Temporäre Umgestaltungen von Straßen und öffentlichen Räumen fördern den nachhaltigen Verkehr und können die Lebensqualität der Bevölkerung verbessern. Schweizweit wurden in den letzten Jahren mit Projekten in unterschiedlichster Ausprägung Erfahrungen damit gesammelt.
Aktuell stehen wir vor der großen Herausforderung, dem Klimawandel und dem Rückgang der Biodiversität mit wirksamen Maßnahmen zu begegnen. Der Umstieg auf eine nachhaltige Mobilität wie dem Zufußgehen und Fahrradfahren und die Reduktion des motorisierten Verkehrs leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Der Handlungsbedarf ist groß, für die Bevölkerung die öffentlichen Räume aufzuwerten und der Natur wieder mehr Platz zu geben – damit kann auch die Lebens- und Wohnqualität gesteigert werden.
Um herauszufinden, was dafür nötig ist, sind temporäre Umgestaltungen von Straßen und Plätzen ein nützliches Mittel. Diese neue Art im Siedlungsraum zu planen, bezieht sich auf die Tradition des „tactical urbanism“ der auf kleinräumigen, kostengünstigen und zeitlich begrenzten Umgestaltungen beruht. Diese dienen dazu, zu testen, welche Maßnahmen sich eignen, um Verbesserungen zu erreichen und welche davon allenfalls von einer temporären zu einer langfristigen Lösung werden können.
Voraussetzung dafür sind partizipative Prozesse, mit denen gezielt auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingegangen und das soziale Miteinander angeregt werden kann. Die Umnutzung des öffentlichen Raums im Rahmen solcher Projekte lädt die Bevölkerung dazu ein, sich ihre Wohnquartiere wieder aufs Neue anzueignen und selbst mitzugestalten. Es zeigt sich zudem, dass solche temporären, von der Bevölkerung mitentwickelte Projekte weniger anfällig auf Widerstand und Opposition sind.
Gerade in den städtischen Zentren wird momentan mit provisorischen Gestaltungen getestet und gepröbelt, was das Zeug hält. Einige Beispiele aus der neuen Publikation von Fussverkehr Schweiz mit dem Titel „Temporäre Gestaltungen – Neue Wege, die Stadt zu entdecken“ sollen einen Überblick über aktuelle Projekte geben (Download: www.fussverkehr.ch/publikation).
Die Städte Bern und Zürich gehören zu den Vorreitern bei der Einrichtung von Begegnungszonen.(1) In beiden Städten bestehen über 100 solcher Zonen, in denen Tempo 20 gilt und die Menschen zu Fuß Vortritt haben. Ein großer Vorteil dieses Verkehrsregimes ist, dass es in verschiedensten Kontexten angewendet werden kann; in Wohnquartieren, im Einflussbereich von Schulen, auf Bahnhofplätzen, an belebten Einkaufsstraßen etc. Insbesondere in den Wohnquartieren findet jedoch in der Realität trotz Verkehrsberuhigung noch zu wenig Aneignung statt. Das Potenzial der Quartiers-Straßen als Begegnungs- und Spielraum wird nicht ausgeschöpft.
Deshalb hat Fussverkehr Schweiz im Sommer 2022 während dreier Monate in Zusammenarbeit mit dem Dachverband für Offene Kinder- und Jugendarbeit DOJ das Pilotprojekt „Begegnen, Bewegen, Beleben in Quartieren von Bern und Zürich“ durchgeführt.2 Dabei wurden mit Anwohnenden zusammen Begegnungszonen in Straßen temporär mit Möbeln, Bemalung und Pflanzen ausgestattet. Der Vorteil eines solchen Vorgehens: Anwohnende verfügen über lokales Knowhow und wissen meistens genau, wo der Schuh drückt. Zudem wird ein gemeinsam gestalteter Raum von ihnen mehr gepflegt. Das Angebot, mitzumachen, wurde von der Bevölkerung rege genutzt, viele griffen selbst zu Hammer, Spaten und Pinsel und werkelten fleißig mit. Die Quartiersbewohnerinnen und -bewohner konnten stets ihre Meinung zum Projekt einfließen lassen und wurden mehrfach dazu befragt.
Die Aktion verlief erfolgreich. Während der Testphase wurden deutlich mehr Interaktionen im öffentlichen Raum festgestellt – die Leute begegneten sich vermehrt, konnten sich in der umgestalteten Zone ungestört und einfach bewegen und die Quartiere wurden belebt. Eine Entschleunigung fand statt, und die Hektik des Stadtlebens wurde gemindert. Dadurch wurden als gewollter Nebeneffekt auch das Zufussgehen und Velofahren gefördert.
In Zürich wurde die Kyburgstraße in einem dicht bebauten Quartier als Schauplatz für eine Aufwertung auserkoren. Sie wurde temporär möbliert und es parkten weniger Autos, der motorisierte Verkehr nahm deutlich ab, Menschen zu Fuss und auf dem Fahrrad waren deutlich in der Mehrzahl. Alle Altersgruppen von Jung bis Alt wurden von der neu gestalteten Begegnungszone angezogen, sie wurde zu einem populären Treffpunkt. Die aufgestellten Tische waren besonders beliebt, dort setzten sich die Leute zum Essen hin oder auch nur um gemütlich zu reden oder Brettspiele miteinander zu spielen – wo kann man das sonst auf einer Straße, ohne Angst haben zu müssen, überfahren zu werden? Anwohnende bemalten den Asphalt bunt, so ergab sich auch von außen ein farbiges und lebensfrohes Bild, und der Nachwuchs konnte herumklettern und sich austoben. Anfangs gab es Befürchtungen seitens der Bevölkerung, dass die Umgestaltung zu mehr Lärm und Festbetrieb führen würde. Das war aber nicht der Fall. Die wissenschaftliche Begleituntersuchung hat gezeigt, dass das Projekt von vielen Personen begrüßt wurde und die Rückmeldungen aus dem Quartier überwiegend positiv waren.
In der Bundeshauptstadt Bern wurde der Benteliweg umgestaltet – dies stieß vor allem bei den Kindern auf Begeisterung. Denn diese Straße ist in der unmittelbaren Nähe von Kindergärten und Kitas – dementsprechend wurde während der Testphase der Benteliweg von viel mehr Kindern als zuvor besucht, aber auch die älteren Semester unter den Anwohnenden waren vermehrt dort anzutreffen. Spielerische und kreative Aktivitäten nahmen deutlich zu, die Möbel auf dem Trottoir regten die Kinder dazu an, der Straßenraum wurde mit Leben erfüllt. Der Versuch kann also als Erfolg gewertet werden, doch gab es auch hier kritische Stimmen. Die Verkehrssicherheit wurde teilweise als ungenügend kritisiert – denn der Benteliweg wird vom lokalen Gewerbe als Durchgangs-Straße genutzt. Auch hier zeigte sich aber, dass die Umgestaltung sich bezüglich der nachhaltigen Mobilität positiv auswirkte, denn die motorisierte Verkehr nahm deutlich ab.
Die extern durchgeführte, systematische Vorher-Nachher-Analyse3 zeigt auf, dass die Umgestaltung an der Zürcher KyburgStraße tatsächlich zu mehr Aktivitäten und Begegnungen führte und einen bisher nicht erfüllten Bedarf bediente. Zum Erfolg beigetragen hat die partizipative Entwicklung vor Ort und die Möglichkeit der Mitwirkung und der Eigeninitiative. Eine „von oben verordnete Neugestaltung“ ist hingegen keine gute Ausgangslage, um die nötige Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhalten. Die Erkenntnisse leisten einen Beitrag, herauszufinden, welche Gestaltungselemente und Prozesse helfen, die Aufenthaltsqualität zu steigern und die Aneignung des Lebensraums durch die Menschen zu verbessern.
In Biel trägt ein temporäres Umgestaltungsprojekt am Unteren Quai den poetischen Namen „Sommerinseln“. Der Untere Quai, der die Innenstadt mit dem See verbindet, wird von den Bieler Bevölkerung geschätzt, obschon er eher als funktionale, weitgehend dem Autoverkehr überlassene Verbindungsachse dient, denn als Ort für Flanieren und Erholung. Schon lange wird über die Aufwertung dieses bedeutenden städtischen Raumes spekuliert. Bevor ein definitives Projekt ausgearbeitet wurde, entschloss sich die Stadtplanung zunächst mit Test-Interventionen, die zusammen mit der Bevölkerung entwickelt und umgesetzt wurden, Erfahrungen zu sammeln.
Vom Juni bis September 2019 wurde der Untere Quai provisorisch umgestaltet, gleichzeitig eine Brücke für den motorisierten Verkehr gesperrt und einige Parkplätze umgenutzt. Die dort wohnenden Menschen konnten ihre Ideen und Wünsche einbringen und nutzten den Raum sehr gerne, die Resonanz war positiv. Das Experiment wurde 2022 mit modifizierten Interventionen wiederholt und parallel die Elemente eines inzwischen entwickelten Vorprojekts zur Umgestaltung des Quais zur Diskussion gestellt. Um zu erfahren, wie die Leute darauf reagieren, wurden Befragungen und Workshop-Spaziergänge durchgeführt.
Die Bilanz der Stadtbehörden ist bislang positiv. Die temporären Umgestaltungen werden von der Bevölkerung geschätzt und machen die Vorgaben für ein zukünftiges Projekt fassbarer. Dank der Alltagsexpertise weisen die Benutzerinnen und Benutzer immer wieder auf relevante Aspekte hin. Dies ist umso befriedigender als der partizipative Prozess erhebliche personelle Mittel bindet und eine aktive Kommunikation erfordert.
Erfolgreiche temporäre Gestaltungen können weit über die ursprünglich vorgesehene Einsatzdauer hinaus verlängert werden. Wenn sie attraktiv sind und den Bedürfnissen entsprechen, werden diese Einrichtungen bis zu zehn Jahre weiter betrieben. So wurden etwa Projekte in den Westschweizer Städten Nyon und Sion aufgrund des überwältigenden Rückhalts seitens der Bewohnerinnen und Bewohner über Jahre verlängert. Die dortigen temporären öffentlichen Räume lassen Kreativität und multifunktionale Nutzungen zu, und werden – auch weil sie günstig sind – von den Nutzerinnen und Nutzern positiv aufgenommen. Die Eingriffe können jederzeit rückgängig gemacht werden. Befragungen haben aber gezeigt, dass die Zonen als „Erlebnislandschaften“ wahrgenommen und die Bevölkerung die vielfältigen Möglichkeiten zur Nutzung schätzen.
