„Gib Obacht“ bis „Rücksicht – besser als Vorsicht“ gibt es ein großes Vokabular von guten Ratschlägen zum Verkehrsverhalten. In Kindersprache kann „Bei Rot stehen – bei Grün gehen“ mit Wink-Elementen in der Hand noch ganz lustig sein, wenn`s denn auch den Kern treffen würde. Bei Jugendlichen ist die „Verkehrserziehung“ eher ein Tabuthema und Erwachsene verstehen beim Wort „Mobilitätstraining“ bestenfalls Bahnhof. Schön wär`s, wenn sie ihn auch benutzen würden. Und versuchen Sie nicht, einem älteren Menschen etwas über die „Verkehrssicherheitsarbeit“ zu erzählen, ohne gleichzeitig Kaffee und Kuchen anzubieten. Verhaltens-Regeln und -Tipps für die Teilnahme am Straßenverkehr und selbst das Wort „Verkehrssicherheit“ stehen mit Sicherheit nicht oben auf der Beliebtheitsskala. Dennoch kann die Verantwortung an der eigenen Sicherheit nicht unter den Teppich gekehrt werden.
Vor knapp zwei Jahren stellte der FUSS e.V. das Konzept einer Verkehrssicherheitsarbeit für ältere Menschen ins Netz, welches weit über das Regelwissen hinausgeht und insbesondere den Erhalt der eigenen Gesundheit und Beweglichkeit einbezieht. Die Informationen wurden allerdings anfänglich eher von Multiplikatoren aufgerufen. Deshalb wurde der Umfang der Angebote und Projekte im Verkehrssicherheitsbereich auf der Website www.senioren-sicher-mobil.de seither schrittweise erweitert. Bisher fehlte allerdings die direkte Ansprache der Zielgruppe mit praxisbezogenen Tipps und Hinweisen zur Verkehrsteilnahme und zum Verkehrsverhalten.
Das war kein Zufall, sondern „systemimmanent“. Von den sechs Säulen der Verkehrssicherheitsarbeit (vgl. mobilogisch! 3/11, S. 14-18) beschäftigen sich umweltorientierte Verkehrsverbände vorrangig mit folgenden fünf Themen: Die Verbesserung von Wegesystemen und Querungsanlagen, eine intensivere Verkehrsüberwachung, die Wahl von weniger unfallverursachenden Verkehrsmitteln, eine Preisgestaltung zugunsten öffentlicher Verkehrsmittel sowie für die Förderung von Bewegung und körperlicher Betätigung. Die sogenannten „verkehrserzieherischen Maßnahmen“ bleiben dabei häufig auf der Strecke, obwohl diese auch mit den anderen Maßnahmen verknüpft sind.
Die Verkehrserziehung steht dagegen in Deutschland seit Jahrzehnten bei den großen Verkehrssicherheitsorganisationen in der ersten Priorität. Federführend bei den Ratschlägen für das „richtige Verhalten“ im Straßenverkehr waren bisher sehr häufig autoorientierte Interessengruppen. Und so ist es auch kaum verwunderlich, wenn Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad immer wieder eindringlich empfohlen wird, aus Sicherheitsgründen eher auf ihre Rechte zu verzichten. Diese werden aber häufig gar nicht erst erläutert.
Durch Spenden und mit Unterstützung der Verkehrslenkung der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt konnte FUSS e.V. in den letzten Monaten Verhaltens-Hinweise für alle Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer zusammenstellen, die weit über den bisherigen Horizont der „Verkehrserziehung“ hinaus gehen. Die Verkehrssicherheit ist dabei eingebunden in den Wunsch, die Mobilität der Menschen bis ins hohe Alter zu erhalten. Zielgruppe der zugrundliegenden Unfallanalysen waren zwar ältere Menschen, jedoch sind die daraus entstandenen Hinweise und Hintergrundinformationen weitgehend generationsübergreifend. Erstmals konnten Verhaltens-Tipps an Rad- und Autofahrer auch aus der Sicht von Fußgängern formuliert werden.
Die sogenannte Präambel in persönlicher Ansprache: „Wenn Sie mobil und beweglich bleiben wollen, sowie Eigenunfälle und die Beteiligung an Straßenverkehrsunfällen vermeiden möchten, sollten Sie drei Grundsätze beachten:
Das klingt selbstverständlich, doch wurden von diesen Grundsätzen in der Verkehrssicherheitsarbeit bisher Punkt 2 herausgehoben, Punkt 1 kommt langsam und vorsichtig hinzu (Stichwort: Den Arzt fragen.) und Punkt 3 wird auch heute noch häufig ausgeblendet.
