kfz-Verkehr (MIV) zu dauerhaften Änderungen im Nutzungsverhalten führen.“ (4)
Wie bei permanenten, sogenannten statischen Maßnahmen ist der Erfolg dynamischer Maßnahmen wie dem UVM jedoch grundsätzlich abhängig von der Akzeptanzsicherung durch
„Im Vordergrund der Zielsetzung von UVM steht die Einhaltung der Immissionsgrenzwerte für Feinstaub und für NO2. (…) Die Berechtigung für ein UVM resultiert auch aus dem Umstand, dass nur unter bestimmten, meist windschwachen meteorologischen Bedingungen Akkumulationen der Schadstoffe (…) auftreten.“ (5) UVM soll „als Maßnahme (…) vor allem auf den Hotspot wirken“. (6)
Zu hinterfragen ist zunächst die Konzentration auf die Vermeidung von juristisch untersagten Grenzwertüberschreitungen: (7)
Die für Planung und Umsetzung sowie den Betrieb von UVM eingesetzten erheblichen finanziellen und personellen Ressourcen wären besser für Maßnahmen im Sinne der Verkehrswende eingesetzt. Diese erfordert bekanntlich Pull- und Push-Maßnahmen. Letzteres bedeutet echte Restriktionen für den fließenden und ruhenden Kfz-Verkehr.
UVM ist kein Beitrag zur Verkehrswende, im Gegenteil: Es hat das Kernanliegen, den Kfz-Verkehr wann immer möglich mit gleichem Volumen, gleichen Vorrechten und gleicher Freizügigkeit weiterrollen zu lassen.
Die temporären Eingriffe durch ein UVM in das Fahr-, Routen- oder Verkehrsverhalten des Kfz-Verkehrs erfolgen nur dann, wenn diesem – oder dem Staat – dauerhafte bzw. unangenehme Sanktionen drohen.
Ein UVM kann in den Aktivierungsstunden sogar eine Aufwertung des Kfz-Verkehrs auf den Hauptachsen vorsehen und umsetzen: Längeres Grün und somit weniger Wartezeit an LSA. Stichwort „Verkehrsverstetigung“.
Die von UVM-Systemen zur Schadstoffminderung eingesetzte Zauberformel „Verkehrsverstetigung“ wird bislang praktisch immer nur auf den Kfz-Verkehr bezogen (und das auch nur in der Hauptrichtung). „Verkehr“ umfasst aber auch ÖPNV, Rad- und Fußverkehr. Die querenden nichtmotorisierten Verkehre müssen aufgrund UVM häufig länger warten – und das unter dem Schlagwort „Verkehrsverstetigung“.
Die Annahme bzw. Behauptung, dass die Verflüssigung des stärksten Kfz-Stroms Abgas- und Staub-Emissionen mindert, erscheint auf den ersten Blick plausibel; schließlich gibt es bei reduzierten Bremsvorgängen auch weniger Bremsbelag- und Reifenabrieb. Ganzheitlich betrachtet unter Einbeziehung der indirekten Effekte stellt sich die Frage: Könnte die Beschleunigung des größten Kfz-Stroms vielleicht auch zusätzlichen Kfz-Verkehr induzieren bzw. zumindest den Status-Quo des Kfz-Aufkommens konservieren?
Auch die vorgenannten Verschlechterungen der Bedingungen fürs Gehen und Radfahren tragen gewiss nicht dazu bei, dass mehr zu Fuß gegangen und Rad gefahren wird.
Schon im kommenden Jahrzehnt wird es kaum noch Kfz mit Verbrennungsmotoren für fossile Kraftstoffe geben. Dann wird sich das verkehrsbedingte NO2-Belastungsproblem in Luft auflösen. Lohnt sich der aktuelle Riesenaufwand für UVM, den einige Städte praktizieren und viele andere vorbereiten, noch?
Viele Einzelmaßnahmen, die als UVM zusammengefasst werden, sind für sich genommen sinnvoll, auch und gerade als Dauermaßnahme. Vieles ist schon lange bewährt – und trotzdem noch viel zu wenig verwirklicht: Beispielsweise Geschwindigkeitsbegrenzungen, Lkw-Routenführungen, Pförtner-LSA ...