Temporäre Gestaltungen stellen für Städte zweifellos eine Bereicherung dar. Alle Erfahrungen zeigen, dass insbesondere der Fußverkehr gleich mehrfach davon profitiert. Das Gehen als aktive Mobilitätsform wird gefördert und die Zahl der Bewegungen zu Fuß nimmt zu. Zusätzliche Aufenthaltsangebote werden dankbar angenommen, so dass mehr Fußgängerinnen und Fußgänger zu beobachten sind, die verweilen oder sich ausruhen. Dies führt zu einer Belebung des öffentlichen Raumes, zu mehr sozialen Interaktionen und einer größeren Identifikation des Wohnumfeldes.
Die Ausprägung von temporären Gestaltungen ist ganz unterschiedlich. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie entwicklungsfähig sind und je nach Bedürfnissen kurzfristig und flexibel angepasst, erweitert oder verschoben werden können. Die Erfahrungen mit solchen provisorischen Einrichtungen können als wichtige Grundlagen für die Erarbeitung von definitiven Projekten dienen.
Daher ist eine systematische Evaluation der Auswirkungen auf der Basis von Beobachtungen vor Ort zentral. Allerdings können die heutigen Bewilligungsverfahren und administrativen Prozesse entmutigend wirken und sollten vereinfacht werden. Um die erzielten Effekte über einen repräsentativen Zeitraum testen und analysieren zu können, wäre die öffentliche Hand gut beraten, temporäre Gestaltungen nicht als Bauprojekte, sondern als partizipative Prozesse mit flexiblem Maßnahmenmix zu begreifen.
Temporäre Gestaltungen sind also nicht als unwichtiges Nebenprodukt, sondern als notwendige Phasen bei komplexen, lernorientierten Planungsprozessen im Siedlungsbereich zu begreifen. Konsequenterweise ist vorausschauend auch zu berücksichtigen, dass die finanziellen und personellen Ressourcen für Betrieb und Unterhalt beziehungsweise Erneuerung und Weiterentwicklung der provisorischen Maßnahmen als integraler Bestandteil des Planungsprozesses betrachtet werden.
(1) Informationen über Begegnungszonen und Beispiele: www.begegnungszonen.ch
(2) Informationen zum Pilotprojekt: www.fussverkehr.ch/begegnen
(3) Zwischenbericht der Vorher-Nachher-Analyse vom Februar 2023. Die ausführlichen Resultate der wissenschaftlichen Begleitstudie werden Ende 2023 publiziert.
Dieser Artikel von Pascal Regli ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2023, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
Das Queren von Radwegen zu Fuß ist scheinbar ganz leicht. Aber viele Menschen haben Probleme damit, und diese wachsen mit dem Ausbau der Rad-Infrastruktur. Darum braucht es hier sichere, komfortable Querungen genauso wie über herkömmliche Fahrbahnen.
In der Theorie wie im Alltag vieler fitter Menschen ist ein Radweg kein Hindernis: Da sind langsamere und schlankere Fahrzeuge unterwegs, gelenkt von Menschen ohne Schutzpanzer, die darum größere Vorsicht walten lassen. Eigene Querungsanlagen braucht man da angeblich nicht; sie hemmen nur den rollenden Verkehr.
Aber in der Praxis und gerade für weniger starke, schnelle Menschen sieht es ganz anders aus. Ihnen erscheinen Radwege manchmal sogar schwerer querbar als Fahrbahnen mit Motorisierten. Denn auf dem Radweg verlaufen die Bewegungen anders: in nicht ganz so geraden Linien, darum schlechter zu berechnen. Nicht mit dem ampelstraßen-typischen Wechsel von dichten Pulks und Leerräumen, die sich gut queren lassen. Auch nicht bei starkem Radverkehr mit mehr Fahrzeugen auf weniger Raum. Und schließlich in sehr unterschiedlichem Tempo vom gemütlichen Opa-Radeln bis zum S-Pedelec.
Schwierig ist das für alle, bei denen körperliche oder mentale Fähigkeiten eingeschränkt sind. Das betrifft mal das Sehen oder Hören, mal das Schätzen von Tempo und Distanz, das Antizipieren von Bewegungsverläufen und nicht zuletzt die eigene Reaktionsfähigkeit und Beweglichkeit. Wo all das fehlt, da fehlt oft das optimistische Selbstvertrauen, sich zwischen Radlern durchzuschlängeln und den eigenen Anspruch offensiv auch mit Körpersprache zu erheben.
Solche Einschränkungen sind weiter verbreitet, als viele junge und mittelalte Menschen glauben. Nach einer Faustformel haben rund zehn Prozent der Menschen stärkere chronische Behinderungen, etwa 20 Prozent aller Menschen sind in irgendeiner Hinsicht eingeschränkt – Kinder und Greise, Kranke, Behinderte und akut Verletzte. Sie alle sind nicht an dynamischen Fahrverkehr anpassbar, sondern der muss sich ihnen anpassen, sollen alle zügig und sicher umeinander herum und aneinander vorbei kommen.
Das gilt besonders bei sehr dichtem Radverkehr. Ihn nehmen vor allem Kinder, Alte und Weitere mit weniger Selbstfahr-Routine als Barriere wahr. Sie alle können Geschwindigkeiten schlecht einschätzen, wohl aber meist Entfernungen. Darum wirken langsame, doch nahe Fahrzeuge heikler als schnellere, die noch ein Stück entfernt sind. Die sind zwar objektiv gefährlicher, aber die subjektive Wahrnehmung suggeriert das Gegenteil und ist ernst zu nehmen.
Relativ leicht zu Fuß zu queren sind schmale, nur in einer Richtung befahrene Radwege – vor allem dann, wenn deren Benutzer keine überraschenden Ausweichbewegungen machen können, Zweirichtungswege sind schon deutlich anspruchsvoller, wuselige Kreuzungen erst recht. Heikel sind alle Plätze und weiteren Flächen, wo Radverkehr nicht auf einem abgegrenzten Weg, sondern potenziell überall geschieht. Das ist dort der Fall, wo es gar keine Radführung gibt oder wo sie durch mangelhafte Abgrenzung vom Gehweg unverbindlich wirkt. Radler mögen solche Flächen und vermeiden mögliche Stolperkanten, aus Fuß-Sicht sind sie dagegen nützlich und so nötig wie Bordsteinkanten zwischen Gehweg und Fahrbahn.
Auch eine größere Zahl querender Radwege macht das Gehen nicht leichter – zum Beispiel, wenn auf einem kleineren Platz eine Radkreuzung ist und womöglich einer der Wege am Platzrand auch noch zwischen Gehraum und Haltestelle führt. Das Hüpfen von Insel zu Insel zwischen Radwegen beim Gehen ist anstrengend und kann sogar bewirken, dass Menschen zu Fuß wegen der Inflationierung keinen der vielen Radwege mehr ernst nehmen.
Ein altbekannter Konfliktort sind Haltestellen. Hier werden vielerorts Menschen zu Fuß und auf dem Rad durch ignorante Planung geradezu aufeinandergehetzt. Wer zu Fuß ist, will Fahrzeuge verlassen oder betreten – der Bus vorn und die von hinten Nachdrängelnden warten nicht. Wer hier radelt, bekommt durch seinen Weg Vorfahrt suggeriert und ignoriert oft die Vorschrift, Haltestellen allenfalls langsam zu passieren. Nicht viel besser sind Radwege, die hinterm Wartebereich entlang führen. Sie engen den Gehweg ein und erzeugen neue Konflikte mit Menschen, die zum stehenden Fahrzeug eilen oder zu Fuß zügig weg wollen.
Unorte für viele Menschen zu Fuß sind auch Radwege, die rechts an einer Ampel mit Fußquerung vorbei führen und Radlern vermitteln, Fahrzeug-Rot gelte für sie nicht. Das stimmt formal oft, hat aber unangenehme Folgen für Gehende: Man hat Grün, aber kommt nicht weiter. Entweder nicht über den Radweg auf die Fahrbahn-Furt, was im Extremfall eine Wartephase mehr bedeuten kann. Oder nicht von der Fahrbahn auf den rettenden Gehweg, weil der Radweg dahinter gerade stark frequentiert ist.
Da sollen zwar Warteflächen zwischen Radweg und Fahrbahn die gröbsten Folgen mildern. Aber oft sind sie zu klein, so dass zum Beispiel das Leitpersonal für größere Kindergruppen in ein gruseliges Dilemma kommen kann: Entweder man jagt die vorderen Schutzbefohlenen in den Rad-Querverkehr. Oder es müssen die hinteren auf der Fahrbahn bleiben, auch wenn dort Fahrzeuglenker schon wieder Grün bekommen.
Hässliche Mobilitätskiller sind solche Radwege an größeren Kreuzungen. Da liegen oft Mittelinseln zwischen den Fahrbahnen und die Fuß-Ampeln kennen kein durchgängiges Grün. Im schlimmsten Fall muss man zwischen zwei Kreuzungsecken viermal warten. Und wenn vor und nach den Fahrbahnen auch noch Radwege mit Nachrang zu queren sind, bis zu achtmal.
Das alles spricht auch gegen „freie Rechtsabbieger“ fürs Rad. Sie sind eine Erfindung der Autostadt: Wer rechtsrum fahren will, tut dies auf eigenen ampelfreien Spuren rechts von der Kreuzung. Gehfreundliche Städte bauen solche Spuren nach und nach zurück. Geh-ignorante ergänzen autogerechte Geh-Schikanen mit weiteren zugunsten des Rades. Manche Radlobbyisten propagieren „holländische Kreuzungen“ mit solchen Spuren als ultimative Lösungen.
Die scheinbar sauberste Lösung ist aus simplen Gründen keine: das Entflechten von Fuß- und Radnetzen. Beide Netze können nur auf gleicher Bodenebene verlaufen, Brücken- und Tunnelsysteme bleiben ein Spleen von Träumern.
Damit zum Realisierbaren. Zuerst sind da Zebrastreifen, die an allen zum Gehen wichtigen Querungsorten über den Radweg gehören. Das Zebraverhalten mancher Radler ist anders als das von Autofahrern: Sie versuchen ungebremst knapp neben den Gehenden zu passieren. Wo das häufiger vorkommt, müssen sie entschleunigt werden; in den Niederlanden sind hierfür Aufpflasterungen nicht selten.
Eine Spezialregelung für alle Radwegquerungen brauchen Blinde, die Räder weder sehen noch hören können, also ganz auf deren Rücksicht angewiesen sind. Diese Rücksicht sollte mit einer eigenen Regel amtlich verlangt werden: Wo immer ein blinder Mensch seinen weißen Langstock über den Radweg nach vorn streckt und dann langsam losgeht, hat er Vorrang. Ob amtlicher Überweg oder nicht: der Stock entfaltet immer Zebrastreifen-Wirkung.
