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Bauordnungen beziehen sich auf Gebäude und Grundstücke und sie wurden bisher nur sehr selten als Regelwerke angesehen, die auch die Mobilität der Bewohner, Gäste oder Kunden tangieren. Doch sind in den verbindlichen Landesbauordnungen etliche Festlegungen enthalten, die häufig immer noch davon ausgehen, dass Nutzerinnen und Nutzer der Gebäude stets mit dem Auto vorfahren. Um dies zu verändern, hat der FUSS e.V. sechs Vorschläge formuliert und sie der Bauministerkonferenz übermittelt.

Veränderungen sind mühsam

Mitte 2013 bat das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur Baden-Württemberg FUSS e.V. um eine Stellungnahme zum Entwurf des „Gesetzes zur Änderung bauordnungsrechtlicher Vorschriften“. Die Landesregierung wollte mit diesem Schritt eine ökologische und soziale Fortschreibung erreichen, um z.B. den Fahrradverkehr zu stärken und mehr Barrierefreiheit zu erreichen.

Sie hat eine recht breite Verbändeanhörung durchgeführt, weil sie im „Ländle der Häuslebauer“ wohl mit einem starken Gegenwind gerechnet hat. So kam es dann auch, die Baubranche und die Immobilienbesitzerverbände entfachten einen Sturm und sahen den Zusammenbruch des Wohnungsbaus voraus. Die Novellierung sei „unnötig und ideologiegetrieben“ („Haus und Grund“, taz 5.11.2014) - eine Formulierung, die allen bekannt sein dürfte, die sich gegen eine überzogene Autoorientiertheit einsetzen. Auch das war nicht neu: Gleichzeitig beklagten die Gegner genauso wie auch Befürworter der Veränderungen die „Kann-Vorschriften“, weil damit die Auslegungsspielräume der Verwaltungen vor Ort zu groß sind.

In der Zwischenzeit ist einiges Wasser den Neckar entlang geflossen und in der Landeshauptstadt stehen andere Themen zur Diskussion. Um einmal den Erfolg oder Nichterfolg von Lobbyarbeit zu veranschaulichen: Die vier Formulierungen, die wir aus der Vorlage unterstützt hatten (Begrünung §9, Barrierefreier Zugang §35, Abstellflächen für Kinderwagen etc. §35 und Anzahl der Fahrrad-Stellplätze §37), sind nun auch im Gesetz zur Änderung der Landesbauordnung enthalten und seit März des Jahres in Kraft. Keine der weiteren Vorschläge (z.B. Größe und Ausstattung von Kinderspielplätzen §9, Verkehrssicherheit §16, barrierefreier Gebäudezugang §35, Schutz und Größe von Abstellflächen §35) ist aufgenommen worden. Es gibt also noch einiges zu tun.

Einheitlichkeit wird angestrebt

Die für Städtebau, Bau- und Wohnungswesen zuständigen Minister und Senatoren der 16 Bundesländer, auch als Bauministerkonferenz oder ARGEBAU bezeichnet, sind Herausgeber einer Musterbauordnung (MBO). Sie gilt als Basis, zur Orientierung und der Vereinheitlichung der unterschiedlichen Landesbauordnungen (LBO), ist jedoch für die Länder nicht verbindlich. Von den Landtagen verabschiedet wurden dadurch unterschiedliche Regelungen, die in verschiedenen Zeitabständen (derzeit 2007 bis 2015) aktualisiert wurden und dabei andere Verpflichtungen wie z.B. die Barrierefreiheit oder die Vorgaben aus dem Nationalen Radverkehrsplan berücksichtigen, oder auch nicht.

Festlegungen sind wichtig

Ziel der Bauordnungen ist es, Gefahren für Leib und Leben abzuwenden, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten und Qualitätsstandards zu setzen. Deshalb sind sie ein wesentlicher Bestandteil des Baurechts der einzelnen Bundesländer. Sie beziehen sich sowohl auf die Gebäude, als auch auf unbebaute Grundstücke. Die Regelungen gelten für öffentliche wie auch für private Gebäude. Die Bauordnungen enthalten Bestimmungen zur Ausführung von baulichen Anlagen und Anforderungen in technischer und architektonischer Hinsicht. Sie haben Gesetzescharakter.

