In der Stadt Halle wurde mit einem breiten Fächer neuerer Forschungsansätze der Fußgängerverkehr untersucht. Dabei zeigen sich deutlich die Grenzen und Gefahren simpler Abfragen aus der Markt- und Meinungsforschung.
mobilogisch!-Leser wissen es längst; wir haben uns in letzter Zeit öfter mit der Stadt Halle befasst. Dabei ging es um die Wirkungen einer Kampagne, über die wir diesmal aber nicht reden wollen. Stattdessen wollen wir einige Anregungen aus der Leserschaft aufgreifen und uns dem Gehen widmen.
„Zu-Fuß“ ist das einzige Verkehrsmittel, das wir alle und immer nutzen. Das wird in der Planung und in der Forschung häufig unterschätzt. Deshalb kommt es uns (von Socialdata) entgegen, dass es in Halle (wie auch in anderen deutschen Städten) seit vielen Jahren Untersuchungen gibt, die sich kontinuierlich und sehr detailliert mit dem Mobilitätsgeschehen in der Stadt befassen und dabei auch den nichtmotorisierten Verkehr nicht aussparen.
Neben den (Socialdata-) Klassikern „Mobilität“, „Awareness“, „Potentiale (Situationsansatz)“ kommen hier auch Verfahren zum Einsatz, die die Zufriedenheit mit verschiedenen Verkehrsmitteln (und den dafür geschaffenen Einrichtungen) messen, wie auch die damit verbundenen Erwartungen und Erfahrungen. Dies liegt daran, dass diese Untersuchungen von den jeweiligen lokalen Verkehrsbetrieben beauftragt werden und sich auch mit der sogenannten „Kundenzufriedenheit“ befassen.
Die Idee dazu entstand in den neunziger Jahren als die Verkehrsbetriebe sich dem Druck, mehr Kundenorientierung zu zeigen, nicht mehr widersetzen konnten. Als Folge versuchte man u. a. Verfahren zur Kundenzufriedenheitsmessung aus dem Konsumgüterbereich zu übernehmen und mehr oder weniger eins zu eins im Bereich des öffentlichen Verkehrs anzuwenden. Dieser Versuch ging – aus der Sicht einiger Verkehrsbetriebe – gründlich schief und sie bildeten mit uns einen Arbeitskreis, um Verfahren zu entwickeln die den Bedingungen der Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln tatsächlich angepasst waren. Als dies gelang, haben wir dann diese Verfahren so modifiziert, dass man sie auch mit gutem Gewissen für die Verkehrsmittel zu Fuß und Fahrrad nutzen konnte.
Es gibt für viele ostdeutsche Städte lange Zeitreihen zur Verkehrsmittelwahl. Dies liegt daran, dass die TU Dresden bereits 1972 in ausgewählten Städten die Mobilität erhoben (SrV = System repräsentativer Verkehrerhebungen) und diese Erhebungen bis 1987 im Fünfjahresrhythmus wiederholt hat. Ab 1990 hat dann Socialdata in vielen Städten diese Zeitreihe fortgesetzt (seit etwa 2000 jährlich) und die Ergebnisse vor der Wende methodologisch so angepasst, dass sie vergleichbar mit den heutigen sind.
Noch 1987 wurde in Halle fast die Hälfte aller Wege (47 %) mit nichtmotorisierten Verkehrsmitteln zurückgelegt, 1972 sogar nur zu Fuß. Anders als in vielen ostdeutschen Städten wurde der hohe Anteil an Fuß bzw. nichtmotorisierten Wegen über die Wende „gerettet“, um dann aber bis 1995 doch noch auf 26 % abzusinken. Allerdings hat sich dann die Verkehrsmittelwahl in Halle bis heute kaum mehr verändert. Dies gibt der Stadt Halle eine gewisse Sonderstellung in Ost-Deutschland und hat wohl auch damit zu tun, dass dort eben regelmäßig alle Facetten der Mobilität untersucht und – vor allem! – die Ergebnisse nicht abgelegt, sondern fachgerecht umgesetzt werden.
Wenn man sich mit der Frage befasst, ob und wie es möglich wäre, den Anteil der Fußgänger in Halle wieder zu erhöhen, kann man die jährlich durchgeführten Potentialanalysen nutzen. Wir bilden dabei immer einen „Block“ aus zu Fuß und Fahrrad, d. h. wir untersuchen nicht die Potentiale für Fahrradfahrer, die auch zu Fuß gehen könnten (und umgekehrt).