Was tun mit Radwegen rechts neben beampelten Übergängen, deren Rotlicht nicht fürs Rad gilt? Lösung Nummer1 ist umstritten: Zebrastreifen über den Radweg. Richtlinien verbieten beide Querungsformen in unmittelbarer Nähe. Was das heißt, ist strittig: Dürfen Ampelfurt und Zebrastreifen nicht nebeneinander? Oder können sie nur nicht auf derselben Fahrbahn kurz hintereinander folgen, aber nebeneinander auf getrennten Bahnen durchaus? Wenn das nicht möglich ist, sollten auch fürs Rad Ampeln gelten.
Eine fußfreundliche, in Deutschland kaum angewandte Ampelschaltung bringt auch flexible Radler rasch voran: das Rundum-Grün, bei dem alle in allen Richtungen gehen können und in dieser Zeit niemand fahren darf. Wer auf dem Rad ist, kann bei Grün für die eigene Fahrbahn rollen und bei Fußgrün absteigen und kurz schieben. Das ist gerade fürs Linksabbiegen die reibungsloseste und sicherste Form. Und man profitiert auf dem Rad sowohl vom Fahr- wie vom Gehgrün, hat also die wenigsten Wartezeiten.
Eine simple Methode zum Vermindern von Querungsorten ist die gemeinsame Fahrbahn für Räder und Motorisierte. Aber wollen wir von dieser nicht gerade weg? Manche Radplaner schon, andere weisen auf die vielen dafür zu schmalen Straßen hin – und darauf, dass jedes von der Fahrbahn genommene Rad mehr Raum und Tempofreiheit fürs Auto bedeutet, also genau falsche Anreize schafft. Statt Separation empfiehlt sich konsequent entschleunigter Motorverkehr – wo Radler unterwegs sind, sogar eher mit 25 oder gar 20 als mit 30 km/h.
Wo viele Menschen gehen und wo sie in jeder Richtung Sicherheit, Vorrang und entspannte Atmosphäre haben sollen, muss auch Radverkehr entweder ausgeschlossen oder angepasst sein, sprich langsam. Das gilt zum Beispiel für Fußgängerzonen mit erlaubtem Radeln. Hier können die klassischen Instrumente der Verkehrsberuhigung Querungskonflikte entschärfen: Schwellen, Kissen und sinusförmige Wellen, Engstellen und Schwenks.
Der angenehmste Weg zur friedlichen Fuß-Rad-Begegnung ist ein mentaler: der Entschluss, öfter mal Sekunden zu schenken statt Sekunden zu schinden – langsamer fahren, andere vorlassen, natürlich auch zu Fuß tun, wenn zum Beispiel ein Kind quer radelt. Das entstresst beim Fahren und Gehen, bringt Dankbarkeit und bessere Stimmung. So kommen die verschenkten Sekunden mehrfach zurück.
Dieser Artikel von Roland Stimpel ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2023, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
Nach der nunmehr dritten Radverkehrsnovelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) und ihrer Verwaltungsvorschriften (VwV-StVO) erkennen immer mehr Bundesländer und Fachleute den Bedarf einer Fußverkehrsnovelle.
Erste „Vorschläge zur Novellierung des Rechtsrahmens zur Erhöhung der Sicherheit und Attraktivität des Fußverkehrs“ enthält der Bericht der Ad-hoc-AG Fußverkehrspolitik der Verkehrsministerkonferenz vom 3.3.2021. Er wurde zur Sitzung vom 15./16.4.2021 vorgelegt und ist öffentlich einsehbar [1]. Die Vorschläge wurden unter der Federführung Bremens durch Vertreter/innen von neun Bundesländern und externe Sachverständige aus den Bereichen Verkehrs-, Straßenplanung und -verkehrsrecht erarbeitet. In dieser und den folgenden Ausgaben der mobilogisch! befassen wir und mit den im Bericht enthaltenen 18 Ansätzen.
Eine Schlüsselmaßnahme darin ist die Einführung eines Verkehrszeichens „Begegnungszone“; eine Forderung, die viele Fachverbände (FUSS e.V., ADAC, SRL, BSVI u.a.) schon vor mehr als 12 Jahren vorgebracht und zumeist auch immer wieder erneuert haben.
Begegnungszonen sollen den Fahrzeugverkehr verlangsamen, das Parken ausschließen bzw. ordnen und dem Fußverkehr mehr Rechte und Freizügigkeit im Straßenraum geben. Alles Wirkungen, die grundsätzlich schon der Verkehrsberuhigte Bereich (Verkehrszeichen 325.1) aufweist. Da dessen Einsatz auf stärker befahrenen Straßen eine großzügige Auslegung durch wohlwollende Verwaltungsleute erfordert und nicht immer stimmig ist (s.u.), brauchen wir zusätzlich das neue Verkehrszeichen. Es geht um rechtssichere und freilich möglichst fußverkehrsfreundliche Regelung in „Straßen, Plätzen und Bereichen
a) mit überwiegender Aufenthaltsfunktion oder
b) mit hohem flächenhaftem Querungsbedarf oder
c) in zentralen städtischen Bereichen mit hohem Fußgängeraufkommen oder
d) in Straßenräumen, in denen sich auch durch Umbaumaßnahmen keine Mindestmaße für Fuß- und Fahrverkehr hergestellt werden könnten.“ [2]
Verkehrsberuhigte Bereiche dürfen zwar sogar auf klassifizierten Straßen eingesetzt werden (wegen einer historischen und unkritischen Regelungslücke [3]). Doch sind sie formaljuristisch für stärker befahrende Straßen nicht optimal geeignet, weil sie
Zusammengefasst begründet die Ad-hoc-AG den Bedarf zur Begegnungszonen-Einführung wie folgt: „Es fehlt eine Zone, in der die gleichberechtigte Fahrbahnbenutzung des Fußverkehrs zulässig ist und die gleichzeitig ohne größere Umbaumaßnahmen umgesetzt werden kann.“ [4] „Die Einsatzmöglichkeiten des verkehrsberuhigten Bereichs sind eng: die Einführung ist oftmals mit einem (hohen) baulichen Aufwand verbunden.“ [5]
Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche (zumeist Tempo-10- oder Tempo-20-Zonen [6]; § 45 Abs. 1d StVO) sind keine vollwertige Alternative für die o.g. besonderen Straßenraumsituationen, da sie reine Geschwindigkeitsbegrenzungen ohne sonstige Regelungen zugunsten des Fußverkehrs umfassen.
Die Ad-hoc-AG Fußverkehrspolitik begründet den Bedarf zur Begegnungszonen-Einführung wie folgt: „Die Einsatzmöglichkeiten des verkehrsberuhigten Bereichs sind eng: die Einführung ist oftmals mit einem (hohen) baulichen Aufwand verbunden. (…) Es fehlt eine Zone, in der die gleichberechtigte Fahrbahnbenutzung des Fußverkehrs zulässig ist und die gleichzeitig ohne größere Umbaumaßnahmen umgesetzt werden kann.“ [7]
Kernpunkte des vorliegenden Vorschlags der Ad-hoc-AG hinsichtlich der Begegnungszone sind insbesondere
Die vorliegenden „Vorschläge zur Novellierung des Rechtsrahmens zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und Attraktivität des Fußverkehrs“ der Ad-hoc-AG Fußverkehrspolitik der Verkehrsministerkonferenz erhalten etliche sinnvolle Optimierungsansätze zum Gehen und Verweilen, auf die in einem gesonderten Artikel (in der nächsten Ausgabe dieser Zeitschrift) näher eingegangen wird. Der Vorschlag Nr. 16 „Begegnungszone“ erfüllt aber noch nicht sämtliche Erwartungen und Bedarfe bezüglich des eigenen Kernanliegens der Ad-hoc-AG, nämlich „Erhöhung der Verkehrssicherheit und Attraktivität des Fußverkehrs“ (Berichtstitel). Auf den Prüfstand zu stellen und zu optimieren sind insbesondere folgende Empfehlungen:
Obwohl der Fußverkehr bei fast allen ausländischen Begegnungszonen-Regelungen bevorrechtigt ist, wird für Deutschland ausgerechnet eine fahrzeugfreundliche Alternativregelung vorgeschlagen, die es nur in Österreich gibt. „Gleichberechtigung“ klingt zunächst sympathisch und sozial. Das ist es aber nicht, wenn der eine Part ungeschützte Menschen aller Altersstufen umfasst - und der andere meist motorisierte Maschinen, die längere bis lange Anhaltewege und mitunter das Tausendfache an Gewichtsmasse aufweisen. Schon die juristisch gegebene Gleichberechtigung von Frauen und Männern funktioniert in der Praxis nicht wirklich (vgl. Durchschnittslohnniveau und Führungspositionsbesetzung). Wer Gleichberechtigung von Geh- und Fahrverkehr möchte, verfolgt entweder eine sozialromantische Vision oder einen faulen Kompromiss, der die allgemein bestehenden Privilegien des Kfz- und/ oder Fahrradverkehrs möglich wenig antasten will. Einige Gründe, warum auch die deutsche Begegnungszone Fußverkehrsvorrang braucht, sind im gleichnamigen Textkasten aufgeführt. Übrigens gilt auch im Verkehrsberuhigten Bereich keine Gleichberechtigung.
