In einem Pilot-Projekt der Regierung von Western Australia wird gezeigt, dass Aktivitäten zur Steigerung der körperlichen Bewegung leicht in den normalen Alltag integriert werden können. Das verbessert die Gesundheit und das Lebensgefühl.
Unter dieser Überschrift hat Christina Berndt in der Süddeutschen Zeitung (Nr. 257, 7.11.2012) einen Bericht aus der Fachzeitschrift Plos Medicine von amerikanischen Wissenschaftlern vom US National Cancer Institute und der Harvard- Universität zusammengefasst. Dabei haben die Epidemiologen „sechs Langzeitstudien mit insgesamt 650.000 Teilnehmern ausgewertet“.
Hieraus können sie „ziemlich konkrete Zahlen nennen: So gewinnen Menschen, die sich pro Woche 2,5 Stunden bewegen, wie dies üblicherweise empfohlen wird, gegenüber absoluten Bewegungsmuffeln im Durchschnitt 3,4 Lebensjahre hinzu“.
Noch wichtiger ist aber die Botschaft, dass „das Wort 'bewegen' in all seiner Zartheit gemeint ist. Man muss nicht gleich mit dem Mountainbike durchs Gelände rasen oder die Hanteln im Fitnessstudio schwingen. Vielmehr verlängern über 40-jährige ihr Leben bereits um etwa 1,8 Jahre, wenn sie täglich gut zehn Minuten lang flott gehen ...“ Dementsprechend sagt „Hans- Christoph Diener, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen: 'Wer sich aufrafft, wird belohnt.' Das ist auch das wichtige Fazit in den Augen des Sportmediziners Jürgen Steinacker von der Universitätsklinik Ulm: 'Es gibt so viele Menschen, die 2,5 Stunden Sport pro Woche gar nicht leisten können ...' Nun zeige die US-Studie im Einklang mit weiteren Arbeiten: 'Einen Gesundheitsgewinn kann man relativ leicht erreichen.' Denn schon ein bisschen Bewegung senke das Risiko für Herz- Kreislauf-Erkrankungen um 40 Prozent und das Krebsrisiko um bis zu 50 Prozent. Auch trete die Alzheimer-Krankheit im Durchschnitt drei bis vier Jahre später auf. 'Überall zeigt sich: Bewegung hilft!', sagt Steinacker. Nicht zuletzt steigere sich auch das Wohlbefinden, mache zufriedener, ausgeglichener und hebe die Stimmung.“
Ähnliche Überlegungen haben die Regierung von West-Australien in Perth dazu bewogen, in einem Pilot-Projekt Menschen zu mehr körperlicher Bewegung anzuregen. Erklärtes Ziel hierbei war es, die zusätzliche Bewegung vor allem in die täglichen Alltagsroutinen zu integrieren und gerade nicht durch regelmäßigen zusätzlichen Sport zu erreichen. Dafür wurde ein Gebiet gewählt (Rockingham, südlich von Perth) mit einer älteren Bevölkerung und (leicht) unterdurchschnittlichem sozialen Status (denn gerade in diesen Bevölkerungskreisen zeigen sich die größten Probleme). Das Projekt wurde von drei Ministerien gefördert (Sport, Gesundheit und Verkehr) und von mehreren einschlägigen NGO’s (Non-Governmental-Organisations) unterstützt.
Die gewählte Zielgruppe umfasste 500 Haushalte (knapp 1.200 Personen). Das vorgegebene Projekt-Ziel war, die Bürgerinnen und Bürger zu mehr körperlicher Bewegung zu motivieren und bei der Erreichung einer gesünderen Lebensweise zu unterstützen. Die Vorgabe für das Projekt, das von Socialdata Australia durchgeführt wurde, war für die gesamte Zielgruppe festgelegt und sollte eine Steigerung der körperlichen Aktivität von fünf Minuten pro Person und Tag erreichen. (Lokale Experten hatten starke Zweifel, dass dieses Ziel bei dieser Zielgruppe erreichbar wäre.)
Das zugrundeliegende Projekt-Design war orientiert am Konzept des Individualisierten Marketings (siehe mobilogisch! Ausgabe 1/13, Februar 2013 und 2/13 Mai 2013) und wurde ergänzt durch eine spezifische „interaktive Phase“. Besonders wichtig war den Auftraggebern eine seriöse Evaluierung. Da alle Möglichkeiten der körperlichen Bewegung gefördert werden sollten (z. B. innerhalb des Hauses oder auch Gartenarbeit) wurde eine Tagebuch-Methode gewählt die alle Aktivitäten über einen Zeitraum von sieben Tagen erfasst. Diese Methode ist sehr anspruchsvoll, wird seit über 60 Jahren schon international praktiziert und ist unter dem Namen „Time Budget Survey“ bekannt ist.
