Ulrich Leth von der TU Wien forderte im November in der Tageszeitung „Die Presse“, dass rote Ampelsignale nur noch für Kraftfahrzeuge bindend sein sollten, Fußgänger und Radfahrer/innen dagegen rote Ampeln überqueren dürfen, solange sie nicht sich oder die Verkehrsteilnehmer/innen mit grünem Signal gefährden oder behindern. (1) In das gleiche Horn stößt Geert van Waeg, Präsident der internationalen Fußgängervereinigung. Die wesentlichen Thesen der beiden wurden von der mobilogisch!-Redaktion zusammengestellt. Danach folgt eine kurze Contra-Stellungnahme.
Leth argumentiert, dass Ampeln im Prinzip dem Interesse des Kfz-Verkehrs (freie Fahrt, hohe Tempi) dienten, jedoch den Interessen der unmotorisierten Verkehrsteilnehmer/innen widersprächen: „Die Leichtigkeit und Flüssigkeit, oft auch die Sicherheit des nicht motorisierten Verkehrs wird der Leichtigkeit und Flüssigkeit des Autoverkehrs untergeordnet.“
Vorschriften und Methoden der StVO seien nur der unübersichtlichen und isolierten Windschutzscheiben-Perspektive der Autofahrer/ innen sowie dem Gefährdungspotenzial der Kraftfahrzeuge geschuldet. „Ampeln dienen lediglich dazu, die verunmöglichte direkte Kommunikation der motorisierten Verkehrsteilnehmer untereinander und zu anderen zu kompensieren.“
Daraus ergebe sich die Forderung nach einer Flexibilisierung der StVO für unmotorisierte Verkehrsteilnehmer/innen. Konkret solle es Radfahrer/innen möglich sein, Stopp- genau wie „Vorfahrt beachten“-Zeichen ohne stehenbleiben zu müssen überfahren zu dürfen. Ebenso sollten Fußgänger und Radfahrer rote Ampeln überqueren dürfen. Ampeln seien am Kfz-Verkehr orientierte Maßnahmen, daher sei es nicht nachvollziehbar, dass diese Regeln auch für die anderen Verkehrsteilnehmer gelten sollten. Vor allem „die Ausschaltung jeglicher Eigenverantwortung durch diese Überreglementierung“ sei äußerst fraglich.
Leth geht auch der Frage nach, wieso Radfahrer und Fußgänger rote Ampeln überqueren dürfen sollten, Autos jedoch nicht: Unmotorisierte sähen Kreuzungsbereiche unmittelbar wegen der fehlenden Motorhaube ein, hörten herannahende Gefahrenquellen, haben eine höhere Sitz/Stehposition als die Autofahrenden, könnten in Sekundenbruchteilen beschleunigen und abbremsen, besäßen durch ihre geringe Masse kaum Trägheit und ein geringes Gefährdungspotenzial für Andere. Hingegen seien Autofahrer/innen auf Grund ihrer „Cockpit-Sicht in ihrer visuellen und akustischen Wahrnehmung massiv beeinträchtigt und können niemals so schnell und flexibel wie Nichtmotorisierte reagieren.“
Zu der Frage, wie man z.B. zu schnell fahrenden oder falschparkenden Autofahrer/ innen entgegen treten solle, wenn diese über falsche Prioritäten bei der Ahndung von Fehlverhalten klagen nimmt Ulrich Leth folgendermaßen Stellung: „Die Prioritäten bei der Ahndung von Fehlverhalten (übrigens auch die Strafhöhen) sollten sich meiner Meinung ohnehin am Gefährdungspotenzial orientieren (und das ist nun einmal bei Fußgängern und Radfahrern und Größenordnungen kleiner als bei Autos). Für die Exekutive wäre eine Legalisierung dieses geplanten ‚Fehlverhaltens‘ eine Möglichkeit, sich guten Gewissens den gefährlicheren Delikten zu widmen,“ insbesondere da Ampeln auch keinen absolut wirksamen Schutz vor den Autos böten.
Hintergrund:
Als Fußgänger/in rotes Wechsellichtzeichen nicht befolgt kostet – selbst „mit Gefährdung“- fünf Euro. Per Rad oder per Kfz Rot ignoriert beträgt das Bußgeld 90 Euro, bei Gefährdung bzw. wenn die Ampel bereits länger als eine Sekunde Rot zeigte mindestens 200 Euro.
Radler/innen werden im Bußgeldkatalog wie Kfz-Lenker/innen behandelt, bei ihnen geht man also von einem hohen Risiko aus.
