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Diskussion der Handlungsoptionen von Kommunen für die Instandhaltungsproblematik der Straßen: Die aktuelle Situation unter Beachtung des demographischen Wandels, der schlechten Straßenqualität und mangelnde finanziellen Mitteln in den Kommunen, verlangt nach neuen Lösungsansätzen im Straßenbau. Der Vorschlag die Straßen zu „entnetzen“, bedeutet, sie strategisch und unter Beachtung der örtlichen Gegebenheiten zurück zu bauen. In diesem Zusammenhang wird auch oft das Wort „degenerieren“ verwendet, was bewusst das durchdachte Zurückbilden und nicht wie im üblichen Sinne verkommen oder schrumpfen, ausdrückt.

Worum geht’s?

Zentrales Thema der Doktorarbeit „Wenn Straßen zur Last fallen - Zum Umgang mit der kommunalen Straßeninfrastruktur unter Schrump­fungsbedingungen“ von Timo Barwisch ist die Frage, ob der strategische Rückbau des Straßennetzes eine mögliche mittelfristige Option für Kommunen ist. Im Fokus stehen besonders jene Kommunen, die stark von Abwanderung, geringen Geburtenraten und / oder finanziellen Problemen betroffen sind. Welche Vorteile könnten sich aus der Entnetzung ergeben, die ja eigentlich im Gegensatz zum allgemeinen Ansatz, der Verbesserung der Infrastruktur durch einen Ausbau des Netzes, steht?

Theorie

Überprüft wird zunächst, inwieweit sich der Gedanke des „Entnetzens“ im Kontext der Theorie der Netze einbetten lässt. Aufgrund der in der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse wird ein klassifiziertes Kernnetz empfohlen. Ziel ist es hierbei, entbehrliche Straßen abzubauen und nur die Straßen zu sichern, bei denen langfristig eine relevante Verkehrsbedeutung vorliegt. Im Fokus des Rückbaus stehen vor allem Straßen, die ihren ursprünglichen Nutzen verloren haben, die nahe Ausweichrouten haben, deren Rückbau nur zu geringen Umwegen führt, deren Zustand und Alter Sicherheitsrisiken mit sich bringen und / oder die in Bereiche mit aufgegebenen Nutzungen führen. Die vielerorts knappen finanziellen Mittel können oft nicht zielgerichtet in das wichtige Kernnetz investiert werden, welches sich in der Folge kontinuierlich verschlechtern wird. Um ein Kernnetz zu identifizieren, das dieselbe Funktionalität wie das ursprüngliche Straßennetz aufweist, müssen jedoch zuerst passende Kriterien gefunden und ein entsprechender Gesetzesrahmen geschaffen werden.

Gründe für planerisches Handeln

Planerisches Handeln ist, aufgrund der demographischen Entwicklung (niedrige Geburten-raten und Abwanderung) und der daraus resultierenden veränderten Verkehrsentwicklung und Inanspruchnahme der Straßeninfrastruktur, von Nöten. Des Weiteren sind viele Kommunen auch mit geringen Finanzierungskapazitäten konfrontiert, die sich aus dem demographischen Wandel, aber auch aus anderen Faktoren ergeben. Mängel in der Instandhaltung der Straßen zeigen sich vielerorts, die aufgrund der beiden oben genannten Gründe nicht adäquat angegangen werden können. In diesem Zusammenhang wird auch ergründet,ob die Instandhaltungsproblematik charakteristisch ist für bestimmte Regionen oder für die Größe der Kommunen. Ein wesentliches Ergebnis ist, dass die Übererschließung der Räume bedeutender ist als die des demographischen Wandels. Zwölf Beispielstädte dienen der Veranschaulichung.