Für die vier angesprochenen Verkehrsteilnehmergruppen (Fuß, Rad, Bus+Bahn, Auto) wurden im Wesentlichen jeweils sechs Themenbereiche zusammengestellt: 1. die Kleidung bzw. Ausrüstung und technische Ausstattung, 2. die Vorbereitung einer Unternehmung und Verkehrsmittelwahl, 3. die selbstbewusste und auf Sicherheit ausgerichtete Verkehrsteilnahme, 4. die Sicherheit auf allen Wegen, 5. die Besonderheiten beim Queren der Straße bzw. beim Abbiegen durch Fahrzeuge und 6. der Erhalt der eigenen Verkehrstüchtigkeit. Von diesen werden folgend nur die ersten drei beispielhaft angerissen, die bisher selten umfassender im Zusammenhang mit der Verkehrssicherheit angeführt werden:
Eigentlich sind nur drei Stichworte zu diesem Thema in der öffentlichen Diskussion: Fahrerassistenzsysteme, Radlerhelme und helle Kleidung für Fußgänger. Hierzu sind die Hinwiese aus der Verkehrssicherheitsarbeit teilweise sehr kontrovers und es bleibt abzuwarten, ob unsere unaufgeregten Hinweise andere Interessengruppen aufregen:
Wir empfehlen Autofahrerinnen und Autofahrern eine kritische Analyse von angebotenen technischen Hilfen, warnen vor der Ablenkung durch zu viel Technik und geben dazu erste Hilfestellungen. Nicht zufällig wurde allerdings die Fragestellung, ob denn ein eigenes Auto überhaupt notwendig ist (Stichwort: CarSharing), an die erste Stelle des Themenbereiches „Auto nur Mittel zum Zweck“ gesetzt. Herausgestellt wird darüber hinaus die möglichst freie Rundumsicht, der gute Sitz und die einfache und übersichtliche Bedienung des Fahrzeuges.
Beim Fahrradhelm bieten wir lediglich Hinweise auf Entscheidungsgrundlagen, aber auch praktische Einkaufshilfen für diejenigen, die sich für das Tragen eines Helmes entschieden haben. Die Ablehnung auch einer schleichenden Einführung der Helmpflicht ist mobilogisch-LeserInnen bekannt. Hervorgehoben wird der Schutz der Augen (Witterung, Kleintiere, Blendung), das Anbringen eines Rückspiegels sowie die stabile und fahrsichere Unterbringung von Gepäck.
Obwohl helle Kleidung Fußgänger sichtbarer machen kann, gibt es auch hier die Empfehlung, über die Kleidung selbst zu entscheiden, allerdings dem Grad der Vorsichtigkeit entsprechend anzupassen. Zu den von der entsprechenden Industrie kontinuierlich angepriesenen Selbstbeleuchtungselementen geben wir keine Einkaufshilfen, wohl aber zur Geh- und Standsicherheit bei ungünstigen Wetterlagen, um Eigenunfälle zu vermeiden.
Sie spielt bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eine besondere Rolle, doch sind Routenauswahl, evtl. veränderte Abfahrzeiten, barrierefreie Angebote, etc. örtlich unterschiedlich und konnten deshalb nur recht allgemein formuliert werden. Speziell für Berlin (Auftraggeber) wurde eine zusätzliche Information „Berlin-Tipps“ eingefügt. Wesentlich ist, Unsicherheiten und Hektik möglichst weitgehend im Voraus auszuschalten und auch die Rückfahrt schon vorher zu planen.
Noch wesentlicher ist die Vorbereitung insbesondere von älteren Menschen bei einer geplanten Autofahrt. Hier werden leider immer wieder bei der Fehlentscheidung der Verkehrsmittelwahl (Autofahrt trotz eigener Beeinträchtigungen, Stoßzeiten, ungünstigen Sichtverhältnissen, Straßenglätte, etc.) die Weichen für Verkehrsunfälle schon beim Zuziehen der Haustür gestellt. Hinweise, die auch bei der Verkehrssicherheitsarbeit von Autoclubs eine zunehmende Bedeutung erlangen. Wobei es häufig um Verzicht bzw. Verschiebung der Autofahrt geht und weniger um die Nutzung anderer Fortbewegungsmittel.
Im Gegensatz zu den üblichen Aussagen wie z.B. „sei fair“ werden hier sehr konkrete Hinweise gegeben, die teilweise sicherlich kontrovers zu diskutieren sind. Hier geht es letztlich um den Grenzbereich zwischen der „Durchsetzung von eigenen Rechten“, einer „selbstbewussten Verkehrsteilnahme“ und dem „Verzicht auf Rechte zum Schutz des eigenen Körpers“ – eine sehr schwer definierbare „rote Linie“, die im Ernstfall sehr kurzfristig überschritten werden kann. Einerseits. Andererseits geht es natürlich auch nicht an, in der Verkehrs-Hierarchie immer nur sich „dem Stärkeren“ unterzuordnen. Ein überaus spannendes Thema.
