Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich die Motivationen und Mobilitätspraktiken der Bewohner* innen in neun autofreien Wohnsiedlungen in Deutschland und der Schweiz untersucht. Ihre Gründe, ohne eigenes Auto zu leben, in eine autofreie Siedlung zu ziehen und ihre Alltagsmobilität wurden analysiert und in einer Typologie von unterschiedlichen Lebensstilen zusammengefasst. Außerdem wurde auch das notwendige Umfeld für ein autofreies Leben untersucht.
Die negativen Auswirkungen von Autos und dem für sie aufgebauten System an Infrastrukturen sind bestens bekannt. Diese haben insbesondere in Städten ein Ausmaß erreicht, das eine Transformation dringend nötig macht. In diesem Kontext sind seit den 1990er-Jahren in verschiedenen westeuropäischen Städten autofreie Wohnsiedlungen entstanden, in denen sich die Bewohner*innen verpflichten, langfristig ohne eigenes Auto zu leben. Um eine autodominierte Gesellschaft zu überwinden ist es wichtig diese Haushalte zu verstehen, da ihre Wohnorte „Reallabore“ einer zukunftsfähigen Mobilitäts- und Stadtentwicklung darstellen.
Dieser Beitrag präsentiert die Ergebnisse meiner Doktorarbeit für welche ich die Bewohner* innen neun autofreier Siedlungen untersucht habe, fünf in der Schweiz (Burgunder in Bern, FAB-A in Biel/Bienne, Giesserei in Winterthur, Oberfeld in Ostermundigen und Sihlbogen in Zürich) und vier in Deutschland (Klein Borstel und Saarlandstraße in Hamburg, Stellwerk60 in Köln und Weißenburg in Münster). Diese beinhalten die unterschiedlichen Arten von autofreien Wohnsiedlungen bezüglich Wohnform (auch wenn sechs davon Genossenschaften oder Wohnprojekte sind), Größe (zwischen 20 und 426 Wohneinheiten), Alter (die älteste wurde ab 2000, die neuste ab 2014 bezogen) und Lage (von der Innenstadt bis zum Stadtrand).
Die Analysen basieren einerseits auf einer 2016 durchgeführten Fragebogen-Befragung der rund 1‘200 Haushalte in allen neun Siedlungen (Rücklaufquote: 46%). Andererseits habe ich im Jahr danach mit 50 Haushalten in sechs Siedlungen ausführliche Interviews geführt.
Die Bewohner*innen zeichnen sich durch sehr spezifische Profile aus. Beinahe die Hälfte der Haushalte sind Familien (41% Paare mit Kind/ ern und 7% Alleinerziehende), rund ein Drittel Ein-Personen-Haushalte und etwa ein Sechstel Paare ohne Kinder. Sie verfügen über ein hohes Ausbildungsniveau, fast zwei Drittel der über 15-Jährigen haben einen Universitäts- oder Fachhochschul-Abschluss. Beim Haushaltseinkommen zeigt sich hingegen eine relativ ausgewogene Verteilung, höhere Einkommensklassen sind leicht übervertreten, was sich aber durch die vielen Familien relativiert. Durch all diese Merkmale unterscheiden sich die Bewohner*innen stark von den autofreien Haushalten insgesamt, aber auch von der Bevölkerung in den Städten, in denen sie leben. Dieser Unterschied zeigt sich auch daran, dass den Bewohner*innen ethische oder altruistische Werte am wichtigsten sind, so würden über 80% links wählen (d.h. in Deutschland Linke und Grüne, in der Schweiz SP, Grüne und AL).
