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Die Verkehrsentwicklung hat seit je her die Stadt geformt, ebenso wie Stadtentwicklung bestimmte Formen von Verkehr erzwungen oder ausgeschlossen hat. Vielerorts bestimmen Verkehrsinfrastrukturen heute die Städte und prägen die Gestalt der gebauten Umwelt. Diese Abhängigkeiten verlaufen zumeist zum Nachteil der Stadt und ihrer urbanen Qualitäten. Urbanität und Funktionalität gehen durch Verkehrsinfrastruktur vielerorts verloren.

Stadt & Verkehr

Die gegenwärtigen Verkehrsinfrastrukturen deutscher Städte sind fast gänzlich an die Bedürfnisse des motorisierten Individualverkehrs (MIV) angepasst: mehrspurige Straßen zerschneiden das Stadtgefüge, großzügig dimensionierte Parkplätze und zugestellte Straßen prägen den Stadtraum. Negative Auswirkungen für Mensch und Umwelt, Zweckentfremdung öffentlicher Räume und die Abhängigkeit von einem einzigen Verkehrsträger sind nur einige der negativen Folgeerscheinungen.

In den Vordergrund rückt die Frage, welche Parameter sich ändern müssen, um städtische Qualitäten und vielfältige Mobilitätsoptionen vereinen zu können?

Forschungsvorhaben „Neue Mobilität für die Stadt der Zukunft“

Das Institut für Stadtplanung & Städtebau beschäftigt sich an der Universität Duisburg-Essen im Rahmen des Forschungsvorhabens „Neue Mobilität für die Stadt der Zukunft“, das von der Stiftung Mercator gefördert wird, mit integrierten Ansätzen zu den Wechselwirkungen von Stadt und Verkehr und stellt dabei methodisch und konzeptionell Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen beiden Systemen dar.

Ausgehend von der These, dass das individuelle Mobilitätsverhalten abhängig von Lebensstilen und persönlichen Präferenzen sowie der gebauten Umgebung und vorhandener Verkehrsangebote ist, verfolgt das Projekt eine interdisziplinäre Sichtweise, indem die drei Bereiche Mobilität, Stadt und Lebensstile in Beziehung zueinander gesetzt werden. Ziel des Projektes ist es zu untersuchen, ob unterschiedliche Verkehrsträger in den einzelnen Lebensstilgruppen etabliert werden können, wie eine mögliche Vernetzung unterschiedlicher Verkehrsträger erfolgen kann und welche Potenziale sich dadurch für die Gestaltung des Stadtraums ergeben.

Für das Forschungsfeld Mobilität werden für den Untersuchungsraum Essen Verkehrssimulationen mit den thematischen Schwerpunkten ÖPNV, Elektroautos, Radverkehr und zu Fuß gehen durchgeführt. Hierdurch können Stadtbereiche identifiziert werden, die ein hohes Substitutionspotenzial von MIV-Wegen durch alternative Verkehrsträger aufweisen.

Das Forschungsfeld Lebensstile wird anhand einer repräsentativen Haushaltsbefragung nach dem Stated-Preferences-Ansatz untersucht. Um zu überprüfen, unter welchen Umständen die Befragten ihr Mobilitätsverhalten ändern würden, wird das potenzielle künftige Verkehrsverhalten von Personen erhoben. Die Ergebnisse zeigen, dass bei den unterschiedlichen Lebensstiltypen ein differenziertes Mobilitätsverhalten vorherrscht und auch die Bereitschaft, dieses zu ändern, stark variiert. Die Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass unterschiedliche Lebensstile, aber auch unterschiedliche Stadträume individuell adressiert werden müssen, um Mobilität und Verkehr nachhaltig verändern zu können.

Das Forschungsfeld Stadtentwicklung betrachtet die raumstrukturellen Gegebenheiten im Untersuchungsraum Essen. Diese sind von großer Bedeutung, nicht zuletzt weil vorhandene Potenziale und Missstände erkannt werden müssen und darauf aufbauend bedarfsgerecht geplant werden muss. Aspekte wie Einwohnerdichte oder stadtklimatische Lasträume werden dabei ebenso betrachtet wie strukturelle Fördergebiete (Städtebauförderung) oder Erreichbarkeiten des ÖPNV. Durch die Analyse verschiedener städtischer Schichten können Bereiche mit besonders hohen Handlungsbedarfen identifiziert werden, welche sich jedoch nicht ausschließlich auf Mobilitätsaspekte beziehen.

