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Seit 1972 wird im Abstand von fünf Jahren die Mobilität in ost- und westdeutschen Städten ausgewertet. Dieser Vergleich liefert wichtige grundlegende Erkenntnisse. Und der Zeitraum 1987 – 1992 hat dabei eine ganz besondere Bedeutung.

Städtepegel

In der letzten Ausgabe der mobilogisch! (1/15) habe ich über das System repräsentativer Verkehrsbefragungen (SrV) berichtet („Das neue SrV: Ein kühner Ritt über die Klippen der Mobilitätsforschung“). Das SrV ist ein bedeutendes Erhebungssystem, das von 1972 bis zur Wende die Mobilität in Städten der DDR gemessen hat. Die erste Erhebung wurde 1972 durchgeführt und im Fünfjahres-Abstand wiederholt. Nach der Wende gab es zeitweise kürzere Rhythmen; seit 2003 gilt wieder das alte Intervall. Insbeson­dere die jüngste SrV-Welle (2013), die inzwischen etwa 100 Städte in Ost und West umfasst, wird noch zu langen und intensiven Diskussionen führen.

Das ändert aber nichts an der herausragenden Leistung der Gründer des SrV an der TU-Dresden. Sie haben die Voraussetzungen geschaffen für den von Socialdata entwickelten Städte­pegel, dessen besondere Bedeutung heute vorgestellt werden soll. In einer kurzen Phase der Kooperationsbereitschaft der TU-Dresden haben wir unser Wissen und unsere Daten ausgetauscht. Der Gedanke dabei war, aus den gro­ßen Datenbeständen von Socialdata vergleichbare Städte zum SrV auszuwählen und die Mobilität in diesen Städten für dieselben Jahre auszuwerten. Voraussetzung hierfür war, dass die gewählten Erhebungsmethoden – die ja einen nicht unerheblichen Einfluss auf die jeweiligen Ergebnisse haben – einigermaßen miteinander vergleichbar sind. Obwohl in der DDR noch mündlich befragt wurde und in der BRD schriftlich/postalisch, waren das Konzept und die Durchführung der Erhebungen überraschend ähnlich (Mobilitäts-Tagebücher). Zudem waren in beiden Fällen die Antwortquoten hoch (geringer Non-response-Effekt) und die Befragung gründlich genug, dass keine allzu großen Probleme mit Non-reported-trips auftreten konn­ten. Weitere (kleinere) Probleme bei den Definitionen konnten schnell bereinigt werden. Es blieben letztlich nur zwei bedeutsame Unterschiede: Das SrV erhob Daten für den sog. „durchschnittlichen Wochentag“ (Dienstag bis Donnerstag) und wurde lange Zeit nur im März des jeweiligen Erhebungsjahres durchgeführt.

 

Eine Auswertung aus unserem aktuellen „Musterbestand“ für vier deutsche Städte (Daten von 2002 bis 2009, knapp 36.000 Personen; siehe mobilogisch! Nr. 1/15) zeigt uns, dass von Diens­tag bis Donnerstag im März die Mobilität um 9 % höher ist als im Jahresmittel.

Dabei ist der Anteil der „Pflichtwege“ (Arbeit, Ausbildung, dienstlich/geschäftlich) und der Wege zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen (Post, Behörde, Arzt) – z. T: deutlich – höher, der der Freizeitwege dafür um über ein Fünftel niedriger. Weitere Auswertungen nach einzelnen Wochentagen würden zeigen, dass sich inzwischen die Mobilität für alle Wochentage so voneinander unterscheidet, dass es keine durchschnittlichen Wochentage mehr gibt. Und sie würden auch zeigen, dass Verkehrsmittel, deren Nutzung größeren Schwankungen unterliegt (insbesondere das Fahrrad), bei den eher „regelmäßigen“ Tagen Dienstag bis Donnerstag schlechter abschneiden.

