Eine Aufgliederung der Wege in unserer Alltags-Mobilität nach Etappen gibt dem Zufußgehen einen ganz neuen Stellenwert. Aber es ergeben sich auch wichtige Erkenntnisse darüber, wie man die tägliche Dosis körperlicher Aktivitäten bereits in den Alltag integrieren kann.
In mobilogisch! 2/17 haben wir Ergebnisse einer Auswertung unserer Alltags-Mobilität nach Fuß-Etappen vorgestellt („Das hauptsächlich vernachlässigte Verkehrsmittel“). Diese Auswertungen wurden mit einem Datenbestand für deutsche Städte durchgeführt, der – fortgeschrieben auf 2015 – fast 40.000 Personen umfasst und sorgfältig validiert wurde. Dabei wurde die in der Mobilitätsforschung gängige Definition des „hauptsächlich genutzten Verkehrsmittels (HVM)“ einer Aufgliederung der Verkehrsmittelwahl nach einzelnen Wege-Etappen gegenübergestellt. Diese Etappen wurden zudem unterschieden nach Etappen mit oder ohne „Warten“ (auf ein Verkehrsmittel).
Ein zentrales Ergebnis war, dass die durchschnittliche Dauer, die wir mit dem HVM Zu Fuß benötigen, bei Berücksichtigung aller Fuß-Etappen mit 1,75 multipliziert werden muss. Bei zusätzlichen Einbezug der Warte-Etappen sogar mit 2,0 (Verdoppelung).
Dieser pauschale Korrekturwert ist hilfreich, um die Dimension der Problematik erkennen zu können. Detailliertere Analysen zeigen dann, wie sich dieser Effekt weiter auswirkt.
So ergibt eine Aufgliederung nach Wege-Zwecken bereits ein sehr variables Bild. Die durchschnittliche Dauer, die für das Zufußgehen aufgewendet wird, übersteigt bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen (Post, Arzt etc.), bei Ausbildung und – vor allem – Beruf den Ausgangswert (hier = 100) zum Teil deutlich (wobei die sehr hohen Werte für Arbeit vor allem darauf zurückzuführen sind, dass nur sehr wenige Menschen zu Fuß in die Arbeit gehen, der Ausgangswert also besonders niedrig ist). Unterdurchschnittliche Zuschläge zeigen sich dagegen bei Begleitung, Einkauf und – vor allem – Freizeit.
Auch eine einfache Aufgliederung nach Alter und Geschlecht ergibt deutliche Unterschiede.
Bei Männern sehen wir überdurchschnittliche Zuschläge bei den beiden jüngeren Altersgruppen und die geringsten bei den Senioren (60+).
Frauen verzeichnen insgesamt höhere Zuschläge bei den Etappen. Bei der jüngsten Altersgruppe sehen wir ähnliche Werte wie bei den Männern. Dagegen fallen die Zuschläge in der Altersgruppe 30-44 Jahre geringer aus als bei den Männern, in den beiden älteren Gruppen aber höher, besonders deutlich bei 45-59 jährigen.
Wir wollen hier aber den Blick über Deutschland hinaus lenken. Dazu benutzen wir einen Datenbestand, den Daniel Sauter auf der „Walk21“ in Hong Kong 2016 vorgestellt hat („International standard for measuring walking: how much we walk and what motivates us to walk“). Dieser Datenbestand enthält Mobilitätsdaten zu zehn Städten/Gebieten aus drei Kontinenten.
Dabei umfasst „STT“ drei englische Mittelstädte, die im Rahmen des Projektes „Sustainable Travel Towns (STT)“ untersucht wurden, D‘ Haag ist die niederländische Hauptstadt Den Haag, Gävle eine schwedische Mittelstadt ca. 170 km nordöstlich von Stockholm, V’couver die kanadische Stadt Vancouver in British Columbia, B’ham die Mittelstadt Bellingham ca. 80 Meilen nordwestlich von Seattle und B’bane die Hauptstadt Brisbane im australischen Queensland.
Ein Blick auf die Verkehrsmittelwahl in diesen Gebieten macht deutlich, warum sie ausgewählt wurden. So variiert etwa der Anteil des Umweltverbundes (Zu Fuß, Fahrrad, ÖPNV) zwischen 77 % (in Basel) und 20 % (in Bellingham). Es wird also eine große Bandbreite des alltäglichen Mobilitätsgeschehens abgebildet.
In diesen Gebieten verzeichnen wir im Durchschnitt 2,9 Wege pro Person/Tag und 5,1 Etappen (ohne Warten). Mit Warten wären es sogar 5,7 Etappen.