Der Rückbau kann jedoch nicht nur eine gezielte Antwort auf den demografischen Wandel, die Finazierungsprobleme der Kommunen und die Instandhaltungskrise der Straßen sein, sondern bringt noch weitere positive Effekte mit sich. Diese wären zum einen die Aussicht auf langfristig reduzierte Instandhaltungskosten, die Möglichkeit, Schrumpfungsprozesse räumlich aktiv zu steuern, den Landschafts-und Naturschutz durch eine Wiedervernetzung von Biotopen und Lebensräumen aktiv zu unterstützen, sowie den Tourismus und den Radverkehr zu fördern. Außerdem ergibt sich durch die Konzentration auf das Kernnetz eine geringere innerörtliche Verkehrsbelastung und eine Wiedervernetzung verschiedener Räume.

Hindernisse

Aufgrund des dominierenden Trends der letzten Jahrzehnte, des konstanten Neu- und Ausbaus des Straßennetzes, wird diesem heute noch immer mehr Bedeutung beigemessen als Maßnahmen zur Bestandssicherung. Außer-dem wird auf Schrumpfungsprozesse oft unangemessen reagiert. Ein intelligenter Rückbau ist in der Außenwirkung als schwer vermittelbar, resignativ und unattraktiv zu beschreiben. Dies gilt insbesondere für politische Entscheidungsträger. Insoweit ist es nachvollziehbar, dass auch noch in Zeiten der Schrumpfung, Neuplanungen und Ausbau Konjunktur haben. Da es sich bei den Schrumpfungsprozessen jedoch um eine neue Normalität handelt, bei der nicht auszugehen ist, dass sie sich bald wieder ändert, ist die Forschung in diesem Bereich essentiell für die heutige und zukünftige Planung einer nachhaltigen Straßeninfrastruktur.

Mit dieser „historischen“ Entwicklung verbunden steht die Gesetzgebung: Zusätzlich wird in der Arbeit erörtert, ob und in welchem rechtlichen Rahmen ein Rückbau des Straßennetzes überhaupt möglich ist. Außerdem wird dargelegt, an welchen Stellen in der Gesetzgebung der Rückbau bislang behindert wird. Ferner werden Vorschläge gemacht, wie man diese Hindernisse zugunsten des Rückbaus ausräumen kann. Zum Beispiel sollte die Gesetzgebung dahingehend verändert werden, dass ein Prüfkriterium zur Mindestauslastung von Straßen eingeführt wird.

Neben der Gesetzeslage müssen im Individualfall auch immer örtliche Gegebenheiten betrachtet und diese sowie lokale Akteure in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden, was diesen komplex und langwierig machen kann. Verschiedene Maßnahmen und Wege. die Planung integrativ und das Projekt nachhaltig zu gestalten, werden im Buch diskutiert. Unter diesen befinden sich Öffentlichkeitsarbeit und Trans­parenz bezüglich der Hintergründe und Motivationen für einen Rückbau, um Wissen zu vermitteln und Akzeptanz in der Bevölkerung zu schaffen. Außerdem sollte die Zivilgesellschaft sowie andere Akteure verschiedener Ebenen und Felder mit in das Projekt einbezogen werden.

Obwohl der Ausbau der Straßeninfrastruktur oft zu einer besseren Erreichbarkeit und zu positiven Entwicklungen in anderen Bereichen geführt hat, gab es auch Fehlentscheidungen in der Straßenplanung. Jedoch ist das Einräumen dieser Fehlentscheidung und / oder die Zurücknahme von Maßnahmen und eine Änderung der Strategie im Straßenbau keine gängige Praxis. Grundsätzlich wurde erkannt, dass der Verkehrsbereich veränderungsresistent ist, was vor allem bei einem so revolutionären Konzept wie dem Rückbau Probleme bereiten könnte. Unter anderem deshalb, aber auch ganz grundsätzlich, ist der politische Wille essentiell. Um die breite Öffentlichkeit zu über-zeugen, müssen zuerst die betreffenden Politiker vom Konzept „Rückbau“ überzeugt sein, denn es darf nicht vergessen werden, dass auch ein Rückbau kurzfristig Kosten verursacht und erst langfristig zu gewünschten Einspareffekten führt. Als positiver Aspekt unter den ersten zu sein, die den Rückbau realisieren, ist die Chance, als Modellbeispiel Vorbild für andere zu werden.

