Zu den zahlreichen Änderungen und Ergänzungen der StVO im Jahre 1997 gehörte die Fahrradstraße. Nur wenige Kommunen haben allerdings die Gelegenheit genutzt, den Radverkehr durch Fahrradstraßen zu fördern. Auch wenn das zwanzigjährige Jubiläum der Fahrradstraße in Deutschland deshalb bescheiden ausfällt, ist es doch Zeit für einen Glückwunsch, einen Rück- und einen Ausblick.
Verhalten: Obwohl es jeder wissen sollte, hier ein kurzes Repetitorium für das Verhalten auf Fahrradstraßen:
Verkehrsrechtlich: „Die gesamte Fahrbahn einer Fahrradstraße ist damit Radweg“, heißt es im Rechtskommentar.(3) Dennoch sind Fahrradstraßen verkehrsrechtlich keine Radverkehrsanlagen. Für Radverkehrsanlagen gelten in der StVO und ihren Verwaltungsvorschriften andere Regelungen als für Fahrradstraßen.
Beim Einrichten einer Fahrradstraße sieht sich die Verwaltung mit Anforderungen konfrontiert, die das Zögern der Kommunen verständlich werden lassen: „Fahrradstraßen kommen dann in Betracht, wenn der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist oder dies alsbald zu erwarten ist“ und „vor der Anordnung (müssen) die Bedürfnisse des Kraftfahrzeugverkehrs ausreichend berücksichtigt werden (alternative Verkehrsführung).“ Als Ergebnis muss Folgendes herauskommen: „Auf […] Fahrradstraßen darf der Kraftfahrzeugverkehr nur gering sein (z. B. nur Anliegerverkehr).“
Wenn Voraussetzung und Ergebnis einer Maßnahme nahezu identisch sind, ist es für die Verwaltung in der Tat schwer, diese umzusetzen.
Würde man auf Fahrradstraßen Kraftfahrzeuge ausschließen, wäre der Radverkehr umgehend die „vorherrschende Verkehrsart“. Dies ist jedoch nicht möglich, da Anwohner und Anlieger der Fahrradstraßen sowie deren Besucher, Lieferanten, Kunden und Patienten das Recht haben, ihr Ziel mit dem Kraftfahrzeug zu erreichen: „Das Anliegerrecht ist allgemein darauf ausgerichtet, die Verbindung mit dem öffentlichen Straßennetz zu gewährleisten.“ Nötig wäre hier auf jeden Fall das Zusatzzeichen „Anlieger frei“.
Es fragt sich allerdings, was die Einschränkung bringt. Schon allein die Anlieger können eine Menge Kraftfahrzeugverkehr erzeugen. Häufig werden Fahrradstraßen jedoch als Durchfahrtstrecke benutzt. Dafür sind maximal 30 Euro Bußgeld fällig, was kaum abschreckt. Hinzu kommt, dass „Anlieger frei“ schwer zu überwachen ist. Selbst als unerwünschter Besucher ist man schließlich Anlieger. Da ist es nur ein schwacher Trost, dass jemand, der in die gesperrte Straße nur einfährt, um dort zu parken, nicht als Anlieger gilt.
Geradezu folgerichtig sind nach einer Studie der Unfallforschung der Versicherer 96 Prozent aller untersuchten Fahrradstraßen in Deutschland für den Autoverkehr freigegeben, zwei Drittel sogar ohne Einschränkungen wie „Anlieger frei“.
Im August 2009 wurden unter Verkehrsminister Ramsauer die Verwaltungsvorschriften zum Zeichen „Fahrradstraße“ stark verschlankt.(7) (Auf vielen Websites findet sich noch die vorherige Version). Folgende Aspekte wurden gestrichen:
Das Verkehrsministerium nannte keine speziellen Gründe dafür, warum es gerade diese Punkte strich, sondern begründete im allgemeinen Teil die Änderungen so: „Straffung und Vereinfachung der Vorschriften, die insbesondere durch Herausnahme der verkehrstechnischen/ planerischen Erläuterungen aus der begleitenden VwV-StVO gewährleistet wird.“ Formal ist das verständlich. Die Kehrseite ist, dass die Verwaltung bis heute nicht genau weiß, nach welchen Kriterien sie Fahrradstraßen einrichten soll.
Was die Situation verschärfte: Die StVO schreibt seit 2009 für die Fahrradstraße nicht mehr „mäßige Geschwindigkeit“ vor, sondern eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h.