Dabei wird deutlich, dass in Städten mit hoher ÖPNV-Nutzung die durchschnittliche Zahl täglicher Etappen spürbar ansteigt, dass aber auch in den anderen Gebieten dieser Durchschnitt immer über vier, oft in der Nähe von fünf oder sogar mehr Etappen liegt.
Man kann bei der Darstellung der Verkehrsmittelwahl aber nicht nur das jeweilige HVM zugrunde legen, sondern man kann die Verkehrsmittelwahl auch auf alle Etappen beziehen.
Der durchschnittliche Anteil der Fußwege im Gesamt aller Gebiete läge dann nicht mehr bei 21 sondern bei 52 %! Dagegen würde beispielsweise der Anteil der Pkw-Fahrer von 38 auf 22 % absinken.
Und plötzlich gibt es nur noch vier Gebiete mit einem Fußwege-Anteil von weniger als 50 % (darunter interessanterweise auch Den Haag). Der Anteil der Pkw-Fahrer würde nur noch in den klassischen Autofahrer-Regionen (Bellingham, Brisbane) über die 30 %-Marke steigen, der Anteil der Pkw-Mitfahrer bliebe durchwegs unter 15 %. Bei ÖPNV und Fahrrad wären die Wirkungen sehr unterschiedliche: Nur Basel und Wien würden beim ÖPNV über die 20 %-Marke springen, beim Fahrrad wären nur noch Den Haag und Gävle im zweistelligen Bereich.
Wir müssen aber eine Analyse der Alltags-Mobilität nicht auf eine detailliertere Betrachtung der Fuß-Etappen beschränken. Gerade in Zeiten, in denen viel über Fitness und „physical activities“ geredet wird, könnte man ja alle Etappen herausgreifen, bei denen wir uns körperlich bewegen. Das sind im Wesentlichen die Etappen, bei denen wir zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind.
Dabei ist klar, dass wir nur dann „active“ unterwegs sind, wenn wir nicht den ganzen Tag zuhause bleiben, sondern auch das Haus verlassen (sog. „Mobile“). Addiert man jetzt die Dauer aller Fuß- und Fahrrad-Etappen, so ergibt sich die Dauer, die wir pro Tag mit „Active Time“ verbringen.
Im Durchschnitt aller zehn Gebiete liegt dieser Wert bei 28 (mobile Personen) bzw. 24 Minuten (alle Personen). Der von der WHO empfohlene Mindestwert von 30 Minuten pro Person/Tag wird nicht erreicht.
Er wird aber bei den mobilen Personen in allen Gebieten erreicht, bei denen der (HVM-) Anteil der Pkw-Fahrer unter 40 % liegt und bei denen mit einem Anteil unter 30 % (Basel, Wien) sogar im Durchschnitt aller Personen. Das ist ein wichtiger Hinweis auf einen Zusammenhang, den wir schon in früheren mobilogisch!-Artikeln thematisiert haben: Man kann die 30 Minuten physical activities bereits durch geeignete Verkehrsmittelwahl bei der Alltags-Mobilität erreichen und kann sich damit etwa den Gang ins Fitness-Studio ersparen.
Die Aufgliederung wird noch anschaulicher, wenn wir nach der sog. „Verkehrsmittel-Partizipation“ unterscheiden. Anders als bei den gängigen (und bisher diskutierten) Mobilitäts-Kennziffern werden bei der Partizipation nicht Wege sondern Personen klassifiziert. Jede Person, die am Tag mindestens einen (reinen) Fußweg verzeichnet, fällt in die Partizipationsgruppe Zu Fuß, jede, die mindestens einmal mit dem Fahrrad fährt, in die Partizipationsgruppe Fahrrad usw..
Eine Aufgliederung der Verkehrsmittelwahl zeigt, wie prägend das jeweilige Verkehrsmittel für die einzelnen Partizipationsgruppen ist (siehe Diagonale). Wer am Tag wenigstens einmal zu Fuß geht, der erledigt 57 % seiner täglichen Wege zu Fuß, wer Fahrrad oder ÖPNV fährt, 61 % bzw. 62 % mit dem Fahrrad/ÖPNV, wer als Pkw-Fahrer unterwegs ist, nutzt dieses Verkehrsmittel gar bei 79 % aller Wege am Tag.