Fast alle Bewohner*innen leben freiwillig ohne eigenes Auto und dies bedeutet kein Verzicht für sie. Ihre Motivationen autofrei zu leben beziehen sich hauptsächlich auf praktische und persönliche Gründe. Erstere sind entweder individuell – kein Bedarf für ein Auto, negative Aspekte des Autobesitzes und des Autofahrens, in der Stadt insbesondere, und nutzen statt besitzen – oder auf den Kontext bezogen – es sind genügend alternative Mobilitätsformen verfügbar oder grundsätzlich eignen sich Städte für ein autofreies Leben. Persönliche Motivationen beinhalten vor allem Überzeugungen, vorwiegende ökologische, aber auch Präferenzen (für andere Mobilitätsformen) und eine negative Einstellung zu Autos, entweder grundsätzlich oder in Bezug auf Städte. Finanzielle sowie Gesundheits- und Altersgründe spielen hingegen nur für sehr wenige Haushalte eine Rolle. Selten erklärt hingegen ein einzelner Grund, dass jemand autofrei lebt. Meistens ist es eine Kombination aus persönlichen und praktischen Motivationen, wobei die Interviews gezeigt haben, dass für die meisten Bewohner*innen die persönlichen überwiegen. Mit anderen Worten: sie wollen und können autofrei leben.
Die Motivationen, in eine autofreie Wohnsiedlung zu ziehen, basieren auch auf praktischen und persönlichen Gründen. Für die meisten Bewohner*innen waren die Eigenschaften der Siedlung zentral, insbesondere in den Genossenschaften und Wohnprojekten, in denen Gemeinschaftsleben, Partizipation und Selbstverwaltung wichtige Eigenschaften sind. Aber auch Energieeffizienz und Gemeinschaftsräume oder die Kinderfreundlichkeit spielten eine Rolle. Die Eigenschaften der Wohnung hingegen waren für viele nicht, wie sonst üblich, von größter Bedeutung. Mobilitätsbezogene Gründe wie die Lage der Siedlung und die Möglichkeit, sich im Alltag zu Fuß und mit dem Rad fortzubewegen gehörten zu den wichtigsten Umzugsgründen, die Autofreiheit der Siedlungen an sich hingegen nicht. Während sie für einige Haushalte zentral war, gab es aber auch Haushalte, die sich trotz Autofreiheit zu einem Umzug entschieden haben. Tatsächlich besaßen insgesamt 25% der Haushalte vor dem Einzug ein Auto. Schließlich gab es auch persönliche Gründe, welche die Wohnungswahl beeinflusst hatten, so beispielsweise der Wille unabhängig von Autos, in einem umweltfreundlichen Umfeld zu leben und Aktivitäten und Einrichtungen mit der Nachbarschaft zu teilen.
Die Bewohner*innen verfügen über ein ausgeprägtes Mobilitätskapital, das heißt sie haben zahlreiche persönliche Zugänge zu Mobilitätsformen wie auch die nötigen Kompetenzen, um ohne ein eigenes Auto mobil zu sein. Diese wurden zusammen mit ihren Mobilitätspraktiken, den tatsächlich zurückgelegten Wegen, zu vier Arten von Strategien zusammengefasst, welche ihnen ermöglichen, ohne eigenes Auto mobil zu sein.
Erstens bauen die Bewohner*innen auf die Nutzung von (erweiterten) alternativen Transportformen. Das ist insbesondere das Fahrrad, fast die Hälfte der Haushalte verfügen über mehr als ein Rad pro Person und nur 9% über kein einziges. Dazu kommen noch Anhänger sowie E- oder Cargo-Bikes. Diese werden oft explizit als Autoersatz gesehen und als viel praktischer, um in der Stadt Einkäufe oder Kinder zu transportieren. Dazu kommt, mindestens für längere Strecken, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Dies zeigt sich auch in der hohen Verfügbarkeit von Abos, insgesamt besitzen 60% der über 16-Jährigen eine Monats- oder Jahreskarte, in Deutschland meist für eine Stadt oder Region, in der Schweiz ist das GA, der Zugang zum öV im ganzen Land, sehr stark vertreten. Schließlich gehen viele Bewohner*innen auch oft und gerne längere Strecken zu Fuß.