Die Behörden stehen vor dem Dilemma, dass sie Fahrradstraßen verkehrspolitisch und planerisch nur schwer zur Fahrradförderung einsetzen können, denn sie müssen die Bedürfnisse des Autoverkehrs ausreichend berücksichtigen. Von den Bedürfnissen der Radfahrer/innen ist nicht die Rede, implizit sind diese im besten Fall zu erahnen. Das passt ins Bild einer immer noch am Kraftfahrzeug orientierten Verkehrspolitik: Wird eine Straße zur Kraftfahrstraße umgewidmet, müssen die Belange von Fuß- und Radverkehr nicht berücksichtigt werden.
Dass man Fahrradverkehr nicht mithilfe einiger Schilder und Markierungen fördern kann, erfuhr die Initiative des Volksentscheids Fahrrad in Berlin. Die Initiative will ein Berliner Fahrradgesetz auf den Weg bringen, das im ersten von zehn Punkten fordert, bis zum Jahr 2025 in Berlin 350 km sichere Fahrradstraßen auf Nebenstraßen auszuweisen.
Ein vom Innensenator beauftragtes Gutachten kam jedoch zu dem Ergebnis, dass eine derart quantifizierte und zeitlich fixierte Forderung nicht StVO-konform sei. Vereinfacht ausgedrückt müsse für jede einzelne Straße geprüft werden, ob sie sich als Fahrradstraße eignet. Fahrradstraßen seien keine Maßnahme zur Erzeugung eines zusammenhängenden Fahrradnetzes. Damit stand die wichtigste Maßnahme des Volksentscheids Fahrrad aus verkehrsrechtlicher Sicht in Frage, obwohl die Bereitschaft der rot-rot-grünen Koalition, ein Fahrradgesetz zu entwerfen, das sich an den Zielen des Volksentscheids Fahrrad orientiert, Bestandteil des Koalitionsvertrages ist. Bundesländer sind in ihren Entscheidungen hier also stark eingeschränkt.
Die „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“ aus dem Jahr 2010 (ERA 2010(4)) sind in die Jahre gekommen. Zum Thema Fahrradstraßen halten sie sich geradezu bedeckt. Der kurze Text gibt überwiegend die StVO und ihre Verwaltungsvorschrift wieder.
Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen arbeitet derzeit an einer Neuauflage der ERA. Neue Aspekte gegenüber der Ausgabe 2010 sollen sein: einheitliche Gestaltung, Breite der Fahrgassen, Regeln zur Wartepflicht. Fahrradstraßen im Zuge von Radschnellverbindungen werden eventuell breiter. Zudem werden einige Anwendungsbeispiele vorgestellt. Der Arbeitstitel lautet „ERA 2020“, es kann aber auch 2021 werden.
Aufgrund dieser Unwägbarkeiten zitieren wir im Folgenden aus dem Entwurf des Berliner RadGesetzes(5), weil es zum einen der aktuellste Versuch ist, auch Radverkehrsanlagen zu qualifizieren. Zum anderen ist dieser Entwurf das erste Landesgesetz, in dem - noch vor einem möglichen Bundesgesetz - Qualität und Quantität von Verkehrsanlagen konkret benannt werden. Dies geschieht bereits im Gesetzestext, differenzierter dann in den noch zu formulierenden Verwaltungs- bzw. Ausführungsvorschriften. Damit legt dieses Gesetz einen Standard vor, der von der ERA 2020 kaum unterschritten werden kann. Der Gesetzentwurf greift auch einige der 2009 in den Verwaltungsvorschriften zur StVO gestrichenen Aspekte auf.
Zur Vorfahrt auf Fahrradstraßen heißt es in der ERA 2010: „Ein besonders gleichmäßiger Verkehrsfluss und eine hohe Reisegeschwindigkeit für den Radverkehr wird erreicht, wenn die Fahrradstraße gegenüber einmündenden Straßen Vorfahrt bekommt. Dann sind gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen, die die Geschwindigkeiten des Kraftfahrzeugverkehrs im Zuge der Fahrradstraßen wirksam dämpfen können. Die Entscheidung über die Vorfahrt sollte deshalb von örtlichen Gegebenheiten abhängig gemacht werden. [..] Die bevorrechtigte Führung sollte zusätzlich zur Beschilderung auch durch die bauliche Gestaltung der Kreuzung verdeutlicht werden.“
Eine Vorfahrtsregelung ist also eine zweischneidige Sache: Bei der Fahrradbeschleunigung wird auch der Kraftfahrzeugverkehr beschleunigt, den man dann wieder (baulich?) entschleunigen muss. Der letzte Satz aus dem Zitat deutet auf erhöhte Kosten gegenüber Lösungen mit Markierung und Beschilderung hin.