Fragwürdig hingegen ist der konzertierte Kurzzeit-Einsatz solcher Maßnahmen mit der Intention, eigentlich notwendige Push-Maßnahmen im Sinne der Verkehrswende zu erübrigen, etwa um Ärger mit der Bürgerschaft (Verwaltungsperspektive) bzw. Wählerschaft (Politikperspektive) zu vermeiden. Dies unterstützt die von einigen UVM-Promoter/innen verfolgte Absicht der Stabilisierung und Fortführung des heutigen Kfz-Verkehrssystems. Besonders fragwürdig ist die Etikettierung all dessen als „umweltsensitiv“.
Wirklich umweltsensitiv wäre es, mit den für UVM eingesetzten Finanzmitteln und Fachleuten permanent wirksame Maßnahmen zur Vermeidung von verkehrsbedingten NO2- und Feinstaub-Emissionen bzw. -Immissionen anzugehen – nach der abgestuften Formel „Vermeiden, Verlagern, Verbessern“.
Dabei sollten bestimmte Chancen, welche die Digitalisierung bietet, genutzt werden. Telematik kann die Verkehrswende unterstützen, z.B. beim ÖPNV, bei Sharingsystemen und stadt- und umweltverträglicherer Warenlogistik. Nicht zuletzt mit Pförtner-LSA, die nur so viele Kfz ins nachfolgende Netz lassen, wie dort verträglich abgewickelt werden können, während ÖPNV und Radverkehr priorisiert vorbeifahren können.
Umweltsensitives Verkehrsmanagement (UVM) – klingt toll, modern und hat Hochkonjunktur. Leider trägt die bisherige Ausrichtung der meisten Projekte nicht zur Verkehrswende bei, sondern wirkt ihr sogar entgegen.
(1) Vgl. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV, Hrsg.): Wirkung von Maßnahmen zur Umweltentlastung. Teil 3 Umweltsensitives Verkehrsmanagement. Zwischenstand. Köln, 14. 10. 2014 (FGSV 210/3), S. 3f
(2) FGSV 210/3, S. 3
(3) ebenda
(4) Vgl. FGSV 210/3, S. 4
(5) FGSV 210/3, S. 3
(6) FGSV 210/3, S. 4
(7) 39. BImSchV (auf Basis der Richtlinie 2008/50/EG)
Der verkehrsplanerische Grundsatz der Handlungsreihenfolge „Vermeiden, Verlagern, Verbessern“ wird seit einigen Jahren verdreht und somit aufhoben. Mit zunehmender Fokussierung auf technische Lösungen (Digitalisierung und Antriebswende) steht auf Bundesebene das Verbessern im Vordergrund. Der verkehrsökologisch nachrangigste Schritt ist nun der erste und das Haupthandlungsfeld. Insbesondere die Verkehrsvermeidung wird damit völlig ausgeklammert. Dabei ist der „beste Verkehr“ bekanntlich jener, der gar nicht erst entsteht.
2008 hat die EU einen Aktionsplan zum beschleunigten Verkehrstelematik-Einsatz („Intelligent Transport Systems“ / ITS) und 2010 eine entsprechende Richtlinie (2010/40/EU) erstellt. Diese regelt die Einführung intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr und deren Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern und wurde 2013 im Rahmen des Intelligente-Verkehrssysteme-Gesetz (IVSG) in deutsches Recht umgesetzt, das aber kaum praktische Relevanz für kommunale Aktivitäten ausübt.
Nachdem die EU-Kommission Mitte des letzten Jahrzehnts mehrfach drohte, Deutschland und einige andere Staaten zu verklagen, weil die seit 2010 geltenden Luftschadstoffwerte weiterhin in etlichen Städten überschritten wurden, erlebte UVM einen Boom. Die damalige Bundesregierung gab den betreffenden Kommunen großzügig Fördermittel zur Entwicklung und Umsetzung von UVM-Konzepten, um einerseits wirkliche Einschränkungen für den Kfz-Verkehr abzuwenden, aber andererseits aktives Handeln bzw. Perspektiven zur Minderung der NO2-Grenzwert-Überschreitungen gegenüber der EU zu präsentieren. Dennoch verlor Deutschland 2021 das 2017 nach mehreren Warnungen eingereichte Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof.
Seit 2017 ist das Bundesverkehrsministerium auch ausdrücklich mit dem Aufgabenbereich Digitale Infrastruktur beschäftigt und mit entsprechendem Namenszusatz benannt. Seit dem Regierungswechsel im Dezember 2021 hat die Digitalisierung noch mehr Gewicht, verdeutlicht durch die Umbenennung in „Bundesministerium für Digitales und Verkehr“.
Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2022, erschienen.
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