Zweitens nutzen sie Mobilitätsdienstleistungen wie Taxis und Lieferdienste, aber auch punktuell Carsharing- oder andere Leih-Autos. Über 80% der erwachsenen Bewohner*innen besitzen einen Führerschein, wobei sich aber gezeigt hat, dass einige seit Jahren nicht mehr Auto fahren. Rund 40% sind Mitglied eines Carsharing-Anbieters, dieser Anteil variiert aber sehr stark, zwischen 19% in der Saarlandstraße und über 60% im Stellwerk60. Auch hat sich gezeigt, dass die große Mehrheit der Bewohner* innen ein Auto seltener als ein Mal im Monat braucht, besonders um große und schwere Dinge zu transportieren, für Freizeitaktivitäten oder Besuche von Freund*innen und Verwandten. Carsharing-Nutzung oder Taxifahrten ermöglichen es auch die vereinzelt genannten Probleme der Unerreichbarkeit gewisser Orte oder Aktivitäten zu lösen.
Im Zusammenhang mit diesen Dienstleistungen hat sich gezeigt, dass die Digitalisierung autofrei leben stark vereinfacht. Insbesondere Smartphone-Apps, welche Zugang zu allen Mobilitätsformen ermöglichen und deren Nutzung unterstützen, spielen eine wichtige Rolle. Dies wurde besonders von älteren Bewohner* innen erwähnt, während sie für jüngere derart normal sind, dass sie meist nicht spontan erwähnt wurden. Aber auch die Kommunikationsmöglichkeiten, unterwegs oder für Heimarbeit, sind ein wichtiger Aspekt der Digitalisierung, wie auch die Möglichkeit, sich (fast) alles online zu bestellen und liefern zu lassen.
Drittens favorisieren die Bewohner*innen autofreie Erreichbarkeit und daher für ihre Alltagsaktivitäten oft Ziele in der Nähe. Insbesondere Einkäufe werden meistens zu Fuß oder mit dem Fahrrad in nahe gelegenen Geschäften erledigt. Für Freizeitaktivitäten, aber auch für Arbeitsstellen stellt die Erreichbarkeit oft ein wichtiges Kriterium dar, und in einem weiteren Sinn auch für Urlaubsreisen, wobei hier zahlreiche Bewohner*innen auch auf Autos zurückgreifen oder gar mit dem Flugzeug verreisen.
Viertens erschien die Gemeinschaft der Bewohner*innen auch als wichtig. Auf der praktischen Ebene erleichtern Nachbarschaftshilfe oder Gemeinschaftsaktivitäten in der Siedlung autofreies Leben, dadurch dass Wege gar nicht erst entstehen oder Transporte gemeinsam organisiert werden. So gibt es in vielen Siedlungen Kommunikationskanäle, über welche sich Nachbar*innen absprechen können, wenn zum Beispiel jemand einen Transporter mietet und zum Baumarkt fährt. Darüber hinaus stärkt die Gemeinschaft die Bewohner*innen auch und „normalisiert“ diese Lebensform.
Obschon wie beschrieben für Motivationen und Praktiken klare Tendenzen bestehen, existiert eine große Vielfalt an Bewohner*innen. Basierend auf den Wertvorstellungen und Motivationen, autofrei zu leben, wie auch auf den Mobilitätspraktiken, wurden sechs Typen von Lebensstilen gefunden: ökologische, pragmatische und nutzenorientierte Fahrradfahrende sowie die selben drei Typen von Multimodalen.