Schnelle Kraftfahrzeuge sind ebenso wie schneller Fahrräder eine Gefahrenquelle für den Fußverkehr. FUSS e.V. hat den Fahrrad-Volksentscheid Berlin unter der Bedingung unterstützt, dass der Fußverkehr nicht ins Hintertreffen gerät. Im Entwurf des Berliner RadGesetzes wird das zum Beispiel in § 13 Fahrradstraßen berücksichtigt: „Die Knotenpunkte sind so zu gestalten, dass alle Verkehrsteilnehmer* innen gute Sichtbeziehungen haben und beim Abbiegen sichere Geschwindigkeiten eingehalten werden.“ Damit empfiehlt FUSS e.V. Gehwegvorstreckungen an Kreuzungen. Zwar schreibt die ERA 2010 zur Kreuzung mit einer vorfahrtberechtigten Fahrradstraße: „Ergänzende geschwindigkeitsdämpfende Maßnahmen für den Kraftfahrzeugverkehr sind in der Regel notwendig, z. B. durch eine Anhebung der gesamten Kreuzungsfläche.“ Das ist sicher eine gute Sache für den Fußverkehr, aber nicht unbedingt für (schnelle) Radler/innen. FUSS e.V. erachtet hier - barrierefreie - Gehwegnasen als adäquaten Kompromiss.
Ansonsten empfiehlt die ERA die Kombination von Einbahn- mit Fahrradstraßen: „Insbesondere die einseitig für den Kraftfahrzeugverkehr freigegebene Fahrradstraße kann Einbahnstraßen ersetzen und fügt sich gut in Einbahnstraßensysteme ein.“ Das Berliner RadGesetz greift dies auf, jedoch werden die Einbahnstraßen als Maßnahme gegen durchfahrende Kraftfahrzeuge gesehen. In der Begründung heißt es: „Des Weiteren können für den motorisierten Verkehr geltende Einbahnstraßenregeln eingeführt (wobei die Fahrrichtung auf den einzelnen Abschnitten der Fahrradstraßen wechselt) oder an den Kreuzungsbereichen Rechtsabbiegen angeordnet werden.“
Zur Unterbindung des Kraftfahrzeugdurchgangsverkehrs sieht das RadGesetz ganz allgemein vor, Fahrradstraßen „so zu gestalten, dass motorisierter Individualverkehr außer Ziel- und Quellverkehr im jeweiligen Straßenabschnitt unterbleibt.“ Die Begründung ist deutlicher: „Autoverkehr soll weitgehend reduziert und verlangsamt werden. Dazu sollen nötigenfalls auch bauliche Maßnahmen wie z. B. Poller oder Fahrgassenverengungen im Bereich der Zufahrt ergriffen sowie Maßnahmen der Verkehrsüberwachung stationär oder regelmäßig durchgeführt werden.“ Interessant (und realistisch) ist, dass „der Wirtschaftsverkehr durch die Einrichtung von Fahrradstraßen als Quell- und Zielverkehr nicht ausgeschlossen sein soll. Dazu sollen Lieferzonen ausgewiesen und ihre Nutzbarkeit durch Kontrollen sichergestellt werden.“
Vielleicht ist es ein Spezifikum Berlins mit seinen Kopfstein- und Schlaglochstraßen? Der Entwurf des RadGesetzes weist jedenfalls auf die Fahrbahnqualität hin: „Fahrradstraßen […] sollen im Bereich der Fahrgasse mit einem erschütterungsarmen, gut befahrbaren Belag, beschaffen sein.“ In der Begründung heißt es: „Durchgehende, dünne Bremsschwellen bzw. Bodenwellen sind in Fahrradstraßen zur Verkehrsberuhigung regelmäßig ungeeignet, da sie den Radverkehr ebenfalls behindern.“ Auch wenn der letzte Satz nicht zwingend logisch ist, wird die Anforderung klar.