Lfd. Nr. 130 und 132 im Bußgeldkatalog 2013. Grundlage ist § 37 StVO
Nach Veröffentlichung des Beitrags von Ulrich Leth gab es einerseits positive Reaktionen, es brach aber auch eine Lawine von Leserbriefen und Kommentaren auf die Seite der veröffentlichenden Wiener Zeitung „Die Presse“ mit dem Tenor ein, dass sich Zeitung und Autor hiermit auf ewig disqualifiziert hätten. Ein Leser wagte immerhin eine Gegenfrage: „Ist keine Ampel vorhanden, schaut man links und rechts und geht, wenn kein Auto kommt. Und wenn da eine Ampel steht, ist das auf einmal lebensgefährlich?“
Ampeln schützen beim Straßenseitenwechsel im besten Fall vorm Querverkehr. Die größte Gefahr kommt jedoch von hinten links, aber auch von vorne links im Längsverkehr. Dieser Kfz-Verkehr hat idR sowieso gemeinsam mit dem Radler/ der Fußgängerin grün. Die Befolgung der Lichtzeichen der Ampel bringt in dieser Hinsicht nicht ein Mehr an Sicherheit. Ein aufmerksames Umschauen nach allen Seiten hilft also auch bei grünem Signal.
Dieses Alltagswissen wird durch eine Studie unterstützt, die Geert van Waeg, Präsident der IFP, auf der WALK21-Konferenz in München vorstellte. Er beobachtete in sieben Städten der Welt jeweils eine typische innerstädtische Kreuzung mit Fuß- und Kfz-Verkehr (keine deutsche Stadt). Kurz zusammengefasst:
Hintergrund:
Die Unfallstatistiken Deutschlands zeigen folgendes Bild: Im Jahr 2012 haben mehr als 5.000mal Autofahrer/ innen Lichtzeichen nicht beachtet, so dass es zu Unfällen mit Personenschäden kam. Fußgänger/innen und Radler/ innen verursachten jeweils weniger als ein Viertel entsprechender Unfälle bei diesem Fehlverhalten.
Aber was ist mit dem Vorbild für die Kinder? Können diese nachvollziehen, dass man „nicht einfach so“ bei rot über die Fahrbahn gehen bzw. radeln darf? Klar ist: Kinder werden im Laufe ihres Lebens immer mit Situationen konfrontiert, wo jemand etwas falsch macht, jedoch wäre es bei dieser Regelung komplizierter, da sie nicht aus einem klaren „Du darfst nicht“ besteht, sondern eine Erlaubnis unter schwierig einzuschätzenden Bedingungen darstellt.
Ulrich Leth dazu: „Ich finde es höchst interessant, dass das Argument der Vorbildfunktion für Kinder aufgekommen ist - das ist das erste Mal, dass sich die Autolobby um die Kinder sorgt. Und auch in anderen wichtigen, gesellschaftspolitischen Themenbereichen wurde die Vorbildfunktion für Kinder noch nie herangezogen (z.B. bei der Debatte um Rauchverbote in Lokalen, Alkoholmissbrauch, ..). Selbst die Helmpflicht für Radfahrer wurde in Österreich nur für Kinder unter 12 Jahren eingeführt - nicht für Erwachsene, die ja die Vorbilder sein sollten.
Aber es stimmt natürlich: Kinder sind aufgrund ihrer Größe, geistigen Entwicklung und mangelnden Erfahrung oft noch nicht in der Lage, Verkehrssituationen (z.B. Annäherungsgeschwindigkeiten von Kfz) richtig einzuschätzen. Deshalb sind sie auch vom Vertrauensgrundsatz ausgenommen. (2) Jeder Autofahrer, der an einem Kind, das an einer roten Ampel wartet, mit 50 vorbeifährt, wäre also auch jetzt schon schuld im Falle eines Unfalls. Statt unsere Kinder verkehrsgerecht zu machen, sollten wir den Verkehr kindergerecht gestalten, d.h. ein fehlerverzeihendes Umfeld schaffen, um den Kindern die ersten Schritte im Straßenverkehr gefahrlos zu ermöglichen.
Das blinde Vertrauen in die Sicherheit auf geregelten und ungeregelten Schutzwegen ist ohnehin fehl am Platz (s. Zebrastreifenunfälle). Es hätte ja auch eine Vorbildfunktion, wenn sich Erwachsene bei roter Ampel versichern, dass weit und breit kein Auto kommt, und dann die Straße überqueren.“
Geert van Waegs Fazit zum Thema Kinder: Wir sollten den Kindern beibringen, dass sie bei rot gehen können, aber die Autos Vorrang haben und dass die Fußgänger bei grün Vorrang haben.