Wertewandel

So wie sich im Bereich Umweltbewusstsein ein gesellschaftlicher Wandel vollzogen hat, so könnte sich auch zum Thema Rückbau die gegenwärtige allgemeine Haltung verändern. Dadurch würden zukünftig beide Aspekte, der Rück- und Ausbau, Beachtung in der Planung finden. Ein weiterer Wertewandel hinsichtlich der Assoziation des Begriffs „Abgeschiedenheit“ könnte sich vollziehen: heute meist negativ behaftet könnte „Abgeschiedenheit“ schon bald eine positive Assoziation hervorrufen, denn abgeschiedene Räume können einen großen Nutzen für den Tourismus oder den Naturschutz haben. Unter diesen veränderten Wertevorstellungen wäre der Rückbau als Option in der Straßenplanung deutlich realistischer.

Kriterienliste

Alle oben genannten Schritte und Aspekte werden in einer abschließenden Modellrechnung zusammengefasst, aus der sich dann ablesen lässt, wie sich die beiden Konzepte Erhalt und Rückbau des Straßennetzes finanziell über die nächsten Jahre entwickeln. Damit lässt sich bestimmen, ob und in welchen Fällen ein Rückbau des Straßennetzes in Frage kommt, denn dieser ist keine Universallösung. Für manche Kommunen kommt die Entnetzung nicht als Handlungsoption in Frage, andere setzen sie möglicherweise in Kombination mit anderen Alternativen um, die auch innerhalb der Arbeit dargestellt werden. Der Rückbau kann auch als Chance gesehen werden, andere Probleme in der Straßeninfrastruktur zur selben Zeit anzugehen.

Um die Entscheidung für oder gegen einen Rückbau in Einzelfällen zu vereinfachen, wurde eine Kriterienliste erstellt, die den Trägern der Baulast als Hilfsmittel bei der Erstellung einer planerischen Gesamtstrategie für einen Raum dienen kann. Die Kriterienliste kann auch für Öffentlichkeitsarbeit oder als Argumentationsgrundlage dienen.

Fazit

Eine Tendenz zur Übersättigung im Ausbau des Straßennetzes ist in einigen Teilen der Republik zu erkennen. Die Entnetzung kann helfen, das Straßennetz auf eine solche Größe zu reduzieren, dass es nachhaltig und entsprechend seiner Funktion und Auslastung unterhalten werden kann. Außerdem finden im Konzept „Rückbau“ Aspekte wie die finanzielle Machbarkeit und neben dem erwähnten tatsächlichem Bedarf auch weitere Vorteile Beachtung.

Die der derzeitigen Politik und Planungspraxis zugrunde liegenden Konzepte sind aufgrund der Forschungsergebnisse nicht zukunftsfähig. Die traditionelle Begründung des Netzausbaus, der volkswirtschaftliche Nutzen durch Zeitersparnis, muss differenzierter gesehen und gegebenenfalls durch einen oder mehrere neue Ansätze ersetzt werden. Zukünftig sollte die Ausgestaltung des Netzes, vereinfacht gesagt, mit der prognostizierten Bevölkerungsentwicklung abgeglichen werden.

In Kürze

Der demografische Wandel, leere öffentliche Kassen und Probleme bei der Instandhaltung der Straßennetze stellen viele Kommunen vor eine große Herausforderung. Im Beitrag wird der Vorschlag unterbreitet, Straßen strategisch zurückzubauen. Dabei werden Potenziale und Hindernisse aufgeführt.

Literatur:

Timo Barwisch (2014): Wenn Straßen zur Last werden – Zum Umgang mit der kommunalen Straßeninfrastruktur unter Schrumpfungsbedingungen. Hamburg, 2014. Verlag Dr. Kovac

 

Dieser Artikel von Hannah Thein ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2015, erschienen. 

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