Eine Begrenzung auf Dienstag bis Donnerstag steigert vor allem die Anteile des ÖPNV (und damit einhergehend der Fußwege) und der Pkw-Fahrer. Aber bei guter Datenlage, können solche unterschiedlichen Grundgesamtheiten relativ einfach mit entsprechenden Korrekturfaktoren vergleichbar gemacht werden. Das haben wir dann auch getan und die SrV-Daten von 1972 bis 1987 denen der West-Städte angeglichen.

Und ab 1992 hatten wir genügend eigene Erhebungen, die nach diesem Design ausgewertet werden konnten. Hieraus entstand der sog. Städtepegel, der von 1972 bis 2012 die Mobilität in vergleichbaren Städten in Ost und West darstellt. Detailliertere Ergebnisse – und einige methodische Anmerkungen zu ihrer Erhebung und Auswertung – kann man auf unserer Website nachlesen (http://socialdata.de/daten/staedtepegel.php).

Für diesen Beitrag haben wir die Zeitreihen übersichtlicher angeordnet und auf die Jahre 1972, 1987, 1992 und 2007 beschränkt.

Verkehrsmittelwahl

Der Städtepegel für den Osten zeigt, dass 1972 zwar 16 % aller Wege mit dem MIV durchgeführt wurden, die Anteile der drei hierunter zusammengefassten Verkehrsmittel aber fast gleich waren. Damit lag der Anteil der Pkw-Fahrer nur bei 6 %. Das hinderte die damaligen Planer aber nicht, mit großen Ausbauplänen den Bau von Straßen zu betreiben.

 

Das wichtigste Verkehrsmittel waren 1972 die eigenen Füße. Dagegen hatte der ÖPNV einen Anteil von etwa einem Viertel und das Fahrrad von etwa einem Zehntel aller Wege. Diese Anteile gingen bis zur letzten Erhebung vor der Wende leicht zurück (Fahrrad) bzw. stiegen leicht an (ÖPNV). Dagegen nahm die relative Zahl der Fußwege bis 1987 um ein Fünftel ab und die der Pkw-Fahrer stieg um nahezu den gleichen Anteil an. Fünf Jahre später und gut zwei Jahre nach der Wende hat sich der Rückgang der Fußwege zügig fortgesetzt und die Anzahl der Wege als Pkw-Fahrer in etwa verdoppelt. Anders als in den West-Städten musste aber der ÖPNV starke Einbußen hinnehmen (relativer Rückgang über ein Drittel). Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass die ÖPNV-Nachfrage nicht nur durch „harte“ Maßnahmen (Angebot) gefördert werden muss, sondern auch durch „weiche“ (Marketing). Letztere waren im alten DDR-System nicht nötig, folglich nicht geübt und in ihrer Bedeutung verkannt.

Von 1992 bis 2007 setzt sich der Rückgang bei Fußwegen und ÖPNV-Fahrten fort (überwiegend zugunsten der Pkw-Fahrer), gleichzeitig wurde das Fahrrad wieder beliebter.

Wenn man von der höheren ÖPNV-Nutzung in den Ost-Städten 1987 absieht, dann ist die damalige Verkehrsmittelwahl sehr ähnlich zu der Situation 1972 in den West-Städten.

 

Dort wurde damals noch die Hälfte aller Wege im nichtmotorisierten Verkehr erledigt, der Anteil der Pkw-Fahrer lag gerade mal bei einem Fünftel. Gleichwohl waren die großen Generalverkehrspläne fertig und beschlossen, die zur „Bewältigung der Autoflut erforderlichen Straßen“ längst im Bau oder schon gebaut (bei einem Pkw-Fahrer-Anteil von lediglich 20 %!).

Anders als im Osten konnte der ÖPNV über die Jahre seine Anteile in etwa halten und in jüngster Zeit (wie jetzt auch im Osten) wieder steigern. Der kontinuierliche Rückgang der Fußwege (zugunsten der Pkw-Fahrer) verlief ähnlich wie in den Ost-Städten, ist aber schon weiter fortgeschritten. Die zu Beginn der achtziger Jahre ausgelöste Fahrradwelle (siehe z. B. das Projekt „Fahrradfreundliche Stadt“ des Umweltbundesamtes) hatte große Wirkung.