Der erste Teil des Projektes folgte eng dem Konzept des Individualisierten Marketings: Es wurden alle 500 Haushalte kontaktiert (telefonisch oder persönlich), auf das Projekt hingewiesen und zu einer Teilnahme motiviert. Ein erfolgreicher Kontakt kam bei 486 Haushalten zustande(97 %). (In diesem Kontakt wurde den potenziellen Teilnehmern das Projekt erklärt und ihre Teilnahmebereitschaft ermittelt. Fast sechs Siebtel der kontaktierten Haushalte waren an einer Teilnahme interessiert (Gruppe „I“, 83 %)! Nur jeder Siebte (Gruppe „N“, 14 %) konnte sich nicht zu einem Mitwirken entschließen und drei Prozent der Haushalte waren bereits so aktiv (und fit), dass ihre Teilnahme keinen Sinn ergeben hätte (Gruppe Aktive ohne weiteren Informations- oder Motivationsbedarf: „A without“).
Mitglieder der Gruppe „A“ erhielten ein nettes Schreiben von den Ministerien und ein schönes Geschenk, Mitglieder der Gruppe „N“ wurden nicht weiter kontaktiert.
Die weitere Arbeit richtete sich auf die Gruppe „I“ (Interessierte). Sie erhielten einen Service- Bogen, in dem alle verfügbaren Materialien aufgelistet waren und bestellt werden konnten.
Insgesamt haben 396 Haushalte diesen Service-Bogen zurückgeschickt (98 %!) und dabei unterschiedliche, je individuell verschiedene Materialien bestellt. Am populärsten waren Pedometer (manchmal mehrere pro Haushalt) und die Fahrpläne; aber auch das restliche Angebot fand rege Nachfrage.
Die bestellten Materialien wurden in einem „AcitveSmart“-Beutel verpackt und persönlich (fast immer mit dem Fahrrad) ausgeliefert. Da die Auslieferung zwingend mit einem persönlichen Beratungsgespräch verbunden war, wurden für fast alle Haushalte entsprechende Terminen vereinbart.
Zum Abschluss dieser Phase wurde den Teilnehmern die Möglichkeit geboten, noch intensiver an dem Projekt mitzuwirken (Interaktive Phase). Daran waren immerhin 355 Haushalte (90 % von 396) interessiert.
In der interaktiven Phase wurde der Kontakt zu den Teilnehmern intensiviert und – vor allem – (eben) interaktiv gestaltet.
Hierfür gab es drei Runden von spezifischen – an adhoc-Bedürfnis orientierten – Newslettern und von individualisierten Hausbesuchen. Diese Hausbesuche / -beratungen wurden von Studenten durchgeführt die sich in ihrem Studium mit allen Facetten gesunder Bewegung befassen und dauerten bis zu 90 Minuten (Durchschnitt 40 Minuten in Runde 1 und 24 Minuten in Runde 2).
Zusätzlich wurde eine „walking challenge“ angeboten, bei der die Teilnehmer alle zu Fuß zurückgelegten Entfernungen eintragen sollten (Ziel 280 km in vier Wochen oder 350.000 Schritte; aufgezeichnet mit Pedometern).
Während der gesamten interaktiven Phase wurde bei der Zustellung jedes Newsletters geprüft, ob die Teilnehmer sich noch immer aktiv an dem Projekt beteiligen wollen. Das war (nach fast neun Monaten) bei 305 Haushalten der Fall. Damit haben insgesamt 61 % aller ursprünglich ausgewählten Haushalte sich bis zuletzt aktiv an dem Vorhaben beteiligt. Dies zeigt uns, dass das Thema körperliche Bewegung und Gesundheit eine herausragende Bedeutung für die Bürger(innen) hat und dass geeignete Maßnahmen in diesem Bereich auf große Resonanz stoßen.
Für die Evaluierung wurde die Methodik der „Time Budget Survey“ gewählt. Solche Befragungen werden in vielen Ländern der Welt, meist im Fünf-Jahres-Rhythmus durchgeführt. Dabei berichten die Befragten alle Aktivitäten (24 Stunden) in Zehn-Minuten-Intervallen, in der Regel über einen Zeitraum von einer Woche.
Da die Belastung der Befragten groß ist, kämpfen solche Erhebungen inzwischen sehr mit ihrer Ausschöpfung (die oft nur noch im Bereich von 20 % oder sogar darunter liegt). Aus diesem Grund haben wir ganz besondere Vorkehrungen getroffen um hohe Ausschöpfungen (und damit valide Ergebnisse) zu erreichen. Dieses Bemühen wurde noch dadurch erschwert, dass wir das Tagebuch sowohl vor als auch nach dem Projekt einsetzen wollten, in Anbetracht der besonderen Umstände (nur 500 Haushalte brutto) aber im Panel-Format (also identische Personen vorher und nachher) und mit Kontrollgruppe. Ein solches Design wurde bisher noch nie versucht. Deshalb ist es besonders erfreulich, dass die erzielten Rückläufe die Erwartungen weit übertroffen haben. Insgesamt wurde im Vorher ein Rücklauf von 61 % und im Nachher (Panel) von 87 % erzielt. Hieraus errechnet sich ein kombinierter Rücklauf von 53 % (Antworter auf beide Wellen). Dieser Rücklauf (mit Menschen, die im Jahresabstand zweimal über eine ganze Woche alle ihre Aktivitäten im Zehn-Minuten-Intervall berichtet haben) unterscheidet sich wohltuend von den Rückläufen deutscher Mobilitätserhebungen (nur ein Stichtag), die nur knapp über 20 % liegen oder einer Sieben-Tage-„(Nur)“-Mobilitätserhebung im Raum Stuttgart, die nur noch acht Prozent Antwortquote erreichte.