Von den 62 % Wegen und Fahrten, die weder zu Fuß noch mit dem Fahrrad unternommen werden, haben ein knappes Drittel (20 % aller Wege) einen Sachzwang, der in diesem Fall die Benutzung der eigenen Füße verhindert (z. B. drei schwere Koffer, Oma muss ins Krankenhaus gebracht werden etc.). Bei einem Drittel aller Wege ist Gehen keine wirkliche Alternative. Hier muss allerdings angemerkt werden, dass wir uns aus untersuchungstechnischen Gründen einer Vereinfachung bedienen mussten: „Objektive-Wahl“ konnte nur über die Entfernung definiert werden. Dabei wurde die doppelte durchschnittliche Fußwege-Entfernung als (künstliche) Grenze gesetzt. Das sind in Halle 2,2 km (und es gibt selbstverständlich Menschen, bei denen auch bei einer größeren Entfernung das Gehen noch eine reale Alternative darstellt. Die tatsächlichen Potentiale sind demnach größer als hier gezeigt). Aber auch so verbleiben 9 % aller Wege, bei denen ausschließlich ein subjektiver Grund (vor allem die Überschätzung der tatsächlichen Wegedauer) die Nutzung der eigenen Füße verhindert. Könnte man also nur die subjektiven Hinderungsgründe ausräumen, wäre der Fußgänger-Anteil von Halle wieder auf dem Stand von Anfang 1990.
Ein subjektiver Grund ist besonders interessant: Es gibt natürlich Wege, bei denen die Menschen keinen Sachzwang und die „objektive“ und „subjektive“ Wahl haben. Sie könnten also beispielsweise genauso gut zu Fuß gehen oder mit dem Auto fahren. Das nennen wir „wahlfrei“. Aber die Menschen müssen dennoch von den beiden Verkehrsmitteln, die sie gleichermaßen nutzen könnten, eines wählen. Interessant dabei ist, wie hoch der Anteil der Wahlfreien überhaupt ist und wie groß der Anteil derer ist, die sich dann für ein jeweiliges Verkehrsmittel entscheiden:
Wir sehen in Halle ein typisches Bild für „Zu Fuß“ und ein partiell typisches Bild für „Fahrrad“. Insgesamt jeder neunte Weg der Hallenser (11 %) ist wahlfrei gegenüber zu Fuß. Einmal vor dieser Wahl entscheidet sich die große Mehrheit (9 von 11 % = vier Fünftel) für die eigenen Füße. Vergleichbare Relationen finden wir überall (nicht nur in Deutschland und nicht nur in Europa). Dagegen sind nur 6 % aller Wege wahlfrei gegenüber dem Fahrrad. Das ist ungewöhnlich niedrig (sogar in Ländern mit Fahrrad-Anteilen im unteren einstelligen Bereich wie Australien, England und USA liegt dieser Wert in der Größenordnung von einem Zehntel.)
Sind die Hallenser aber vor die Wahl gestellt, entscheiden sie sich mit großer Mehrheit (zwei von drei) gegen das Fahrrad. Das ist wiederum (Ausnahme Niederlande) fast überall so. Die Welt ist voll von Menschen, die Radfahren könnten, das auch eigentlich wollen und es dann doch nicht tun. Das ist schade, denn der potentielle Beitrag des Zu-Fuß-Gehens zur Reduzierung des Autoverkehrs in unseren Städten ist beträchtlich und wird besonders gerne unterschätzt.
In Halle hat knapp jeder vierte Weg als Pkw-Fahrer keinen Sachzwang gegen zu Fuß und Fahrrad und ist auch in einem Bereich, der die doppelte durchschnittliche Entfernung von Fuß- und Radwegen nicht übersteigt. Nur subjektive Gründe verhindern die Nutzung nichtmotorisierter Verkehrsmittel. Dabei bieten sich für jede dieser (22 %) Pkw-Fahrten im Schnitt 1,2 Alternativen und 7 % aller Pkw-Fahrten könnten bereits heute (im bestehenden „System“) durch zu Fuß ersetzt werden. Das würde den Anteil der Pkw-Fahrten deutlich unter 30 % drücken.
Das im Rahmen der eingangs skizzierten Untersuchungen entwickelte Verfahren zur Messung der Kundenzufriedenheit (mit öffentlichen Verkehrsmitteln) basiert auf drei Kenngrößen:
Wie zufrieden sind die Bürger(innen) mit den jeweils vorhandenen Einrichtungen und den angebotenen Dienstleistungen, welche Erwartungen haben sie an sie und welche Erfahrungen machen sie bei ihrer Nutzung.
Dabei beschränken sich unsere Aufträge auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel; den Rest machen wir freiwillig. Deshalb ist die von uns verwendete Merkmalsliste für „Zu-Fuß“ auch nicht allzu üppig, aber ausreichend, um wichtige Grund-Tendenzen zu erkennen.
Gemessen auf einer Skala von +100 (alle zufrieden) bis -100 (alle unzufrieden) erreicht Halle insgesamt einen Wert von +33. Der ist – im Vergleich – im „unteren Mittelfeld“. Spitzenwerte erreichen dabei Fußgängerampeln, Fußgängerüberwege und Fußwege „an sich“.