Wenn wie vorgeschlagen - und in Österreich realisiert - der befahrbare Teil der Verkehrsfläche als „Fahrbahn“ bezeichnet und gewertet wird, ist Fußverkehr dort nur zu Gast. Das widerspricht der proklamierten „Gleichberechtigung“ und schwächt den Fußverkehrsstatus noch weiter. Beim Verkehrsberuhigten Bereich und bei der Schweizer Begegnungszone wurde demgegenüber bewusst der neutrale Begriff „Verkehrsfläche“ für die Gesamtfläche gewählt. Übrigens kann die Verkehrsfläche in sich differenziert gestaltet und nur teilräumlich befahrbar sein (Einplanung und Herstellung von Teilflächen nur für zum Gehen und Verweilen). [9]
Gemäß Ad-hoc-AG-Bericht soll Fußverkehr die „Fahrbahn“ in der Begegnungszone „abweichend von § 25 Abs. 1 in ihrer ganzen Breite nutzen dürfen“. Das ist gut, entspricht aufgrund des Verweises nur auf „Abs. 1“ aber nicht vollumfänglich dem Bedarf. Die genannte Abweichung bezieht sich nur auf eine Liberalisierung beim Längsgehen im Straßenraum. Wichtig ist auch die Liberalisierung beim Quergehen, v.a. bei stärker befahrenen Straßen. Bei den übrigen gewährleistet das schon, samt großzügigem Verweilangebot, der Verkehrsberuhigte Bereich. Auch die Begegnungszone muss diese Abweichung von den ansonsten geltenden Standardverkehrsregeln des § 25 Abs. 3 zum Queren bieten. Sonst gälte in der deutschen Begegnungszone, wer „zu Fuß geht, hat Fahrbahnen unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung zu überschreiten. Wenn die Verkehrsdichte, Fahrgeschwindigkeit, Sichtverhältnisse oder der Verkehrsablauf es erfordern, ist eine Fahrbahn nur an Kreuzungen oder Einmündungen (...) zu überschreiten.“
Der Vorschlag der Ad-hoc-AG enthält einen grundsätzlich wichtigen, in seiner Spezifizierung aber kritischen Verkehrsregel-Entwurf. Nach der bei allen Begegnungszonen- und Wohnstraßenregelungen (samt Z 325.1) gültigen Vorgabe zur Nichtgefährdung und Nichtbehinderung des Fußverkehrs durch Fahrzeugführerinnen sowie zur Rücksichtnahme auf ihn, soll eingefügt werden: „Wenn nötig, muss der Kraftfahrzeugverkehr die Geschwindigkeit weiter verringern“. Letzteres schließt Fahrräder bewusst aus. [10] Angesichts der besonderen Schutzbedürftigkeit von gehenden Kindern, alten und sog. „behinderten“ Menschen und dem zweifelsohne gegebenen Beeinträchtigungspotential durch unangemessen schnellen Radverkehr ist das vorgeschlagene Sonderrecht nicht mit der angestrebten friedlichen Koexistenz aller Verkehrsteilnehmer/innen vereinbar.
Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche sollen gemäß aktuellem Vorschlag im Bericht der Ad-hoc-AG entfallen, wenn die Begegnungszone eingeführt werden wird. Das klingt zunächst plausibel; zum einen, weil sie „nur“ die Fahrzeughöchstgeschwindigkeit und sonst überhaupt nichts an den örtlichen Verkehrsregelungen ändern; zum anderen, um (vermeintliche) Verwirrung durch Regelvielfalt zu vermeiden. Allerdings würde die befürchtete Verwirrung bei Beibehaltung dieser Anordnungsoption nicht auftreten, da gerade das zur Abschaffung vorgeschlagene Verkehrszeichen eindeutig ist: Hier gilt die angegebene niedrige Fahrzeughöchstgeschwindigkeit. Da es viele Straßen gibt, wo sowohl Temposenkung als auch die Beibehaltung des Trennprinzips (Gehweg, Fahrbahn, Gehweg) angemessen sind, sollte diese Option weiter zur Auswahl stehen. Aufgeschlossene Verkehrsbehörden und Gemeinden haben nämlich nur ein kleines Instrumentarium, um Einfluss auf die Minderung der erlaubten Fahrgeschwindigkeit zu nehmen.
Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche sind für Gemeindestraßen ein wichtiger Lösungsansatz. Sie werden im Einvernehmen mit der Gemeinde angeordnet (vgl. § 45 Abs. 1c), ein rares Mitbestimmungsrecht bei der ansonsten fast durchweg hoheitlichen Entscheidungskompetenz der Straßenverkehrsbehörden (staatliche Auftragsangelegenheit). Zudem sind sie indirekt [11] von der allgemeinen Anordnungsvoraussetzung befreit, dass „auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt“ (§ 45 Abs. 9 Nr. 4.). Daher sind diese eckigen Verkehrszeichen viel leichter zu initiieren und durchzusetzen als die „normalen“ runden Geschwindigkeitsbeschränkungen. Dies spricht für die vorläufige Beibehaltung der Regelungsoption (bis zur aktuell nicht absehbaren Einführung von Tempo 30 als Regel-Innerortshöchstgeschwindigkeit oder zumindest einer kommunalen Befugnis für das Fahrzeugtempo-Regime.
Bei der Abfassung der Verwaltungsvorschriften kann der Verordnungsgeber den Impuls geben, entsprechend geeignete Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche im Bestand als Begegnungszonen umzubeschildern, damit die damit verbundenen Zusatznutzen für den Fußverkehr aktiviert werden. Begegnungszonen sind dort angemessen, wo Interaktionen von Geh- und Fahrverkehr zu harmonisieren sind.
Aus Fußverkehrssicht sehr zu würdigen ist der Ansatz der Ad-hoc-AG, den Verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1) weiter beizubehalten [12]. Spezifische Regelungen sind sinnvoll und in z.B. in Österreich und Luxemburg vorhanden. Bislang ist der Verkehrsberuhigte Bereich hierzulande die „eierlegende Wollmilchsau“ für städtebauliche Straßen- und Platzräume, in denen der Kfz-Verkehr derzeit weiterhin stattfinden muss und möglichst verträglich integriert werden soll.
Die Fußverkehrsnovelle bietet die Chance, ihn zu einer spezifischen Lösung für Mischverkehrssituationen zu machen, in denen der Aufenthalt im Mittelpunkt steht (Aufgabenstellung Verweilmöglichkeit samt Spieloption). Die Begegnungszone ist dann ein spezifisches Instrument für mischgenutzte Straßenräume mit besonderem Querungsbedarf oder baulicher Enge, die keine oder keine akzeptabel breiten Gehwege ermöglichen (Aufgabenstellung bevorrechtigte lineare Querung oder fußgängerfreundliche Engstellenregelung [13]). Genau dieses Regelungsduo hat der FUSS e.V. schon 2009 entwickelt und vorgeschlagen [14]. Dieses Konzept mit weiteren Detailoptimierungen ist grundsätzlich weiterhin aktuell und das fußverkehrsfreundlichste Shared Space-Angebot für Straßen und Plätze mit Kfz-Verkehr [14]. Aufnahme in die StVO empfohlen und erbeten. Die Wiederveröffentlichung erfolgt in mobilogisch 3-22.
Endlich gibt es konkrete Initiativen zur Einführung der Begegnungszone in Deutschland. Leider orientiert sich der von gutwilligen Bundesländern eingebrachte Regelungsvorschlag nicht an der internationalen Best Practice, sondern ausgerechnet an der weltweit fahrzeugfreundlichsten Variante: der Österreichischen Regelung einer „Fahrbahn“ mit indirekt vorgegebener „Gleichberechtigung“ von Geh- und Fahrverkehr. Benötigt wird jedoch ein Instrument mit Fußverkehrsvorrang – erst recht im Rahmen einer „Fußverkehrsnovelle“ der StVO. Der aktuelle Vorschlag sieht im übrigen die Beibehaltung des Verkehrsberuhigten Bereichs vor, was zu begrüßen ist und schon 2009 vom FUSS e.V. angeregt wurde - mit weiteren Optimierungsvorschlägen, die nach wie vor aktuell sind.
In der folgenden Ausgabe (3/22) der mobilogisch erfolgt eine Wiederveröffentlichung des Vorschlags von FUSS e.V. aus dem Jahr 2009
[1] Ad-hoc-AG Fußverkehrspolitik der Verkehrsministerkonferenz: „Vorschläge zur Novellierung des Rechtsrahmens zur Erhöhung der Sicherheit und Attraktivität des Fußverkehrs“. Bericht. Bremen, März 2021. www.verkehrsministerkonferenz.de → Termine und Beschlüsse → 15./16.4.2021 → TOP 6.3
[2] ebenda, S. 27
[3] Das Straßenverkehrsrecht schließt nur den Einsatz von Tempo-30-Zonen und – indirekt - anderen Zonen-Geschwindigkeitsbeschränkungen auf klassifizierten Straßen aus (§ 45 Abs. 1c und 1d StVO). Erfolgreiches Anwendungsbeispiel: Landesstraße 22 / Opernplatz Duisburg mit bis zu 18.000 Kfz/h und ohne besondere Sicherheitsprobleme
[4] Ad-hoc-Bericht, S. 30
[5] ebenda, S. 29. Die Aussage bezieht sich auf die Verwaltungsvorschrift zu Zeichen 325.1 / 325.2: „In der Regel wird ein niveaugleicher Ausbau für die ganze Straßenbreite erforderlich sein.“ Diese Vorgabe ist aber flexibler als es scheint: „In der Regel“ bedeutet juristisch, dass begründete Abweichungen möglich sind
[6] Es sind auch Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche als Tempo-5- und Tempo-30-Zonen in „zentralen städtischen Bereiche mit hohem Fußgängeraufkommen und überwiegender Aufenthaltsfunktion“ möglich (vgl. § 45 Abs. 1d StVO)
[7] Ad-hoc-Bericht, S. 29f
[8] Ad-hoc-Bericht, S. 30. Irritierend ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag, Begegnungszonen als „Zonen-Geschwindigkeitsbeschränkungen“ zu definieren. Das ist bisher der Oberbegriff für Tempo-30-Zonen (die die Ad-hoc-AG erhalten will) und Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche. Begegnungszonen sind aber multifunktionale Verkehrszeichen (wie auch Z. 325.1), die nicht nur Regelungen zur Fahrzeughöchstgeschwindigkeit umfassen. Daher sollte diese Definition bzw. Zuordnung noch mal hinterfragt werden
[9] In die Verwaltungsvorschriften zu beiden Verkehrszeichen sollte sinngemäß folgende Klarstellung aufgenommen werden, um fußverkehrsfreundliche Gestaltung zu fördern: „Straßen, die mit Zeichen ... beschildert sind, dürfen von Fußgängern zwar in ihrer ganzen Breite benutzt werden; dies bedeutet aber nicht, dass auch Fahrzeugführern ermöglicht werden muss, die Straße überall zu befahren. Daher kann es im Einzelfall zweckmäßig sein, Flächen für Fußgänger zu reservieren und diese in geeigneter Weise (z. B. durch Poller, Bewuchs) von dem befahrbaren Bereich abzugrenzen" (alte Fassung der VwV-StVO zu Z. 325 bis 31.8.2009, Rn 5)
[10] Ad-hoc-Bericht, S. 29
[11] durch (redaktionell leider intransparente) Analogie zur eng verwandten Tempo-30-Zone
[12] FUSS e.V. fordert Begegnungszonen + „Spielstraßen“. In mobilogisch! 2/2009, S. 23
[13] Ohne eine Mischflächenregelung sind weich separierte Seitenbereiche reine Gehwege, die nicht von Fahrzeugen im Längsverkehr befahren werden dürfen; sie dürften daher auch nirgendwo als Engstellen-Ausweichraum für Begegnungsfälle zwischen Fahrzeugen eingeplant und betrieben werden, was aber in der Praxis häufig erfolgt.