Hohe Ausschöpfungen erreicht man aber nur mit einem erstklassigen und hoch-professionellen Befragungsdesign. Das hat die angenehme Nebenwirkung, dass dann nicht nur die Ausschöpfung hoch ist, sondern die Befragten auch weniger Fehler beim Ausfüllen machen und so motiviert sind, dass ihre Angaben auch stimmen, also sehr valide sind.
Unsere Stichprobe für die Evaluierung war klein, insgesamt 202 Personen (die allerdings über sieben Tage berichtet haben). Vergleicht man ihre Ergebnisse mit denen der zeitlich nähesten australischen Time-Budget-Survey (2006), der eine Stichprobe von 3.900 Personen zugrunde lag (allerdings nur für zwei Tage), dann zeigen sich deutliche Übereinstimmungen auch bei kleineren, weniger aufwändigen Zeitsegmenten (Überhaupt gibt diese Aufstellung einen interessanten Überblick zu unserem Alltag; wir können das hier in diesem Beitrag aber nicht weiter kommentieren).
Die bei einer derart differenzierten Methode gemessenen Ergebnisse sind sehr detailliert und sprengen den Rahmen einer solchen Publikation. Aber das wichtigste Ergebnis ist ganz einfach: Das Ziel, die Dauer für körperliche Bewegung um fünf Minuten pro Person und Tag zu steigern, wurde mehr als übertroffen. Die gemessene Erhöhung lag mit 16 Minuten etwa dreimal so hoch.
Dabei wurde der größte Zuwachs bei der Gartenarbeit erzielt. Aber auch die Steigerung bei active travel alleine liegt schon über den als Projektziel vorgegebenen fünf Minuten. Dabei sind erfasst: Fußwege, Radwege, Zu- und Abgang zum ÖPNV oder zum geparkten Pkw.
Dagegen spielen sportliche Aktivitäten – wie vermutet und eigentlich auch gewollt – eine eher geringe Rolle.
Besonders erfreulich ist, dass wieder mehr Aktivitäten im eigenen Wohngebiet ausgeübt werden (relative Steigerung über 10 %, von 55 auf 61 %) und dass die Teilnehmer am Projekt ihr „normales“ Aktivitätenprogramm beibehalten konnten.
Obwohl das Projekt ActiveSmart nicht direkt auf die Verkehrsmittelwahl gerichtet war hat es doch deutliche Wirkungen in dieser Richtung entfaltet: Die Anteile der Fuß- und Fahrradwege sowie des ÖPNV sind deutlich angestiegen und – in Folge – ist der Anteil der Pkw-Fahrten um über zehn Prozent zurückgegangen. Projekte die gesündere Lebensweisen (erfolgreich) vermitteln, reduzieren also (quasi nebenbei) auch den Verkehr!
Dieser Befund ist gerade für Rockingham besonders interessant. Denn dort hat man schon seit vielen Jahren versucht, den in der Metropolregion Perth traditionell hohen Pkw-Verkehr zu zähmen.
Der erste Versuch war der traditionelle: Ausbau des ÖPNV-Systems und einer Light-Rail, mit der man das Zentrum von Perth deutlich schneller erreicht als mit dem Auto. Die Wirkung beschränkte sich weitgehend auf die Steigerung des ÖPNV (der allerdings um 61 % zunahm).
Dann wurde ein Projekt mit Individualisiertem Marketing (Ziel: Reduzierung Pkw-Verkehr) durchgeführt. Jetzt ergaben sich deutlichere Zuwächse bei zu Fuß und Fahrrad, der ÖPNV konnte noch mal (fast genauso stark wie durch die Systemmaßnahme!) gesteigert werden. Erstmals ergaben sich auch deutliche Rückgänge bei der Pkw-Nutzung.
Alle diese Wirkungen wurden durch das Active Smart aber noch mal übertroffen oder (beim ÖPNV) fast erreicht. Und für den Autoverkehr ergibt sich aus allen drei Projekten zusammen eine kombinierte Reduzierung von mehr als einem Fünftel (- 21 %)!
Der Mangel an körperlicher Bewegung ist eine „moderne“ Zivilisationskrankheit. Dabei ist es relativ einfach, Menschen zu einem aktiveren Leben anzuregen. Das ist immer dann besonders erfolgreich, wenn die jeweiligen Aktivitäten in den Alltag integriert werden können.
West Australia Sports Federation: ActiveSmart Rockingham, Implementation Report (Socialdata Australia), June 2009, Evaluation Report (Socialdata Australia), December 2009
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2014, erschienen.
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