Zur Aktualisierung der Musterbauordnung hat der FUSS e.V. im September des Jahres versucht, folgende sechs Anliegen in die Diskussion der 127. Bauministerkonferenz einzubringen:

Erreichbarkeit von Gebäuden

In der Musterbauordnung und auch in den Landesbauordnungen gibt es zu diesem Thema für zu Fuß Gehende keine eigenständige Rubrik. Deshalb haben wir um Hinzufügung gebeten:

1.

Zu bewohnten und öffentlich genutzten Gebäuden müssen grundsätzlich zumindest markierte Wege für den Fußverkehr vom öffentlichen Gehweg bis zu den Zu- und Abgängen führen. Diese sind nach den geltenden Regelwerken zu dimensionieren und der Hauptzugang muss barrierefrei erreichbar sein.

Verkehrssicherheit

In der Musterbauordnung ist geregelt, dass bauliche Anlagen sowie Flächen, die dem Verkehr dienen, verkehrssicher sein müssen und die Sicherheit sowie die Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs nicht gefährdet werden darf. Deshalb ist bei der Weiterentwicklung der Bauordnungen in Anlehnung an die geltende Straßenverkehrs-Ordnung einzufügen:

2.

Auf allen öffentlich genutzten Flächen geht die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer der Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs vor. Dabei ist, wie es die Straßenverkehrs-Ordnung StVO vorsieht, auf Kinder, Hilfsbedürftige und ältere Menschen besondere Rücksicht zu nehmen.

3.

Wenn Fußwege Fahrstreifenkreuzen, ist dem Fußverkehr grundsätzlich Vorrang einzuräumen. Dies kann durch Zusatzzeichen in den Eingangsbereichen und z.B. durch markierte Fußgängerüberwege, andere Markierungen (z.B. Längsstreifen in Gehrichtung) oder weitere Maßnahmen (z.B. Blumenrabatten, etc.) erfolgen.

Stellplätze für Verkehrsmittel

Die Musterbauordnung geht derzeit mit keinem Wort auf den demografisch ansteigenden Bedarf an Abstellflächen für Geh-Hilfsmittel ein. Das ist nicht praxisnah, weil sich mobilitätseingeschränkte Menschen häufig nicht aus eigener Kraft durch häufig kreuz und quer abgestellte Fahrräder und Fahrradanhänger hindurch bewegen können. Es sind also zumindest abmarkierte Flächen notwendig, die barrierefrei erreichbar sein müssen. Im Gegensatz zur Musterbauordnung verlangt zum Beispiel die Landesbauordnung Berlin gut zugängliche Rollstuhlstellplätze. Die Bauordnung Baden- Württembergs sieht vor, dass in Gebäuden ab zwei Wohnungen leicht erreichbare Flächen zum Abstellen von Gehhilfen und Kinderwagen zur Verfügung stehen müssen. Auch die Bauordnung von Brandenburg legt fest, dass Wohngebäude über leicht erreichbare und gut zugängliche Abstellräume für Kinderwagen, Rollstühle und Fahrräder verfügen. Wir halten folgende Konkretisierung für sinnvoll:

4.

In Wohnhäusern ist pro Wohnungseinheit mindestens eine gesondert ausgewiesene, barrierefrei erreichbare und wettergeschützte Abstellfläche zu schaffen, die für Kinderwagen und Gehhilfen geeignet ist. Sie ist nach den aktuellen DIN-Vorschriften und Regelwerken auszubilden.

Freiflächenbegrünung

Die Musterbauordnung beinhaltet, dass nicht überbaute Flächen wasseraufnahmefähig gestaltet, sowie begrünt und bepflanzt werden sollen, sofern für diese Flächen keine andere zulässige Verwendung gedacht ist. Auch hier wünschen wir uns eine Konkretisierung, z.B.:

5.

Mindestens ein Drittel der nichtüberbauten Flächen von bebauten Grundstücken sind zu begrünen, wobei wiederum mindestens ein Drittel dieser Fläche möglichst abwechslungsreich zu bepflanzen ist, während der Rest eine Rasenfläche sein kann.

Spielplätze

In der Musterbauordnung ist festgelegt, dass Kinderspielplätze geschaffen werden müssen, wenn sich z.B. kein öffentlicher Spielplatz in unmittelbarer Umgebung befindet. Diese Formulierung ist uns seit Jahren ein Dorn im Auge. Mittlerweile haben einige Bundesländer konkrete Werte aufgenommen, wie z.B. ein Spielplatz für drei Wohnungen (Bremen) oder 4 Quadratmeter pro Wohnung (Berlin). Wir gehen weiter mit einer traditionellen Forderung (seit 1974, Bürgerinitiative Westtangente):

6.