Auf Basis der unterschiedlichen stadtstrukturellen Gegebenheiten wurde ein System zur Klassifizierung von Stadträumen erarbeitet, welches sich in der Stadtraumtypologie für die Stadt Essen darstellt. Dieses System erlaubt es, die Stadt in unterschiedliche Bereiche zu unterteilen, die jeweils bestimmte strukturelle Charakteristika aufweisen.

Differenzierte Maßnahmen für unterschiedliche Stadträume

Die Mobilitätssimulationen, stadtstrukturellen Evaluationen und Befunde der Haushaltsbefragung machen deutlich, dass für die Formulierung von Maßnahmen räumlich differenzierte Strategien für die Stadt notwendig sind. Um diesem Erfordernis gerecht zu werden, wurde das System der vier Stadtraumtypen entwickelt.

  • Stadtraumtyp 1:Kern- und Altstadtbereiche
  • Stadtraumtyp 2:Innerstädtische Gründerzeitquartiere
  • Stadtraumtyp 3: Stadterweiterungsgebiete
  • Stadtraumtyp 4: Suburbane Bereiche

Diese vier übergeordneten Typologien lassen sich jeweils weiter ausdifferenzieren, so dass insgesamt neun Stadtraumtypen in der Stadt Essen identifiziert werden können. Mit dieser Vorgehensweise lässt sich an vier Vertiefungsbereichen im Stadtgebiet Essen untersuchen, wie die Zukunft der Mobilität auf Quartiersebene entworfen werden kann. Zum jetzigen Projektstand lassen sich bereits folgende Aussagen treffen.

Stadtraumtyp 1: Kern- & Altstadtbereiche

Der Stadtraum ist in diesem Bereich in Bezug auf Typologie und Gebäudealter sehr heterogen und weist eine hohe Dichte auf. Der Straßenraum ist autogerecht gestaltet und in seiner Dimensionierung sehr dominant. Die öffentlichen Verkehrsräume sind für die Abwicklung einer hohen Frequenz an MIV optimiert und Grundlage für die hohen Verkehrsbelastungen an der Ringstraße. Vorhandene Anschlüsse an das Hauptwegenetz des Radverkehrs in Nord-Süd und Ost-West Ausrichtung bieten Möglichkeiten, den Anteil des Radverkehrs zu erhöhen und perspektivisch den Anteil des MIV am Gesamtverkehr zurückzudrängen.

Die Lebensstile sind sehr gemischt und kein Milieu zeigt sich als besonders dominant. Trotzdem gibt es eine klare Befürwortung des ÖPNV und von Sharing-Systemen (Fahrrad und Automobil). Die Pendelwege der Innenstadtmilieus sind vergleichsweise kurz.

Die Ergebnisse der Verkehrssimulationen bestätigen dies und weisen für das Areal hohe Potenziale für die Substitution von MIV-Wegen durch intermodale Wegeketten mit dem Fahrrad und dem ÖPNV auf. Auch das Teilen von Elektroautos besitzt vor allem in Richtung der innerstädtischen Bereiche hohe verkehrliche Potenziale, während den Elektroautos im Privatbesitz keine hohen Substitutionspotenziale beigemessen werden können. Die Ansätze zur Intervention lauten daher:

  • Reduzierung der Infrastruktur für den MIV und Schaffung qualitätsvoller öffentlicher Räume
  • Schaffung neuer Flächen für Rad- und Fußverkehr
  • Förderung von Sharing-Angeboten für E-Autos und (E-)-Fahrräder
  • Schaffung von nutzergerechten Umstiegsmöglichkeiten zwischen ÖPNV, Fahrrädern und Carsharing
  • Bereitstellung von Auflademöglichkeiten für Elektrofahrräder an den Umstiegspunkten

Stadtraumtyp 2: Innerstädtische Gründerzeitquartiere

Der Stadtraum weist hier eine homogene Struktur auf. Das Gebäudealter variiert stark. Die städtebauliche Dichte ist auch hier hoch. Der Straßenraum zeigt sich nur teilweise autogerecht, allerdings ist ein hoher Parkdruck für diesen Stadtraum kennzeichnend. Die Erreichbarkeit von Haltestellen des ÖPNV ist ausgezeichnet.