In etlichen anderen Staaten werden rote Ampeln auch von Fußgängern lediglich als Vorschlag angesehen. In Großbritannien ist es z.B. üblich, dass Fußgänger bei rot die Straßenseite wechseln. Der „Highway code“, die britische Version der StVO, arbeitet mit „should/ should not/ is adviced to“ statt mit „must not“ bei diesen „Empfehlungen“ für Fußgänger. (3) In Norwegen ist es ebenfalls erlaubt, in Schweden wurde in diesem Jahr die Strafbewehrung dafür aufgehoben.
Insbesondere um das Radfahren attraktiver zu machen, aber auch um das Risiko von Verkehrsunfällen zu senken, erlaubt die Stadt Paris Radfahrern seit 2012 bei einigen ausgewählten Ampeln weiterzufahren, auch wenn das Signal rot anzeigt. Diese Erlaubnis gilt jedoch nur, wenn der Radfahrer geradeaus fahren oder rechts abbiegen will und kein Querverkehr kommt. Für Fußgänger/innen muss stets angehalten werden, nicht erlaubt ist das Linksabbiegen.
Nicht alle, und zwar nicht nur die „üblichen verdächtigen“ Autofahrer, sind von dieser Regelung angetan: Die Pariser Grünen beobachten die Entwicklung genau, weil sie um die Sicherheit der Fußgänger fürchten. Deswegen wird das neue Verkehrsschild inzwischen nur noch sehr restriktiv eingesetzt.
Brüssel hat inzwischen nach Einführungsversuchen die „Pariser Lösung“ übernommen. Grünpfeil-Regelungen ausschließlich für rechtsabbiegende Radler werden im Augenblick in Basel im Rahmen eines Pilotprojektes untersucht.
Es ist eine populistische Forderung, an der sich zwar auch mal die Fußgängerinnen und Fußgänger abarbeiten könnten, die aber leider weder den Kern unser versignalisierten Städte trifft, noch die fußgängerfeindliche Signalisierung.
Als Fußgänger-Lobby wäre es für FUSS e.V. widersprüchlich, dass der Verein für die Autos „Rot muss Rot sein“ fordert (Grünpfeil), ja sogar gegen die sogenannte „bedingt verträgliche“ gleichzeitige Grünschaltung argumentiert und stattdessen Rot für Autos will; bei den Fußgängern aber meinen würde, sie könnten doch bei Rot gehen.
Für Kinder und deren erwachsenen Vorbildern vor Ort ist das Rotgehen ohnehin unverantwortlich. Es wäre wegen der Sichtfeldverringerung auch älteren Menschen nicht zu empfehlen, Aber wann ist ein Mensch „älter“? Und ab welchem Alter kann man es Kindern zutrauen, die Situation richtig einzuschätzen? Gibt es Erkenntnisse, wie die Sicherheit insbesondere der Kinder an Ampeln in den Ländern aussieht, die das Rotgehen auf eigene Verantwortung erlauben? Wie sieht es aus mit der „Sogwirkung“ von Rotgehern auf Wartende, die – wie häufig zu beobachten – dem Querenden „blind“ folgen?
Zum häufigsten unfallverursachenden Fehlverhalten der Fußgänger zählt das Missachten des Rotlichts an Lichtsignalanlagen (jeder fünfte durch Fußgänger verursachte Unfall). (4) Rotgehen kann also keine realistische Forderung sein!
Fraglich ist generell, wie realistisch es ist, heutzutage den unmotorisierten Verkehr auf Mischflächen mit dem Kfz-Verkehr quasi abkoppeln zu können.
Und wie könnte eine rechtliche Regelung für den Fall aussehen, dass es beim Rotgehen bzw. -radeln zu einem Unfall mit einem Kfz kommt, das bei Grün gefahren ist? Soll dann stets der Unmotorisierte der hundertprozentig alleinige Verursacher und Schuldige sein?
Wenn das Radeln bei Rot konsequenterweise auch noch erlaubt wäre, würde es hier zu (noch mehr als bislang) praktischen Problemen zwischen Fußgängern und Radlern kommen – insbesondere beim Rechtsabbiegen kreuzt der Radverkehr die Wege der Fußgänger/innen.
Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2014, erschienen.
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