Kommen wir noch zu einem „Nebenschauplatz“, der allerdings die Verkehrssicherheitsarbeit ziemlich prägt: Mit Ausnahme von Kindergarten- und Schulkindern sind alle anderen Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer als Zielgruppe schwer erreichbar und häufig pädagogischen Aussagen gegenüber wenig aufgeschlossen. Viele Menschen möchten bis ins hohe Alter „dazu lernen“, doch nach Abschluss der Schulzeit möchten nur noch wenige „erzogen“ oder „trainiert“ werden. Vielleicht lässt man sich aber gerne einmal „beraten“. Die Wortwahl muss also recht behutsam erfolgen und der erhobene Zeigefinger kommt schon gar nicht an.
Ein verschärftes Problem hat uns die Industrie mit ihrer Produktwerbung beschert, denn hier gilt der Grundsatz, dass die Menschen und insbesondere ältere Menschen niemals auf ihr Alter angesprochen werden dürfen. Selbst Hilfskrücken wie die „50+ Generation“ oder die „neue Generation von Senioren“ sind überholt. Jeder ist sportlich, chic, aktiv und mobil, bis auf diejenigen, die es nun ganz offensichtlich nicht (mehr) sind. Das sind dann „Menschen mit Mobilitäts- und kognitiven Einschränkungen“ (vorgeschriebene Wortwahl von Veröffentlichungen des Berliner Senats).
Wir leben offensichtlich in einer sehr sensiblen Welt, in der eine Website wie „www.senioren-sicher-mobil.de“ eigentlich als Begriff nicht geht: Die Ansprache der Zielgruppe „Senioren“ darf nicht auftauchen, das Thema „Sicherheit“ besitzt für die nicht anzusprechende Zielgruppe wenig Informationsattraktivität und das Ziel „mobil zu sein“ gehört bei vielen Menschen nicht zum Wortschatz. Sie „fahren“, müssen sich fahren lassen oder können nicht mehr fahren. Aber halt! Über Rollstühle, Rollatoren, etc. lieber nicht reden, dadurch könnte sich jemand „alt fühlen“ und das ist weitaus schrecklicher als alt zu sein. Wenn man bei den Infrastrukturmaßnahmen nur halb so sensibel empfindliche Verkehrsteilnehmer berücksichtigen würde, hätten wir in Deutschland Traumstädte.
FUSS e.V. hat mit diesem Projekt „Neuland“ betreten. Wir haben uns darum bemüht, mögliche Konfliktpunkte sachlich darzustellen und Vorschläge zur Verminderung von Unfallrisiken durch umsichtiges Verkehrsverhalten zu unterbreiten. Und wir haben bestrebt, in den zahlreichen Hinweisen kein „defizitäres Altersbild“ durchscheinen zu lassen, obwohl es Altersveränderungen gibt, die gemessen an der Lebensblüte selbstverständlich defizitär sind.
Wichtig ist uns, das Selbstbewusstsein zu fördern. Seiner selbst bewusst sein, kann für Fußgänger z.B. bedeuten, auf seine Rechte deutlich aufmerksam zu machen. Für Autofahrer kann es bedeuten, auf eine Fahrt zu verzichten, wenn es einem eigentlich nicht gut geht. Darüber hinaus war es unser Anliegen, sogenannte Verkehrserziehungs-Aspekte in die anderen fünf Säulen der Verkehrssicherheitsarbeit einzubinden. Insofern sollen diese Hinweise auch die Partizipation der Bürger fördern: Wenn die Gegebenheiten vor Ort nicht stimmen, ist es mitunter ziemlich schwierig, sich verkehrssicher zu verhalten. Also müssen, auch von den Senioren, Veränderungen eingefordert werden.
Geben Sie bitte die Informationen weiter an alle Menschen, die sich für die Gesundheit, Verkehrssicherheit, eine nachhaltige Mobilität und Lebensqualität in unseren Städten einsetzen. Unterstützen Sie die Öffentlichkeitsarbeit und die thematische sowie strategische Weiterentwicklung mit Ihren Ideen oder gar Ihrer Tatkraft.
FUSS e.V. hat den im deutschsprachigen Raum umfassendsten Internet-Service zum Thema Verkehrssicherheit für Senioren durch eine zielgruppen- und praxisorientierte Rubrik mit Verhaltens- und Nutzer-Hinweisen (Fuß, Fahrrad, ÖPNV, Auto) sowie einer Beratung bei der Ausrüstung (Kleidung, Fahrrad-, Autoausrüstung, Geh-Hilfen, etc.) erweitert. Diese Zusammenstellung erfolgte auf der Grundlage von wissenschaftlichen Kriterien für die Ansprache der älteren Generation (Botschaften), fiel aber letztlich generationsübergreifend aus. Dabei wurden ganz gezielt alle möglichen sicherheitsrelevanten Verhaltensweisen und Gegebenheiten unter die Lupe genommen.
Auf der Website finden Sie alle Quellenangaben zu diesem Beitrag.
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2013, erschienen.
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