[14] Vgl. Arndt Schwab: Mischflächen, Shared Space und Begegnungszonen. In mobilogisch! 2/2008, S. 42; www.strassen-fuer-alle.de → Vergleich
Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2022, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
*********************************************************************************************
Einer der häufigsten Irrtümer hinsichtlich der deutschen Verkehrsregeln ist die weitverbreitete Annahme, im Verkehrsberuhigten Bereich seien Geh- und Fahrverkehr gleichberechtigt. Das behauptet u.a. auch der Wikipedia-Artikel „Begegnungszonen“ (Stand 1.5.2022), ist aber falsch. Selbst viele Planer/innen und Polizist/innen sind hier irritiert, weil der Vorschriftstext indirekt und verwirrend verfasst ist.
In der Schweiz ist die geltende Verkehrsregel für das Zusammentreffen von Personen mit und ohne Fahrzeug bei der Begegnungszone klar und allgemeinverständlich als „Fussgängervortritt“ formuliert. In Deutschland gilt beim Verkehrsberuhigten Bereich juristisch das Gleiche, doch ist die entsprechende Wortwahl an der europäischen Mustervorlage (Zusatzvereinbarung zur Wiener Konvention) ausgerichtet: „Wer ein Fahrzeug führt, darf den Fußgängerverkehr weder gefährden noch behindern; wenn nötig, muss gewartet werden“ (StVO-Gebot zu Zeichen 325.1). Diese „negative“ Formulierung ist in der deutschen StVO üblich, um die Bevorrechtigungen einer Verkehrsart gegenüber der anderen auszudrücken. Den Fußverkehrsvorrang betreffend z.B.
Außer beim Fußgängerüberweg ist die Vorrangregelung vielen Verkehrsteilnehmer/innen unverständlich und daher nicht bewusst. Deshalb empfiehlt der FUSS e.V. dem Verordnungsgeber die Einfügung je einer Klarstellung in die StVO (z.B. Ergänzung eines Klammerzusatzes „Fußverkehrsvorrang“).
In Anbetracht des Leitbildes der selbsterklärenden Straße muss die Begegnungszone mit Fußverkehrsvorrang verbunden sein. Sonst widersprechen sich Bau und Betrieb, d.h. Gestaltung und Verkehrsregelung. Da die Verkehrszeichen für den Beginn und das Ende der Regelung im Allgemeinen jeweils nur dort wo Fahrzeuge ein- und ausfahren aufgestellt werden, müssen Fußgänger/innen die Gestaltung der Straße lesen und verstehen können. Wenn eine Straße oder ein Platz anders als „normale“ Straßen aussieht und zum freizügigen Queren einlädt, sollte dem Fahrzeugverkehr aus Sicherheitsgründen die standardmäßige rechtliche Priorisierung entzogen werden.
Bei guter Straßenraumgestaltung verlangsamt ein Teil der Fahrer/innen intuitiv die Geschwindigkeit, was die Bereitschaft erhöht, auf den eigenen Vorrang zu verzichten. Höhere und dauerhafte Wirksamkeit ergibt sich, wenn ergänzend eine geschwindigkeitsbegrenzende Beschilderung vorhanden ist und/oder eine Regelung mit situativer Wartepflicht gilt (z.B. unbeschildertes „Rechts vor links“, „Zebrastreifen“ oder Zeichen 325.1).
Bei der absehbaren Umbeschilderung von Bestandsregelungen mit Zeichen 325.1 zu einer Begegnungszone ohne Fußverkehrsvorrang wird es sogar gefährlich: Die vergleichbare Situation der Aufhebung von „Zebrastreifen“und somit bisherigem Fußverkehrsvorrang zeigt, dass dies mit Unfallrisiken verbunden ist. Ein Teil der Zu-Fuß-Gehenden, insbesondere Personen mit visueller oder kognitiver Beeinträchtigung, nimmt die Veränderung nicht wahr und geht daher gewohnheitsmäßig weiterhin von eigener Bevorrechtigung aus.
Eine „Fußverkehrsnovelle“, die die bekannten und bewährten Quasi-Begegnungszonen in Speyer, Kevelaer, Duisburg, Brühl, Schwetzingen usw., bislang als Verkehrsberuhigte Bereiche betrieben, gefährdet oder verschlechtert, verdient ihren Namen nicht. Sie sollte doch den Fußverkehr fördern.
Die Bevorrechtigung des Fußverkehrs ist ein politisches Zeichen. Symbolische Bedeutung ist ein wichtiges planerisches und kommunalpolitisches Instrument. Beispielsweise hat die Einrichtung einer Fahrradstraße bzw. -zone mit Freigabe für den allgemeinen Kfz-Verkehr durch Zusatzschild ebenfalls überwiegend symbolische Relevanz. Verkehrsrechtlich besteht praktisch kein Zusatznutzen gegenüber einer normalen Straße mit einer Tempo-30-Regelung. In beiden Fällen gelten im Grundsatz die gleichen Verkehrsregeln bezüglich zulässiger Fahrzeughöchstgeschwindigkeit, Vorrangregelung und Nebeneinander-Radfahroption (vgl. § 2 Abs. 4 StVO). Trotzdem macht es Sinn, Fahrradstraßen einzurichten, etwa um ein durchgängiges Radfahrnetz zu schaffen. Gleichermaßen wirken Verkehrsberuhigte Bereiche und Begegnungszonen mit Fußverkehrsvorrang netzbildend. Denn bei Überquerung normaler Straßen ist der Fußverkehr grundsätzlich wartepflichtig gegenüber den Fahrzeugen, selbst bei den Verkehrsberuhigten Geschäftsbereichen (Tempo-10- oder Tempo-20-Zonen). Das Netz der Fußverkehrsinfrastruktur ist stark verinselt, im Allgemeinen auf die Gehwege beschränkt. Verkehrsberuhigte Bereiche und echte Begegnungszonen sind verbindende Fußverkehrsinfrastruktur, die Österreichische Begegnungszone hingegen nicht wirklich. Das dortige Verkehrszeichen – abgeleitet aus dem französischen – visualisiert durch die gegenüber dem Original vergrößerte Kfz-Darstellung die „Gleichberechtigung“. Das ist ein falsches Signal. Deshalb empfiehlt es sich bei der Adaption für Deutschland, die Größenverhältnisse aus dem französischen Schild zu übernehmen, das den Fußverkehr und somit seine (erforderliche) Priorisierung hervorhebt. Die Zu-Fuß-Gehenden sind i.d.R. diejenigen, die diesen Straßenraum bewusst nutzen – und nicht nur im Transit hindurch fahren.
Eine Begegnungszone mit Fußverkehrsvorrang ist wie ein unsichtbarer, aber wirksamer Zebrastreifen auf ganzer Zonenlänge. Das ist ein städtebaulich optimaler und wahrlich integrierter Ansatz, begünstigt er doch sowohl lineares Queren auch ohne Bereitstellung eines Mittelstreifens als auch bevorrechtigtes Queren ohne jegliche optische Beeinträchtigung der Oberflächengestaltung durch Zebrastreifen-Markierungen.
In Österreich ist es nicht gelungen, die 2013 eingeführte Begegnungszone mit dem international üblichen Standard des Fußverkehrsvorrangs auszustatten. „Das haben wir leider nicht geschafft“, bedauerte der wichtigste Fußverkehrslobbyist des Nachbarlandes, Dieter Schwab von walk-space.at, kurz nach der Einführung. Trotzdem ist die dortige Begegnungszonen-Regelung ein großer Erfolg: Es wurden etliche städtebaulich hervorragende Lösungen, insbesondere in Geschäftsstraßen und Ortsdurchfahrten, realisiert. Die bereits zuvor existierende „Wohnstraßen“-Schild, äußerlich unserem Verkehrszeichen 325.1 sehr ähnlich, bot im Gegensatz zu diesem keinerlei Spielraum dafür. In „Wohnstraßen“ galt und gilt nämlich ein Kfz-Fahrverbot; ausgenommen ist grundsätzlich nur Anliegerverkehr („das Befahren zum Zwecke des Zu- und Abfahrens“).
Es begab sich zu der Zeit, als die Kommunen und Bundesländer weniger Lichtsignalanlagen (LSA) als früher installierten und bestehende zunehmend durch kleine Kreisverkehrsplätze ersetzten. Damals wurde das sogenannte Umweltsensitive Verkehrsmanagement (UVM) erfunden, das der Verkehrstechnikbranche weiterhin Aufträge bescherte.
Ein UVM misst laufend Luftschadstoff-Immisionswerte und Kfz-Verkehrsmengen (NO2, ggf. Feinstaub), prognostiziert Grenzwertüberschreitungen und aktiviert dann bestimmte Regelungen, die diese vermeiden oder gering halten sollen. Angesteuert werden LSA-Schaltungen, Wechselverkehrszeichen, informelle Infotafeln und individuelle mobile Informationsgeräte. Kfz-Verkehr wird dann z.B.
Um ein solches System aufzubauen und zu betreiben, ist ein enormer technischer Aufwand erforderlich: sehr viele Detektoren und Messgeräte an sehr vielen Stellen, komplexe Luftschadstoff- und Verkehrsmodelle, hochmoderne Steuergeräte, zusätzliche Infrastrukturen zur Verkehrsbeeinflussung. Besonders aufwändig hinsichtlich der Beschilderung sind i.d.R. temporäre Umleitungsrouten für Lkw oder alle Kfz.
Trotz der sehr hohen Kosten begeistert UVM allerorten Verwaltungen und Kommunalpolitik, und zwar die gesamte Bandbreite, von den Autoaffinen (die sich freuen, dass das Auto nur zeitweise und lokal eingeschränkt wird und ansonsten weiter wie bisher fahren darf) bis zu den Ökos (die sich über die in Aussicht gestellten Umweltentlastungen freuen). Als Baustein einer „Smart City“ gilt UVM als clever, intelligent und zukunftsweisend.