Dabei geht – im Durchschnitt aller zehn Gebiete – ein gutes Viertel der Bevölkerung (26 %) mindestens einmal zu Fuß (HVM), ein Neuntel fährt Fahrrad und ein Fünftel nutzt den ÖPNV. Diesen insgesamt 57 % stehen 54 % gegenüber, die ein MIV-Verkehrsmittel wenigstens einmal täglich nutzen (Die Summe beider Gruppen liegt über 100, weil es natürlich auch Personen gibt, die sowohl den UV wie auch den MIV am selben Tag nutzen.).
Diese Aufgliederung zeigt aber noch etwas ganz anderes: Wer am Tag mindestens einmal zu Fuß geht (als HVM), der erledigt ein weiteres Sechstel seiner Wege mit dem Fahrrad oder ÖPNV und nur ein gutes Viertel (27 %) mit einem motorisierten Individualverkehrsmittel (MIV). Wer Fahrrad fährt, benutzt den MIV bei 21 % seiner Wege, die anderen Umweltverbund-Verkehrsmittel (UV) aber nur unwesentlich weniger (18 %) und wer den ÖPNV benutzt, der geht genauso oft zu Fuß wie er/sie den Pkw nutzt (als Fahrer oder Mitfahrer).
Umgekehrt verzeichnen Pkw-Fahrer am gleichen Tag die niedrigsten Werte (17 %) im UV (und übrigens auch als Pkw-Mitfahrer).
Zusammengefasst heißt das: Wer mindestens einmal am Tag ein Verkehrsmittel des UV nutzt, der nutzt für mindestens 73 % seiner Wege den Umweltverbund. Und wer mindestens einmal täglich den MIV nutzt, der erledigt mindestens 73 % der Wege im MIV.
Da aber die über das HVM definierte Verkehrsmittelwahl viele kleine Etappen – vor allem Zu Fuß – unberücksichtigt lässt, wäre es sinnvoll, die in diesem Beitrag gezeigte „Active Time“ für die einzelnen Verkehrsmittel-Partizipationsgruppen auch für unsere zehn Beispielgebiete zu kalkulieren.
Es zeigt sich, dass Personen mit Umweltverbund-Nutzung im Durchschnitt aller Gebiete deutlich über 30 Minuten pro Tag an Active Time erreichen (von 41 Minuten bei der Partizipationsgruppe ÖPNV bis 61 Minuten bei Fahrrad). Es zeigt sich aber auch, dass dies ebenso zutrifft für Gebiete mit hoher Nutzung an motorisierten Individualverkehrsmitteln. Die Active Time liegt zwischen 33 und 83 Minuten und damit durchgängig über 30 Minuten. Und bei Fußgängern und Radfahrern sinkt sie nirgends unter 40 Minuten ab. Es ist wie bei der Verkehrsmittelwahl: Wenn man will, dass die Menschen ausreichend körperliche Bewegung bereits in ihrer Alltagsmobilität erreichen, muss man sie „nur“ dazu bringen, dass sie wenigstens einmal zu Fuß gehen, Fahrrad fahren oder den ÖPNV nutzen. Den Rest regeln sie dann ganz alleine; detailliertere Anleitungen werden nicht benötigt. Und das gilt nicht nur für Gebiete mir umweltverbundfreundlicher Angebotsgestaltung, sondern auch für MIV-orientierte Kommunen!
Und umgekehrt erreicht im Durchschnitt dieser Gebiete niemand, der motorisierte Individualverkehrsmittel nutzt, die 30 Minuten-Marke an aktiver Zeit. Bei der Partizipationsgruppe Pkw-Fahrer sind es nur 17 Minuten, bei motorisierten Zweirädern 19 und bei Pkw- Mitfahrern gerade 20.
Und auch in Gebieten mit hoher Umweltverbund-Nutzung wird diese Marke in allen Partizipationsgruppen verfehlt (Ausnahme: Den Haag, motorisierte Zweiräder). Insbesondere für die Pkw-Fahrer ist der Befund eindeutig. Der Anteil an Active Time liegt nur zwischen 14 und 24 Minuten. Wer also mit dem Auto fährt, muss zusätzliche Aktivitäten unternehmen, wenn er ausreichend körperliche Bewegung erreichen möchte.
Der Einbezug von Wege-Etappen gibt Mobilitätsanalysen eine ganz neue Qualität. So kann beispielsweise die Zeit bestimmt werden, die wir tatsächlich zu Fuß gehen. Oder auch die Zeit, in der wir uns körperlich bewegen: Wer mindestens einmal am Tag den Umweltverbund nutzt, kommt dabei über die 30 Minuten-Grenze und wer ein Auto nutzt, schafft das nicht.
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2017, erschienen.
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