Mobilität

Mobilität ist kein Selbstzweck; die Menschen sind in der Regel unterwegs, um etwas zu erledigen. Das sind in der Mobilitätsforschung die (aushäusigen) Aktivitäten.

Ihre durchschnittliche Anzahl pro Person und Tag ist relativ niedrig und konstant. Die durchschnittliche Zahl der Wege pro Person/Tag folgt diesem Muster. Ein leichter Rückgang 1992 in den Ost-Städten hat wohl weniger mit der Wende zu tun sondern eher damit, dass die entsprechenden Werte 1987 überdurchschnittlich hoch waren.

Die tägliche Unterwegszeit (berechnet für alle Personen, nicht nur die mobilen) bewegt sich in dem erwarteten Bereich von etwa einer Stunde; allerdings zeigt sich hier – im Gegensatz zu Aktivitäten und Wegen – ein leichter Zuwachs nach der Wende der nur langsam wieder abgebaut wurde.

In den West-Städten war die Mobilität – bei völlig unterschiedlichen Lebenssituationen – im Jahr der olympischen Spiele in München fast identisch mit der in den Ost-Städten zum gleichen Zeitpunkt.

Und an den Kennziffern Aktivität, Zahl der Wege und Unterwegszeit hat sich seitdem auch nicht viel geändert. Lediglich die täglich zurückgelegte Entfernung hat sich (Alltagsverkehr, ohne Wirtschaftsverkehr und ohne Fern- oder Urlaubsreisen) in etwa verdoppelt. Das war in den Ost-Städten nicht anders, wobei dort die relativ größte Veränderung durch die Wende ausgelöst wurde.

 

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Konstante und Variable

In allen Bereichen des menschlichen Verhaltens bemühen sich Wissenschaftler rund um die Welt herauszufinden, welche Parameter des jeweiligen Verhaltens konstant und welche variabel sind. In der Mobilitätsforschung ist die Frage beantwortet. Die Wende brachte den Bürger(innen) in Ost-Deutschland gravierende Veränderungen in fast allen Lebensbereichen. Eine Messung des Mobilitätsverhaltens vor und nach der Wende (mit vergleichbarer Methodik) gibt uns also gesicherte Erkenntnisse, welche Parameter die Stürme des Lebens unbeschadet überstehen und welche sich anpassen oder verändern. Im Fall des Städtepegels kommt noch hinzu, dass der für die West-Städte gebildete Bestand eine exzellente Kontrollgruppe bildet und schon der Vergleich Ost und West (vor allem vor der Wende) wichtige Erkenntnisse über den Einfluss gänzlich unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Systeme auf das Mobilitätsgeschehen abbildet.

Danach bestätigen sich alle bisherigen Annahmen: Konstant in der Alltagsmobilität sind die Zahl der Aktivitäten, die Zahl der Wege und die tägliche Unterwegszeit. Variabel sind die Verkehrsmittelwahl, die Entfernung und die Geschwindigkeit. Wird ein Verkehrsmittel benutzt, das eine höhere Geschwindigkeit ermöglicht, kann man (bei konstanten Zeitbudget) größere Entfernungen zurücklegen. Eine Steigerung der Mobilität ist das aber nicht, sondern nur eine Ausweitung des Aktionsradiuses. Ganz selten kann man auch sehen, dass dieser Zusammen­hang genauso in umgekehrter Richtung funktioniert. Beim (westdeutschen) Demonstrationsprojekt „Flächenhafte Verkehrsberuhigung“ wurden beispielsweise Nahbereiche wieder attraktiver. Bei konstantem Zeitbudget konnten die Menschen wieder auf langsamere Verkehrsmittel umsteigen und nähere Ziele aufsuchen.