Damit sich in Fahrradstraßen alle an die Regeln halten, steht in der Begründung des Berliner Gesetzentwurfes: „Fahrradstraßen und Nebenstraßen im Radverkehrsnetz müssen für alle Verkehrsteilnehmer deutlich gekennzeichnet sein, damit die für Fahrradstraßen gültigen Verkehrsregeln befolgt werden und auf den Radverkehr Rücksicht genommen wird. Dafür reichen die häufig kleinen Verkehrsschilder nicht aus. Die Erfahrung aus Städten wie Kiel zeigt, dass dieses Ziel mit einem auf der Fahrbahn aufgebrachten Piktogramm realisiert werden kann. 'Gut erkennbar' bedeutet, dass die Kennzeichnung durch Beschilderung durch weitere geeignete Maßnahmen zu ergänzen ist.“
Von der Forschungsstelle der Versicherer im Rahmen ihrer Studie(6) abgeleitete Forderungen mit kurzen Kommentaren des Autors:
Außerdem kann man attraktive Fahrradstraßen auch mit einer anderen Beschilderung schaffen, indem Straßen(abschnitte) mit dem Zeichen 250 („Verbot für Fahrzeuge aller Art“) und mit dem Zusatzzeichen „Radfahrer frei“ versehen werden. Zur Klarstellung der Priorisierung, zur Hebung der Verkehrssicherheit und weil Radfahrer/innen sowieso in Fahrradstraßen nebeneinander fahren dürfen, wäre dort ein generelles Überholverbot für den Kraftfahrzeugverkehr sinnvoll.
Zur Zeit bieten die meisten Fahrradstraßen den radelnden Nutzer/innen nicht mehr Vorteile gegenüber dem Befahren einer normalen Straße in einer Tempo 30-Zone. Der ADFC Berlin wie auch die Initiatoren des RadGesetzes wollen die Fahrradstraße als das Rückgrat einer Fahrradnetzplanung. Im Nebenstraßennetz soll quasi jede Straße zur Fahrradstraße werden, wenn nicht zwingende Gründe dagegen sprechen. Sollte dies so umgesetzt werden, ist die Fahrradstraße als Vorfahrtstrecke selbstverständlich nicht mehr umsetzbar: An jeder Kreuzung, an der sich Fahrradstraßen treffen, muss Rechts-vor-Links gelten (es sei denn, es gebe Fahrradstraßen mit unterschiedlicher Priorisierung). Rechts vor Links ist sicherlich auch als Mittel gegen beschleunigten Kfz-Verkehr in einem quasi zweiten Hauptstraßennetz sinnvoll, wovon wiederum auch die Fußgänger/innen profitieren würden. Von der Verbesserung der Sichtbeziehungen durch Gehwegvorstreckungen im Kreuzungsbereich würden auf jeden Fall auch die Radfahrer/innen profitieren.
1997, vor 20 Jahren, wurde mit dem Zeichen 244 das Element „Fahrradstraße“ in die StVO aufgenommen. Viele Kommunen nutzten es nicht, andere schmückten sich mit wenigen Zeichen 244. Die Umsetzung vor Ort ist oft suboptimal, was auch an den mangelnden und mangelhaften Vorschriften und Empfehlungen liegen kann. In Berlin wird z.Z. versucht, Qualität und Netzdichte per Gesetz zu regeln. In der in Arbeit befindlichen Richtlinie werden Fahrradstraßen offensiver abgehandelt werden.
(1) StVO Anlage 2 (zu § 41 Absatz 1) zu Zeichen 244.1 und 244.2
(2) VwV StVo zu § 31, Absatz 2, III.
(3) Dietmar Kettler in „Münchner Kommentar Straßenverkehrsrecht“, Band 1
(4) FGSV (Hrsg.): Empfehlungen für Radverkehrsanlagen 2010, Köln, 2010
(5) Gesetz zur Förderung des Radverkehrs in Berlin (RadG), Entwurf Stand 5. Mai 2017
(6) Unfallforschung der Versicherer: Sicherheitsbewertung von Fahrradstraßen und der Öffnung von Einbahnstraßen, Berlin 2016, Download udv.de → Straße → Stadtstraßen → Fahrradstraßen
(7) Die verschiedenen Versionen der VwV der StVO seit 1998 können Sie unter bernd.sluka.de/Recht/StVO-VwV/ abrufen.
Bernhard Knierim: Fahrradstraßen in Berlin – gute Idee, schlecht umgesetzt, in: mobilogisch 2/2013
Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2017, erschienen.
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