Die Lebensstile sind sehr gemischt, jedoch zeigt sich ein leichtes Übergewicht von modernen Lebensstiltypen und Personen mittleren Alters, die in besonderem Maße Sharing-Angebote befürworten. Ebenso wird von dieser Gruppe der Radverkehr besonders positiv bewertet. Der Stadtraum ist gekennzeichnet durch eine Konzentration unterschiedlicher Verkehrsträger. Die Ergebnisse der Verkehrssimulationen weisen bis auf den ÖPNV und Elektroautos im Privatbesitz weitere Substitutionspotenziale auf. Besonders gilt dies für Fußgänger und den Radverkehr. Auch durch Carsharing-Angebote kann in diesem Bereich noch ein beträchtlicher Anteil an Wegen, die sonst mit dem MIV durchgeführt werden, ersetzt werden. Die Ansätze zur Intervention lauten daher:

  • Förderung fußgänger- und fahrradfreundlicher Strukturen
  • Verkehrsberuhigung und Reorganisation des ruhenden Verkehrs
  • Einrichtung multimodaler Mobilitätsstation mit Sharing-Angeboten

Stadtraumtyp 3: Stadterweiterungsbereiche

Der Stadtraum rund um das Areal des Bahnhofs Altenessen ist gekennzeichnet durch eine mittlere Dichte in Form von Mehrfamilienhäusern und Zeilenbebauung in Stadtrandlage. Prägend für diesen Stadtraum sind die Trassen mit Anschluss an den Nah- und Regionalverkehr, die stadträumlich zäsierend wirken. Die vorhandenen Straßenräume werden vom MIV dominiert.

Die Lebensstiltypen in diesem Bereich sind stark gemischt, weisen jedoch einen höheren Anteil an Personen mit mittlerem und geringem Ausstattungsniveau sowie mittlerer Modernität auf. Die Bereitschaft neue Sharing-Angebote zu nutzen, liegt im Durchschnitt. Die Bereitschaft Elektromobilität zu nutzen ist hoch. Der PKW-Besitz liegt deutlich unter dem Durchschnitt, der Anteil an Personen aus jüngeren Altersgruppen ist vergleichsweise hoch.

Während dieser Stadtraum für den Fußverkehr geringe Potenziale aufweist, steht besonders das Elektrofahrrad im Vordergrund. Nahezu alle durchgeführten Wege könnten mit dem Elektrofahrrad zurückgelegt werden. Im Fokus steht wieder die Vernetzung des Fahrrads mit Verkehrsträgern des ÖPNV. Die Ansätze zur Intervention lauten daher:

  • Vervollständigung und Ausbau des Fahrradwegenetzes
  • Je nach Situation städtebauliche Neuordnung
  • Installation von Fahrradabstellanlagen mit Aufladefunktionen
  • Park & Charge für E-Autos

Stadtraumtyp 4: Suburbane Bereiche

Der Stadtraum ist in besonderem Maße vom historischen Ortskern mit großem Anteil an Mehrfamilienhäusern und dem Übergang in die weniger dichten Bereiche mit Ein- und Zweifamilienhäusern geprägt. Die Erschließung durch den ÖPNV ist durch Busverbindungen gegeben und auch ein S-Bahn-Anschluss außerhalb des Kerns ist erreichbar. Die hohen Verkehrsbelastungen auf der Hauptverkehrsstraße führen zu starken Lärm- und Schadstoffemissionen. Die Lebensstile zeichnen sich hier durch eine hohe Affinität zum MIV aus und legen vergleichsweise lange Pendelstrecken zurück. Gerade in den suburbanen Bereichen sind größere Anteile derjenigen Lebensstile auszumachen, die den Besitz eines eigenen PKW bevorzugen. Die Ergebnisse der Verkehrssimulationen differieren hier je nach räumlicher Konfiguration stark. In den etwas dichteren Bereichen des historischen Ortskerns bestehen für den Fuß- und Radverkehr erhebliche Potenziale, wohingegen die äußeren Bereiche keine aufweisen. Zusätzlich kann für Fahrten mit dem E-Fahrrad, insbesondere auch in Verknüpfung mit dem ÖPNV, weiteres Potenzial identifiziert werden. Im Individualverkehr dominiert in den weniger dichten Bereichen der private MIV. Die Ansätze zur Intervention lauten daher:

  • Reduzierung des Verkehrsraums für den MIV
  • Einrichtung einer separaten Fahrspur für Elektroautos und den ÖPNV
  • Förderung des Fuß- und Radverkehrs im Ortskern

Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse

Ein Ziel des Forschungsprojektes ist es, die Ergebnisse aus den untersuchten Interventionsbereichen auf vergleichbare Räume übertragbar zu machen. Vor allem in Städten innerhalb des Ruhrgebietes sind stadtstrukturelle – auch durch ihre historische Entwicklung – Gemeinsamkeiten festzustellen. Die erarbeiteten Ergebnisse könnten somit auch anderen Städten im Ruhrgebiet als Guideline im Umgang mit zukünftigen Fragestellungen zur Entwicklung von Stadt und Mobilität dienen.

Ausblick

Stadträume benötigen Strategien und Maßnahmen, die auf ihre Beschaffenheit, ihre Bewohner und die jeweilige Verkehrsinfrastruktur angepasst sind, damit diese erfolgreich wirken und auf Akzeptanz stoßen. Hierfür ist eine integrierte Herangehensweise notwendig.

Zudem müssen psychologische Barrieren bei der Planung und Realisierung von Mobilitätskonzepten und Verkehrsinfrastruktur abgebaut und währenden der Ausbildungen an den Hochschulen thematisiert werden. Verkehrsplaner müssen neben technischen Aspekten ebenso Wert und Funktion öffentlicher Räume wahrnehmen. Ebenso müssen Architekten und Stadtplaner die relevante Komponente von lebensstilabhängigen Mobilitätsaffinitäten berücksichtigen und in Stadtentwicklungskonzepte einbinden.

Eine große Bedeutung hat in Zukunft die Vernetzung verschiedener Mobilitätsangebote und die Schaffung eines attraktiven intermodalen Verkehrssystems. Diese Grundlage für die Entstehung eines entsprechenden Mobilitätsverhaltens der Verkehrsteilnehmer kann dazu beitragen, attraktive Alternativen zum MIV zu schaffen und somit die Verkehrsbelastungen zu senken, gleichzeitig aber auch den öffentlichen Raum aufzuwerten.

In Kürze

Ansätze zur urbanen Mobilität der Zukunft sind zahlreich, doch oft schwer umsetzbar. Durch eine integrierte Betrachtungsweise von Stadtstrukturen, Verkehrsinfrastrukturen und individuellen Mobilitätspräferenzen, können differenzierte Maßnahmen für die heterogenen Stadtbereiche entwickelt werden.

Literatur:

Bläser, Daniel; Jansen, Hendrik; Wehmeyer, Hanna (2012): Urbane Mobilität der Zukunft - Vernetzt. Intelligent. Sozialverträglich. In: RaumPlanung 165/6-2012. Informationskreis für Raumplanung IfR e.V. Dortmund

Holzapfel, Helmut (2011): Urbanismus und Verkehr. Bausteine für Architekten, Stadt- und Verkehrsplaner. Wiesbaden

Kulturwissenschaftliches Institut Essen (2012): Repräsentative Befragung der Essener Bürger zum Mobilitätsverhalten. Ergebnisbericht, Essen

Transportation & Research Consulting (2013): unveröffentlichter Zwischenbericht „Neue Mobilität für die Stadt der Zukunft“, Essen

Facts & Figures:

Forschungsprojekt: Neue Mobilität für die Stadt der Zukunft Förderer: Stiftung Mercator, Essen Laufzeit: Januar 2012 – Juli 2013 Projektpartner: Institut für Stadtplanung & Städtebau, Transportation Research & Consulting GmbH, Kulturwissenschaftliches Institut Essen

Dieser Artikel von Hendrik Jansen, Hanna Wehmeyer und Jan Garde ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2013, erschienen. 

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