Modal-Split

In der guten alten Zeit der Verkehrsplanung war der Modal-Split nicht – wie heute – das Synonym für Verkehrsmittelwahl, sondern das Verhältnis IV zu ÖV. Dabei beinhaltete „IV“ die Pkw-Fahrer, -Mitfahrer und die motorisierten Zweiräder, also das, was wir heute MIV nennen. Der nichtmotorisierte Verkehr spielte dabei keine Rolle. Da der Modal-Split allen großen Generalverkehrsplänen zugrunde lag, müssen wir uns nicht wundern, dass die Vorsorge für Fußgänger und Radfahrer relativ überschaubar blieb.

Wenn man jetzt für den Städtepegel anstelle der Verkehrsmittelwahl den Modal-Split ausweist, dann werden viele Grundmuster der Verkehrsplanung früherer Jahre deutlich. Dabei sollten wir im Kopf behalten, dass wir hier den Modal-Split auf Wege-Basis darstellen; in vielen Fällen wurde er aber auf Basis der zurückgelegten Entfernung – und damit noch „Pkw-lastiger“ – bestimmt.

In den Ost-Städten (1972) blieben 61 % aller Wege bei der Berechnung des Modal-Split unberücksichtigt; der Anteil IV zu ÖV lag bei 41 zu 59. Schon 1987 hatte der IV die Oberhand (bei einem Pkw-Fahrer-Anteil von einem Sechstel), 1992 lag er bei drei Viertel, seitdem ist er weiter (leicht) gestiegen. Der Anteil der (im Modal-Split) erfassten Wege hat von (1972 =) 100 auf 162, also um knapp zwei Drittel zugenommen (die Zahl aller Wege ist aber 1972 und 2007 mit 2,8 gleich hoch).

 

Eine vergleichbare Tendenz zeigen auch die entsprechenden Ergebnisse für die West-Städte. Die waren allerdings 1972 schon weiter. Der Modal-Split lag bereits bei 67 zu 33 (bei einem Pkw-Fahrer-Anteil von 20 %!) und 1992 mit den Ost-Städten gleichauf. Zu diesem Zeitpunkt war der Anteil der Wege insgesamt leicht gestiegen (von 2,9 auf 3,0), der der im Modal-Split erfassten Wege aber um 27 % (mit leicht steigender Tendenz).

Es zeigen sich ganz deutlich zwei Phänomene, die die Verkehrsplanung, deren Wirken wir heute erleben und erfahren, nachhaltig geprägt haben:

Das „Märchen von der steigenden Mobilität“ (in Wahrheit ist nur die motorisierte Mobilität gestiegen).

Die vermeintliche Dominanz des Autos (Modal-Split-Werte über 50 % IV bei Pkw-Fahrer-Anteilen unter 20 % damals. Oder heute: IV : ÖV etwa 75 : 25 bei Pkw-Fahrer-Anteilen um 40 %)

Hinzu kommt, dass bis in die Gegenwart auch Verkehrsplaner, die Alternativen zum Auto fördern, immer noch mit MIV-Zahlen argumentieren, also der Summe aus Pkw-Fahrer und -Mitfahrer. Da jedes Auto aber einen Fahrer braucht und nur einen hat, gibt der Anteil der Pkw-Fahrer nur wieder, wie viele Autos tatsächlich unterwegs sind. Diese Zahl braucht man für die Bemessung des Straßen- und Parkraums; wird sie durch MIV ersetzt, wären diese Kennziffern zu hoch.

In Kürze

Die Bedeutung des von der TU-Dresden betriebenen SrV geht weit über die aktuellen Analysen der Mobilität hinaus. Eine historische Betrachtung liefert international einmalige Erkenntnisse. Deshalb ist es wichtig, dass das System repräsentativer Verkehrsverhaltensbefragungen (SrV) als valides Instrument der Mobilitätsforschung erhalten bleibt.

 

Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2015, erschienen. 

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