Für ein nur bedarfsweise ins Verkehrsgeschehen eingreifendes UVM werden u.a. folgende Vorteile genannt: (1)
a) Vermeidung von Voreingenommenheit der Betroffenen, die es bei dauerhaften, d.h. statischen restriktiven Maßnahmen gäbe.
b) Geringere Störung der ‚Verkehrsabläufe’ als bei statischen Maßnahmen. (2)
c) NO2- und Feinstaub-Minderungspotential in der Größenordnung von Umweltzonen, jedoch anders als diese „ohne juristischen Vorlauf“ an zukünftige Entwicklungen anpassbar. (3)
d) Vermeidung von dauerhaften Mehrbelastungen auf etwaigen Entlastungsstrecken.
e) Vermeidung von dauerhaften Zunahmen beim Kraftstoffverbrauch und CO2-Ausstoß durch nur temporäre Umleitung auf Entlastungsstrecken und zumindest teilweise ausgleichende Maßnahmen.
Lärmminderung kann teilräumlich als Nebeneffekt auftreten, ist aber wegen der nur temporären und meist kurzzeitigen UVM-Aktivierung nur sporadisch wirksam.
Manche anderen Erwartungen sind unbegründet, z.B. „dass temporäre Restriktionen im Kfz-Verkehr (MIV) zu dauerhaften Änderungen im Nutzungsverhalten führen.“ (4)
Wie bei permanenten, sogenannten statischen Maßnahmen ist der Erfolg dynamischer Maßnahmen wie dem UVM jedoch grundsätzlich abhängig von der Akzeptanzsicherung durch
„Im Vordergrund der Zielsetzung von UVM steht die Einhaltung der Immissionsgrenzwerte für Feinstaub und für NO2. (…) Die Berechtigung für ein UVM resultiert auch aus dem Umstand, dass nur unter bestimmten, meist windschwachen meteorologischen Bedingungen Akkumulationen der Schadstoffe (…) auftreten.“ (5) UVM soll „als Maßnahme (…) vor allem auf den Hotspot wirken“. (6)
Zu hinterfragen ist zunächst die Konzentration auf die Vermeidung von juristisch untersagten Grenzwertüberschreitungen: (7)
Die für Planung und Umsetzung sowie den Betrieb von UVM eingesetzten erheblichen finanziellen und personellen Ressourcen wären besser für Maßnahmen im Sinne der Verkehrswende eingesetzt. Diese erfordert bekanntlich Pull- und Push-Maßnahmen. Letzteres bedeutet echte Restriktionen für den fließenden und ruhenden Kfz-Verkehr.
UVM ist kein Beitrag zur Verkehrswende, im Gegenteil: Es hat das Kernanliegen, den Kfz-Verkehr wann immer möglich mit gleichem Volumen, gleichen Vorrechten und gleicher Freizügigkeit weiterrollen zu lassen.
Die temporären Eingriffe durch ein UVM in das Fahr-, Routen- oder Verkehrsverhalten des Kfz-Verkehrs erfolgen nur dann, wenn diesem – oder dem Staat – dauerhafte bzw. unangenehme Sanktionen drohen.
Ein UVM kann in den Aktivierungsstunden sogar eine Aufwertung des Kfz-Verkehrs auf den Hauptachsen vorsehen und umsetzen: Längeres Grün und somit weniger Wartezeit an LSA. Stichwort „Verkehrsverstetigung“.
Die von UVM-Systemen zur Schadstoffminderung eingesetzte Zauberformel „Verkehrsverstetigung“ wird bislang praktisch immer nur auf den Kfz-Verkehr bezogen (und das auch nur in der Hauptrichtung). „Verkehr“ umfasst aber auch ÖPNV, Rad- und Fußverkehr. Die querenden nichtmotorisierten Verkehre müssen aufgrund UVM häufig länger warten – und das unter dem Schlagwort „Verkehrsverstetigung“.
Die Annahme bzw. Behauptung, dass die Verflüssigung des stärksten Kfz-Stroms Abgas- und Staub-Emissionen mindert, erscheint auf den ersten Blick plausibel; schließlich gibt es bei reduzierten Bremsvorgängen auch weniger Bremsbelag- und Reifenabrieb. Ganzheitlich betrachtet unter Einbeziehung der indirekten Effekte stellt sich die Frage: Könnte die Beschleunigung des größten Kfz-Stroms vielleicht auch zusätzlichen Kfz-Verkehr induzieren bzw. zumindest den Status-Quo des Kfz-Aufkommens konservieren?
Auch die vorgenannten Verschlechterungen der Bedingungen fürs Gehen und Radfahren tragen gewiss nicht dazu bei, dass mehr zu Fuß gegangen und Rad gefahren wird.
Schon im kommenden Jahrzehnt wird es kaum noch Kfz mit Verbrennungsmotoren für fossile Kraftstoffe geben. Dann wird sich das verkehrsbedingte NO2-Belastungsproblem in Luft auflösen. Lohnt sich der aktuelle Riesenaufwand für UVM, den einige Städte praktizieren und viele andere vorbereiten, noch?
Viele Einzelmaßnahmen, die als UVM zusammengefasst werden, sind für sich genommen sinnvoll, auch und gerade als Dauermaßnahme. Vieles ist schon lange bewährt – und trotzdem noch viel zu wenig verwirklicht: Beispielsweise Geschwindigkeitsbegrenzungen, Lkw-Routenführungen, Pförtner-LSA ...
Fragwürdig hingegen ist der konzertierte Kurzzeit-Einsatz solcher Maßnahmen mit der Intention, eigentlich notwendige Push-Maßnahmen im Sinne der Verkehrswende zu erübrigen, etwa um Ärger mit der Bürgerschaft (Verwaltungsperspektive) bzw. Wählerschaft (Politikperspektive) zu vermeiden. Dies unterstützt die von einigen UVM-Promoter/innen verfolgte Absicht der Stabilisierung und Fortführung des heutigen Kfz-Verkehrssystems. Besonders fragwürdig ist die Etikettierung all dessen als „umweltsensitiv“.
Wirklich umweltsensitiv wäre es, mit den für UVM eingesetzten Finanzmitteln und Fachleuten permanent wirksame Maßnahmen zur Vermeidung von verkehrsbedingten NO2- und Feinstaub-Emissionen bzw. -Immissionen anzugehen – nach der abgestuften Formel „Vermeiden, Verlagern, Verbessern“.
Dabei sollten bestimmte Chancen, welche die Digitalisierung bietet, genutzt werden. Telematik kann die Verkehrswende unterstützen, z.B. beim ÖPNV, bei Sharingsystemen und stadt- und umweltverträglicherer Warenlogistik. Nicht zuletzt mit Pförtner-LSA, die nur so viele Kfz ins nachfolgende Netz lassen, wie dort verträglich abgewickelt werden können, während ÖPNV und Radverkehr priorisiert vorbeifahren können.
Umweltsensitives Verkehrsmanagement (UVM) – klingt toll, modern und hat Hochkonjunktur. Leider trägt die bisherige Ausrichtung der meisten Projekte nicht zur Verkehrswende bei, sondern wirkt ihr sogar entgegen.
(1) Vgl. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV, Hrsg.): Wirkung von Maßnahmen zur Umweltentlastung. Teil 3 Umweltsensitives Verkehrsmanagement. Zwischenstand. Köln, 14. 10. 2014 (FGSV 210/3), S. 3f
(2) FGSV 210/3, S. 3
(3) ebenda
(4) Vgl. FGSV 210/3, S. 4
(5) FGSV 210/3, S. 3
(6) FGSV 210/3, S. 4
(7) 39. BImSchV (auf Basis der Richtlinie 2008/50/EG)
Der verkehrsplanerische Grundsatz der Handlungsreihenfolge „Vermeiden, Verlagern, Verbessern“ wird seit einigen Jahren verdreht und somit aufhoben. Mit zunehmender Fokussierung auf technische Lösungen (Digitalisierung und Antriebswende) steht auf Bundesebene das Verbessern im Vordergrund. Der verkehrsökologisch nachrangigste Schritt ist nun der erste und das Haupthandlungsfeld. Insbesondere die Verkehrsvermeidung wird damit völlig ausgeklammert. Dabei ist der „beste Verkehr“ bekanntlich jener, der gar nicht erst entsteht.
2008 hat die EU einen Aktionsplan zum beschleunigten Verkehrstelematik-Einsatz („Intelligent Transport Systems“ / ITS) und 2010 eine entsprechende Richtlinie (2010/40/EU) erstellt. Diese regelt die Einführung intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr und deren Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern und wurde 2013 im Rahmen des Intelligente-Verkehrssysteme-Gesetz (IVSG) in deutsches Recht umgesetzt, das aber kaum praktische Relevanz für kommunale Aktivitäten ausübt.
Nachdem die EU-Kommission Mitte des letzten Jahrzehnts mehrfach drohte, Deutschland und einige andere Staaten zu verklagen, weil die seit 2010 geltenden Luftschadstoffwerte weiterhin in etlichen Städten überschritten wurden, erlebte UVM einen Boom. Die damalige Bundesregierung gab den betreffenden Kommunen großzügig Fördermittel zur Entwicklung und Umsetzung von UVM-Konzepten, um einerseits wirkliche Einschränkungen für den Kfz-Verkehr abzuwenden, aber andererseits aktives Handeln bzw. Perspektiven zur Minderung der NO2-Grenzwert-Überschreitungen gegenüber der EU zu präsentieren. Dennoch verlor Deutschland 2021 das 2017 nach mehreren Warnungen eingereichte Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof.
Seit 2017 ist das Bundesverkehrsministerium auch ausdrücklich mit dem Aufgabenbereich Digitale Infrastruktur beschäftigt und mit entsprechendem Namenszusatz benannt. Seit dem Regierungswechsel im Dezember 2021 hat die Digitalisierung noch mehr Gewicht, verdeutlicht durch die Umbenennung in „Bundesministerium für Digitales und Verkehr“.
Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2022, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
Christian Haegele ist Abteilungsleiter für Verkehrsmanagement in der Berliner Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz und damit zuständig für mehr als 2.000 Ampelanlagen. Das Interview mit ihm zeigt die Möglichkeiten, aber auch die teils engen Grenzen der Verkehrswende an Ampeln.
? Die meisten Menschen zu Fuß fühlen sich an Ampeln gehetzt. Nach den Ampel-Richtlinien RiLSA sind Fußgängersignale oft so geschaltet, dass man ein Gehtempo von 1,2 Metern pro Sekunde braucht, um rechtzeitig drüben anzukommen. Das sind 4,3 Stundenkilometer – für viele Alte, Kinder, Behinderte zu viel.
! Wir weichen in Berlin zugunsten des Fußverkehrs von den Regelfällen der RiLSA ab und rechnen mit einem Gehtempo von nur einem Meter pro Sekunde für die Grünzeit. Und in der Grünzeit soll man bei dieser Geschwindigkeit nicht nur die Hälfte der Furt geschafft haben, sondern zwei Drittel. Danach kommt ja noch die Schutzzeit, in der zwar der Fußverkehr beim Überqueren eine rote Ampel sieht, aber die Fahrzeuge quer dazu noch kein Grün erhalten.