Im Mittelfeld finden wir Zugänge zur Haltestelle, soziale Akzeptanz und Sicherheit beim Überqueren. Weniger zufriedenstellend sind Beleuchtung und – vor allem – Zustand und Sauberkeit der Fußwege. Die Sicherheit wird etwas ambivalent gesehen: Bei der persönlichen Sicherheit (abends/ nachts) halten sich Zufriedenheit und Unzufriedenheit die Waage; dies gilt auch für die Rücksichtnahme der Autofahrer (obwohl das Unfallrisiko für Fußgänger besser bewertet wird).
Wer sich ein bisschen mit Ansätzen der Kundenzufriedenheitsforschung befasst, merkt schnell, dass die schlichte Abfrage von Merkmalen (die auch in ÖPNV-Kreisen gebräuchlich ist und vom VDV sehr gefördert wird) nicht zielführend ist. Zum einen, weil man nicht weiß, auf welche(n) Wege(n) sich die Einschätzung bezieht (denkt der Befragte gerade an den letzten Heimweg von der Kneipe im Nieselregen nachts um zwei, oder an den Weg ins Büro, wo er einen Park durchqueren kann und morgens die Vögel zwitschern hört etc.) und zum anderen, weil man nicht weiß, welches Gewicht die jeweiligen Aussagen haben (würde der Befragte tatsächlich mehr gehen, wenn die Fußwege besser beleuchtet oder nicht mehr, wenn sie nicht regelmäßig gereinigt würden?).
Hier helfen uns aber die eingangs vorgestellte Potentialanalyse und die Kombination von Erwartungen und Erfahrungen.
Aus der Potentialanalyse gibt es die Potentiale für eine Steigerung aber auch Reduzierung des Zu-Fuß-Gehens. Die können wir mit den abgefragten Merkmalen verknüpfen:
Damit ist aber noch immer nicht gesagt, ob die geäußerte Zufriedenheit realen Erfahrungen entspricht oder eher allgemeine Vorurteile widerspiegelt (das ist beim ÖPNV in beachtlichem Maße der Fall). Hier helfen Erwartungen und Erfahrungen. Erwartungen ähneln stark der Zufriedenheit und repräsentieren vor allem die allgemeinen Vorurteile, Erfahrungen dagegen zeigen, was die Befragten konkret bei ihrer Alltagsmobilität erlebt haben.
Zufriedenheit und Erwartungen werden strukturiert durch Vorlage von Merkmalen gemessen, Erfahrungen explorativ durch Abfragen der Erinnerungen. Bei der Vorlage von Merkmalen antworten die Befragten auf jedes Merkmal, egal ob es ihnen besonders oder weniger wichtig ist. Bei der Exploration von Erfahrungen werden nur Merkmale angegeben, die den Befragten bedeutsam erscheinen, unabhängig davon, ob sie in der Merkmalsliste enthalten sind oder nicht. Will man Erwartungen und Erfahrungen vergleichen, gibt es Merkmale, die – mit ausreichender Fallzahl – nur in einem der beiden Datensätze enthalten sind.
In Halle gab es drei Merkmale aus der strukturierten Befragung, die nicht einmal ein Prozent der Nennungen in der Exploration erreicht haben: Zugang zur Haltestelle, soziale Akzeptanz und Sicherheit abends/ nachts.
Wenn man jetzt mit den restlichen Merkmalen wieder ein Portfolio anlegt mit über-/ unterdurchschnittlichen Erwartungen und Erfahrungen, sieht man sehr schnell, bei welchen Merkmalen wirklicher Handlungsbedarf besteht: Zustand der Fußwege und Rücksichtnahme der Pkw-Fahrer. Allerdings sind auch hier die Erfahrungen deutlich besser als die Erwartungen!
Und insgesamt sind die Erwartungen (+31) zwar in der Nähe der Zufriedenheit (+33), die Erfahrungen aber viel besser (+52). Damit bleibt – wenn auch abgeschwächt – die (mangelnde) Rücksichtnahme der Autofahrer das einzige bedeutende Argument gegen die Intensivierung des Zu-Fuß-Gehens in Halle. Alle anderen Merkmale haben entweder wenig Gewicht (Potentiale) oder werden im persönlichen Erleben (wesentlich) besser beurteilt als in der subjektiven Erwartungshaltung.
Dies bedeutet nicht, dass die Stadt Halle etwaige Bemühungen im Bereich der Infrastruktur einstellen soll, wenn sie den Fußgängerverkehr fördern möchte, aber vor allem sollte sie mit kommunikativen Maßnahmen die deutlich erkennbaren Barrieren im Kopf zu überwinden versuchen.
„Zu-Fuß“ ist noch immer das bedeutendste Verkehrsmittel für uns. Diese Bedeutung spiegelt sich in der aktuellen Mobilitätsforschung kaum wider. Untersucht man den Fußverkehr mit vergleichbarem Aufwand wie bei anderen Verkehrsmitteln, zeigt sich: Gehen kann deutliche Entlastungen für den städtischen Verkehr bringen. Dafür braucht es vor allem Ermutigung und Motivation.
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2012, erschienen.
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