Diese unterscheiden sich einerseits durch die unterschiedliche Bedeutung ökologischer Werte für Ihr Leben. Während für die Ökologischen der Umweltschutz all ihre Praktiken beeinflusst und leitet, haben die Pragmatischen zwar ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein, das aber nicht genügend wäre um autofrei zu leben. Für sie spielen praktische Aspekte auch eine wichtige Rolle für die Mobilität. Bei den Nutzenorientierten dagegen erklären ausschließlich praktische Gründe ihr autofreies Leben, sie brauchen kein Auto um in der Stadt mobil zu sein und begründen dies nicht mit bestimmten Wertvorstellungen. Bei allen drei Typen gibt es zwei unterschiedliche Muster der Alltagsmobilität: während für die einen das Fahrrad ganz klar das Hauptverkehrsmittel ist, sind die andern multimodal unterwegs und nutzen, regelmäßig oder gar überwiegend, auch öffentliche Verkehrsmittel.
Neben all diesen Aspekten, welche sich auf die Personen beziehen, braucht es schließlich aber auch einen räumlichen und sozialen Kontext, der es ermöglicht, autofrei zu leben. Nach Einschätzung der Bewohner*innen sind Infrastrukturen auf drei Ebenen wichtig. In der Siedlung selbst muss der Wichtigkeit des Fahrrads Rechnung getragen werden und für sichere, genügend große und einfach zugängliche Fahrradparkierungsmöglichkeiten gesorgt werden. Ein minimales Carsharing-Angebot scheint notwendig, wie auch eine ansprechende Gestaltung der Außenbereiche sowie Räume, welche Gemeinschaftsaktivitäten ermöglichen. Im umliegenden Quartier sind insbesondere Nahversorgungsmöglichkeiten aber auch Naherholungsgebiete zentral, während alle anderen Orte wie Poststellen oder Restaurants auch etwas weiter entfernt sein können. Schließlich hat sich gezeigt, dass nicht eine bestimmte Distanz zum Stadtzentrum ein Kriterium ist, sondern vielmehr eine gute Anbindung mit (mehreren) ÖPNV-Linien sowie attraktive Fuß- und Fahrradwege zur Innenstadt und anderen Alltagsorten. Kurz zusammengefasst scheint also autofrei Wohnen fast überall in (vor)städtischen Gebieten möglich.
Andererseits beinhaltet der zum autofreien Leben notwendige Kontext aber auch immaterielle Aspekte. Dazu gehören insbesondere soziale Normen welche ermöglichen, Autofreiheit überhaupt in Betracht zu ziehen, aber auch Gesetze, welche autofreie Wohnsiedlungen nicht erschweren und Autobesitz und -fahren erleichtern.
Zusammengefasst muss ein System von autofreier Mobilität aufgebaut werden, um das bisher dominierende System der Automobilität zu überwinden. Ein solches System besteht einerseits aus den verschiedenen individuellen Strategien der autofreien Menschen, aber auch aus einem räumlichen und sozialen Kontext, der autofreies Leben ermöglicht.
Für die Stadt- und Mobilitätsplanung heißt das, dass es zwar nicht sehr viel braucht (Fahrrad-Infrastruktur, ÖPNV, Nahversorgung und -erholung sind oft bereits vorhanden), damit Menschen erfolgreich autofrei leben können. Aber so lange das Auto in den Städten nicht grundlegend eingeschränkt wird und der „Nutzen“ und die gesellschaftliche „Normalität“ nicht gegeben sind, wird die notwendige Transformation zu einem System autofreier Mobilität nicht gelingen.
Meine Doktorarbeit untersuchte die Bewohner* innen neun autofreier Wohnsiedlungen in der Schweiz und Deutschland, die sich zu einem Leben ohne eigenes Auto verpflichten. Der Beitrag beantwortet die Fragen wer sie sind, weshalb und wie sie autofrei (und in diesen Siedlungen) leben und welchen räumlichen und sozialen Kontext es dazu braucht.
Die Dissertation (auf Englisch) wird Ende 2019 publiziert, kontaktieren Sie mich bei Interesse (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!).
Weitere Informationen zum Thema: Plattform autofrei/autoarm Wohnen: www.wohnbau-mobilitaet.ch
Dieser Artikel von Daniel Baehler ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2019, erschienen.
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