? Sie und ich wissen das. Aber viele andere sind immer wieder verärgert und verunsichert. „Das Grün ist viel zu kurz“ hören wir als häufigste Klage über Ampeln.
! Ich auch! Und da suche ich den FUSS e.V. auch als Verbündeten: Wie können wir vermitteln, dass ein kurzes Grün nicht die Sicherheit einschränkt, wenn die anschließende Schutzzeit lang genug ist?
? Das ist seit fast hundert Jahren nicht vermittelbar. Kein Wunder, denn „Rot“ heißt sonst strikt: Bleib stehen! In dieser Situation heißt es dagegen: Lauf weiter! Kommunikation kann aber nur aber scheitern, wenn das gleiche Signal gegensätzliche Botschaften vermitteln will. Übrigens auch Autofahrern: Sie biegen ab, sehen Menschen bei Rot gehen, und nicht wenige drängeln und hupen.
! Ja, daher bin ich auch der Meinung, dass wir etwas Anderes brauchen als die herkömmliche Signalgebung, auf jeden Fall mehr Optionen als bisher. Es gibt in Düsseldorf zum Beispiel Fußgänger-Gelb und in anderen Ländern grünes oder rotes Blinken. Aber das ist auch nicht immer eindeutig, zudem müsste man auf geändertes Bundesrecht warten. Ich werde bei der Leitung unseres Hauses für ein Modell werben, dass wir in Berlin seit 2013 als eine Art Dauer-Experiment unter anderem am Fehrbelliner Platz haben: fünf weiße Balken, die ähnlich aussehen wie ein Zebrastreifen und die in der Schutzzeit einer nach dem anderen ausgehen. Sie zeigen: Du kannst Deinen Weg regulär fortsetzen. Eine solche Signalisierung erfordert neue Kabel und Steuergeräte, aber man müsste dafür nicht auf geändertes Bundesrecht warten. Wir prüfen daher gerade, ob wir dies immer dann installieren können, wenn wir eine Anlage sowieso behindertengerecht umbauen und neue Verkabelungen für akustische Signalgeber und Anforderungstaster nötig werden. Wenn wir das zum Prinzip machen, könnten wir im Jahr derzeit etwa 10 bis 15 barrierefreie Ausbauten von bestehenden Knotenpunkten schaffen, zusätzlich zu den Neu- und Ersatzbauten, die grundsätzlich barrierefrei errichtet werden.
? Wer zu Fuß geht, hat nicht nur das kürzeste Grün, sondern auch am längsten Rot.
! Langes Grün bedeutet für die Querrichtung allerdings immer langes Rot – auch für den dortigen Fußverkehr. Aus meiner Sicht sind lange Grünphasen auch nicht per se sicherer, zum Beispiel gegenüber einbiegenden Fahrzeugen. Da ist es oft besser, wenn es eine Gruppe von Menschen gibt, die direkt beim Umschalten auf Grün startet. Kommt dann etliche Sekunden später ein einzelner Nachzügler, kann es gefährlich werden. Und es gibt beim Fußverkehr mit seinem gesunden Chaos ja auch kein Kapazitätsproblem – das nur Fahrzeuge haben, die alle hintereinander warten müssen. Wo viele Leute queren wollen, kann man meist einfach die Furt verbreitern. Im Extremfall auf mehr als 26 Meter wie an der Stelle, an der die Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße durch die Fahrbahn der Kantstraße unterbrochen ist. Dafür muss die Grünzeit nicht lang sein, sondern lieber kürzer, dafür öfter.
? Es soll also beim ewigen Warten bleiben? Das hält auf, macht viele ungeduldig und verführt manche, bei Rot zu gehen.
! Maßgeblich für Geduld oder Ungeduld ist aus meiner Sicht weniger die Wartezeit als die Verkehrsdichte und das Verkehrsgeschehen. Die Neigung zum Gehen bei Rot nimmt zu, wenn die Wartezeit als unnötig empfunden wird, etwa weil kein Fahrzeugverkehr zu sehen ist. Aber: Wartezeiten wollen wir in der Tat verkürzen, um das Zufußgehen zu fördern. Dazu plädiere ich an geeigneten Stellen eher für grundsätzlich kurze Umläufe. Das heißt, der ganze Zyklus aus Rot hier, Grün dort und umgekehrt, der wird in kürzerer Zeit durchlaufen. Das Gute: So erhält man auch zu Fuß rascher wieder Grün.
? Wird nicht mit raschem Rot-Grün-Wechseln alles noch hektischer?
! Gerade in Berlin haben doch viele, die an der Ampel stehen, ohnehin Hummeln im Hintern. Kurze Wartezeiten würden sie oft viel besser ertragen, ist meine These. Und wenn man, wie vorhin erklärt, mit einem speziellen Signal zeigt, dass noch Zeit zum Überqueren ist, dann wird vielleicht nicht nur die Grünzeit als Zeit für eine sichere Querung wahrgenommen. Wichtig ist, dass die Menschen die Gewissheit haben, es auch in mäßigem Tempo noch gut auf die andere Seite zu schaffen. Man könnte bei relativ kurzem Grün zum Beispiel auch die Schutzzeit noch verlängern. So werden nach meiner Einschätzung durchaus die Ziele erreicht, die mit dem Mobilitätsgesetz verfolgt werden sollen, jedoch angepasst an die maßgeblichen bundesweiten Bedingungen und eben mit einer Berliner Ausprägung.
? Ich dachte beim Thema Hektik jetzt eher an die Schwächeren, bei denen nicht Eile das Wichtigste ist, sondern Sicherheit und leidliche Ruhe.
! Mehr Sicherheit für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen würde bedeuten, dass sie nach Möglichkeit nur beim Beginn der Grünzeit losgehen sollten, selbst bei großzügig bemessener Schutzzeit. Auch in diesem Sinne wäre es hilfreich, wenn es zwar kürzer, aber dafür häufiger Grün wird. Denn damit besteht schlicht häufiger die Möglichkeit, am Beginn der Grünphase zu starten.
? Diesen Leuten muss man also nicht nur beibringen: Rot nach fünf Sekunden heißt Weitergehen. Sondern auch: Kommt Ihr zum Bordstein und ist schon ein paar Sekunden Grün, heißt das: besser nicht gehen. Verwirrt das nicht noch mehr?
! Ich sehe immer wieder Leute, die das so praktizieren.
? Sehr ärgerlich ist es, bei Grün nur bis zur Mittelinsel zu kommen. Im Extremfall wartet man an einer Kreuzung viermal auf Grün. Berlins Mobilitätsgesetz sieht jetzt vor, das Queren in einem Zug zum Standard zu machen.
! Richtig, das Queren in einem Zug ist natürlich ein gutes Ziel - allerdings muss man dazu sagen, dass die Umsetzung nicht ganz leicht ist. Aus mehreren Gründen: Bei sehr breiten Straßen, wie es sie in Berlin nicht selten gibt, stößt man hier an Grenzen und wird ein sehr langes Grün nicht immer schalten können – sonst warten andere, auch der Fußverkehr, in der Querrichtung noch länger. Wie schon erwähnt, kann ein Zwischenhalt auf einer Mittelinsel zudem meist nur bei einem Start am Beginn der Grünphase vermieden werden. Bei vorhandenen Anforderungstastern sollten diese betätigt werden, weil die Anlage in vielen Fällen dann in diese Richtung ein „Durchlaufgrün“ schaltet. Überhaupt eröffnet uns eine verkehrsabhängige Steuerung auch beim Fußverkehr bessere Möglichkeiten für komfortablere Schaltungen. Gleichwohl gibt es eine Konkurrenz mit dem Fahrverkehr, zu dem ja auch Rad- und ÖPNV gehören. Vorrangschaltungen für Bus oder Tram können mitunter die Querungsbedingungen für den Fußverkehr verschlechtern. Bei sehr breiten Mittelstreifen kostet ein „Durchlaufgrün“ zudem sehr viel Zeit, so dass die Umlaufzeiten unter Umständen stark erhöht werden müssten. Weil auf breiten Mittelinseln zugleich das Warten als weniger unangenehm empfunden wird, dürften an solchen Stellen weiterhin Kompromisse nötig sein.
? Wie soll eine verkehrsabhängige Steuerung funktionieren – mit Induktionsschleifen wie unter der Fahrbahn?
! Solche Schleifen funktionieren beim Fußverkehr nicht. Radar und Wärmedetektoren haben wir gerade in der Erprobung. Aber alle Systeme haben Grenzen, und das liegt am schon erwähnten gesunden Chaos im Fußverkehr. Geht jemand auf eine Ampel zu, ist oft nicht klar: Will er rüber, will er zur Haltestelle nebenan oder biegt er kurz vorher doch noch ab? Detektoren brauchen eher größere Fußgängerströme mit einer klaren Richtung.
? Und wenn es die nicht gibt?
! In manchen Fällen ist tatsächlich der Anforderungsknopf noch immer die beste Lösung, eventuell auch nur als Rückfallebene, wenn eine andere Erkennung scheitert. Natürlich muss es dann Grün in angemessen kurzer Zeit geben.
? Ein chronisches Sicherheitsproblem an Ampeln sind die die sogenannten bedingt verträglichen Schaltungen, im Klartext: Während man zu Fuß Grün hat, haben Abbieger das auch und fahren auf die Fußgänger zu. Kann und muss man das nicht entzerren, indem entweder nur Gehende oder nur Fahrende Grün haben?
! Das funktioniert vor allem an sehr großflächigen Knoten mit viel LKW-Verkehr und dort, wo bei großen Kurvenradien schnell abgebogen werden kann. Auch wenn Abbieger ohnehin warten müssen, bis zum Beispiel eine lange Kette von Radfahrenden durch ist, können sie das auch bei Rot statt bei Grün. Aber es bleiben viele Kreuzungen, die räumlich limitiert sind, wo es keinen Platz für einen Rechtsabbiegestreifen gibt. Problem: Bei getrennter Signalisierung warten letztlich alle länger, auch Fußgängerinnen und Fußgänger. Und wenn das an einer wenig befahrenen Kreuzung geschieht, wo lange Zeit niemand um die Ecke kommt, dann sinkt die Bereitschaft, bei Rot stehen zu bleiben, rapide.
? Muss man mit dem Abbiege-Risiko leben?
! An allen Kreuzungen ohne Ampeln muss man das ja ohnehin. Das Risiko sollte vermindert werden– mit der neu eingeführten Pflicht zum Schritttempo für große Fahrzeuge wurde das Richtige entschieden. Auch Assistenzsysteme können eine Unterstützung bieten. Aber das Wichtigste bleibt die Aufmerksamkeit im Verkehr: Es muss allen Fahrerinnen und Fahrern von Kraftfahrzeugen bewusst sein, dass das Abbiegen immer ein Hochrisikovorgang ist. Wenn ein Teil der Kreuzungen signaltechnisch abgesichert ist, macht das manche vielleicht auch sorglos. Die Erfahrungen aus Städten mit wenigen Unfällen, zum Beispiel Kopenhagen, sprechen für sich: Da sind fast alle Knoten einfach gestaltet und geschaltet – nämlich ohne getrennte Signalisierung. Das vermittelt stets die Botschaft: Egal, wo du abbiegst – pass immer auf! Das ist eine Grunderkenntnis der Verkehrssicherheit: Verkehrsteilnehmende sollten nicht das Gefühl entwickeln, dass sie an jeder heiklen Stelle abgesichert werden. Nein, umgekehrt: Jeder muss immer gucken.
? Also vergessen wir besser komplett den Merksatz „Bei Grün kannst du gehen“?
! Das würde ich sicherheitshalber erweitern: „Bei Grün kannst du gehen, wenn die Autos stehen.“
? Wälzt das nicht die Pflicht, die Fahrer mit Führerscheinen haben, auf Leute ab, die kaum Überblick haben können – viele Alte, Kinder, Sehbehinderte zum Beispiel?
! Es gibt eine besondere Sorgfaltspflicht für Kraftfahrer, weil von ihnen eine besonders große Gefahr ausgeht. Es ändert sich auch nichts an der Schuld oder Vorwerfbarkeit bei Verstößen. Weil aber alle Menschen Fehler machen können, schadet eigene Vorsicht nicht.
? Und Ihr Beitrag? Sind nicht Sie zum Schaffen einer Infrastruktur verpflichtet, die Fehler verzeiht?
! Es trifft mich mitunter persönlich, wenn auf Mahnwachen für Verkehrstote gesagt wird: Die Infrastruktur ist schuld, die Verantwortlichen tun nichts. Denn das stimmt einfach nicht: Es wird schon viel getan, und ich setze mich persönlich für diese Veränderungen ein. Trotzdem gilt es – und das wird ja hier auch an vielen Punkten deutlich – zahlreiche Faktoren zu berücksichtigen. Selbst wenn man eine möglicherweise ideale Infrastruktur gefunden hätte, lassen sich nicht Straßen von heute auf morgen umbauen, die in vielen Jahrzehnten nach anderen Maßstäben geschaffen wurden. Und auch dann ließe sich nicht jedes Fehlverhalten abfedern. Wie soll ich mit Infrastruktur verhindern, dass jemand bei Rot über die Ampel fährt?
? Manches ließe sich rasch machen. Es gibt in Berlin zum Beispiel Straßen mit zwei Rechtsabbiegespuren. Da biegt dann die eine ab, sieht jemanden zu Fuß queren und hält. Die andere sieht ihn nicht fährt ihn an. Darum sind die zwei Abbiegespuren nach der RiLSA schlicht verboten.
! Richtig, das gibt es leider noch, und es sind kritische Ecken darunter. Wir haben jetzt alle systematisch identifiziert und werden das stringent entschärfen.
? Nach der amtlichen Unfallstatistik hatten zwei Drittel der Menschen zu Fuß, die an Ampeln angefahren werden, Grün und verhielten sich korrekt. Zeigt das nicht, dass Ampeln grundsätzlich unsicher sind – gerade auch, weil sie eine nicht bestehende Sicherheit suggerieren?
! Wir sind damit wieder bei der Frage, wo Infrastruktur an ihre Grenzen stößt. An Ampeln ist bei vielen Verkehrsteilnehmenden das Vertrauen in die Technik stark ausgeprägt, das kann auch ein Problem sein. An großen Knoten und Hauptverkehrsstraßen geht es dennoch nicht ohne Ampeln. Anderswo aber oft doch: Wo immer möglich, plädiere ich für Fußgängerüberwege, also „Zebrastreifen“. Sie sind ein hervorragendes Instrument – es gibt keine Wartezeiten, sie sind sehr flexibel einsetzbar und können auch gut über eine Straße verteilt werden. Nicht zuletzt erhöhen sie die Aufmerksamkeit aller Verkehrsteilnehmer – die wichtigste Voraussetzung für mehr Sicherheit. Hier muss ich nochmals den Hinweis unterbringen, dass sich Zufußgehende stets überzeugen sollten, dass der Fahrverkehr ihren Vorrang auch wirklich beachtet und anhält. Dass natürlich die Pflicht zur Vorsicht und zum Anhalten gleichwohl beim Fahrverkehr liegt, ist aber auch ganz klar.
? Wo es weiter Ampeln gibt, kann Rundum-Grün gleich zwei Probleme lösen. Es gibt keine roten Fußgänger-Wellen mehr, es drohen keine Konflikte mit Abbiegern und man kurze diagonale Wege.
! Das klingt zunächst gut. Aber ich habe mal in der Friedrichstraße in der Nähe von Berlins einziger Anlage gearbeitet, die nach diesem Prinzip funktioniert. Ich war dort sehr häufig: Als Fußgänger hat mich immer gestört, dass ich länger warten musste. Die diagonale Querung, die auf diese Weise möglich wird, ist der seltenste Anwendungsfall – aber für die vielen, die einfach nur über eine Fahrbahn wollen, dauert es länger. Es mag seinen Charme haben. Aber meistens dürfte eine Anlage mit kurzem Umlauf besser sein, weil die Wartezeit für den Großteil der Menschen geringer ist.
? Und die Konfliktfreiheit?
! Besteht vor allem in der Theorie. Ich habe selten so viele Leute wie an dieser Rundum-Grün-Kreuzung gesehen, die bei Rot gehen. Wegen der langen Wartezeit werden sie ungeduldig und denken offenbar: Wenn die Fahrzeuge quer zu mir halten und die parallelen Fahrzeuge starten können – warum dann nicht ich? Und schon gibt es einen Rechtsabbiegerkonflikt.
? Und kurze Wartezeiten sind nicht möglich?
! Nur mit starken Fahrzeug-Rückstaus, womöglich bis in die nächsten Ampelfurten hinein. Das betrifft dann auch ÖPNV und Radverkehr. Fuß- und Radverkehr würde ich bei einen „Rund-um-Grün“ nämlich keinesfalls mischen wollen. Auch das passiert übrigens verbotenerweise an der Friedrichstraße.
? Zum nächsten Mangel: den vielen Kreuzungen, die nur an drei Seiten Ampeln haben, an der vierten nicht. Da soll man dann dreimal bei Rot warten, um über eine Fahrbahn zu kommen. Ich habe es bei mir um die Ecke ausgemessen: Für 15 Meter braucht man bis zu zweieinhalb Minuten.
! Wo ein Querungsbedürfnis angenommen werden kann, wird so etwas nicht mehr geplant. Und wo im Bestand eine Ampelanlage angefasst wird, ändern wir das nach Möglichkeit. Es gibt aber Knoten, die dafür aufwendig umgebaut werden müssten. Da sehe ich in vielen Fällen keine kurzfristige Chance für Anpassungen.
? Ein chronisches Ärgernis für uns sind Blech-Grünpfeile. Ihre Folge: Andere haben Rot und fahren. Wir haben Grün, sind gefährdet und kommen oft nicht rüber.
! Beim Kfz-Verkehr halte ich Grünpfeile nicht für sinnvoll. Wir sollten die Grundregel der Ampel nicht aufweichen: Rot heißt Rot. Solche Pfeile soll es in Berlin künftig nur noch dort geben, wo gar kein Fußverkehr stattfindet – also an Autobahnausfahrten oder in Gewerbegebieten zum Beispiel. Beim Radverkehr kann ich mir in Einzelfällen positive Effekte vorstellen, aber nicht en gros. Man muss den Grünpfeil sehr vorsichtig einsetzen – am besten nur da, wo es ohnehin wenig Fußverkehr gibt.
? Wenn es Grünpfeile für Fahrende gibt, warum nicht auch für Gehende, wo die Situation übersichtlich ist?
! Da sehe ich wenig Anwendungsmöglichkeiten: Rot sollte auch hier Rot bleiben. Beim „Abbiegen nach rechts“ muss sich der Fußverkehr ja auch nicht mit Ampeln auseinandersetzen, wenn die Straßenseite nicht gewechselt wird.
? Zuletzt zur Ampel, die nicht den Fahrzeug-Fluss optimieren, sondern ihn begrenzen soll: der Pförtnerampeln, die nur so viele durchlässt, wie für den Raum dahinter verträglich sind.
! Wo mehrere Knoten aufeinander abgestimmt werden, ist eine Pförtnerfunktion Teil der verkehrstechnischen Betrachtung. Aber man muss dann immer auch die Überstauung des Nachbarknotens verhindern. Insgesamt ist eine Mengenregulierung durch Pförtnern leichter gesagt als getan. Denn wo konsequent gepförtnert wird, muss an mindestens einer Stelle der Stau in Kauf genommen werden. Doch wo soll das sein? Irgendwo in der Stadt oder besser am Stadtrand, so dass es den Vorort trifft? Zudem gibt es nicht überall Raum für Bussonderstreifen oder eigene Tramtrassen, um die Pförtnerung zu umgehen. Da steht dann eben auch der ÖPNV im Stau. Und schließlich kommen nicht alle stets aus der gewünschten Richtung, sondern auch aus Querstraßen, oft ohne Ampeln. Denn wenn an einer Stelle gepförtnert wird, sucht sich der Verkehr andere Wege.
? Die Katze beißt sich in den Schwanz: Weil man nicht pförtnert, fahren da so viele. Und weil so viele fahren, kann man nicht pförtnern.
! So ist es: Ohne eine deutliche Reduzierung der Kfz-Menge wird das alles nichts. Das funktioniert aber – besser als durch Ampeln – über eine angemessene und sachlich begründete Aufteilung des Verkehrsraums. Wer mit einem Kfz fährt, sollte erkennen: Da ist jetzt ein Bussonderstreifen, da ist ein Radfahrstreifen – und auf beiden kommen deutlich mehr Menschen schneller voran. Eine Ampelschaltung muss ich gar nicht ändern, wenn man im Bus oder auf dem Rad mehrere Phasen früher durchkommt als im Auto. Daher ist eine gerechte Verkehrsraumaufteilung wichtig.
Dieser Artikel von Roland Stimpel ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2022, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.