Für jede Wohneinheit ist für Kinder und Jugendliche eine Spiel-, Bewegungs- und Aktionsfläche vergleichbar eines Kfz-Stellplatzes vorzusehen (mindestens 8 Quadratmeter), die barrierefrei erreichbar sein muss. Bei beengten Verhältnissen muss die Anzahl der Kfz-Stellplätze verringert werden.

Fazit

Die ökologische und soziale Fortschreibung bauordnungsrechtlicher Vorschriften ging nicht von der bundesweiten Musterbauordnung aus, sondern von Aktualisierungen der Landesbauordnungen. Deshalb muss auch in Zukunft auf Landesebene mitgewirkt werden, sobald Änderungen geplant sind. Nur so kann sich allmählich die Erkenntnis durchsetzen, dass die meisten Menschen Gebäude sicher und komfortabel zu Fuß betreten möchten. - Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Festlegungen, die überdacht werden sollten. Wir wollen mit diesen Ausführungen die gewünschten Änderungen erst einmal überschaubar halten.

In Kürze

Der FUSS e.V. hat sechs Kernbotschaften für Änderungen der Musterbauordnung und der Landesbauordnungen formuliert, die darauf Bezug nehmen, dass Menschen Gebäude als Fußgängerinnen und Fußgänger betreten und sie diese sicher und möglichst komfortabel zu Fuß sowie in zunehmendem Maße auch mit Gehhilfen erreichen müssen.

Quellen:

Weiterführende Informationen über die Bedeutung, die Zuständigkeiten und Kriterien in der Musterbauordnung und in den Landesbauordnungen sowie genaue Quellenangaben finden Sie auf www.geh-recht.de, aktuelle Angaben über die beschlossenen Landesbauordnungen unter www.geh-recht.de > Literatur-Register > Bauordnungen.

 

Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2014, erschienen. 

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.

Kommen Sie mit auf ein paar Schritte durch die Stadt und lernen Sie etwas über die Hintergründe unserer täglichen Begegnungen kennen. Ein kurzer Ausflug, um etwas Orientierung im regen Geschehen auf den Bürgersteigen, zwischen Paragraphen und Pollern, zu schaffen.

Verantwortlichkeiten

Das Spazieren auf den Gehwegen unserer Städte bietet viel Schönes und Aufregendes. Man kann sich an vielen Dingen erfreuen, die einem im Alltag begegnen, ob auf dem Weg zur Arbeit, bei Freizeitaktivitäten oder beim ziellosen Flanieren. Der Duft von Speisen aus allen Ecken der Welt weckt Appetit, dekorierte Schaufenster lassen uns träumen, menschliches Miteinander in Cafés und Parkanlagen geben uns ein Gefühl der Lebendigkeit. Wir nehmen sie oft unterschwellig wahr und fühlen uns gut dabei, bei unserem Weg durch die Stadt, von unserem Zuhause bis zum….

Bis wir unter unserem Schuh einen ungewohnt weichen Widerstand spüren. Ein Blick nach unten bestätigt meist die Befürchtung, die alle Fußgänger tief in sich tragen. Hundekot. Ein großer Haufen Hundekot mitten auf dem Bürgersteig.

Nachdem die gedanklichen Beleidigungen an Hund und Herrchen und Frauchen abgeklungen sind stellt sich oft die Frage, ob denn nicht jemand verantwortlich für so etwas ist? Es gibt schließlich immer einen Verantwortlichen. Und tatsächlich. Es gibt sie, die Verantwortlichen und die Gesetze für die vielen Hindernisse auf den Gehwegen unserer Städte.

Rechtliche Aspekte

Die Ausscheidungen der Vierbeiner sind nämlich längst nicht alles, was einem vor die Füße kommen kann. Ebenso beliebt sind abgestellte Fahrräder, „tote“ Fahrräder, Laubhaufen, Äste, beschädigte Straßenbeschilderungen oder defekte und intakte Poller, die in Kombination einem anspruchsvollen Slalomkurs gleich kommen. Doch der Gehweg ist glücklicherweise kein rechtsfreier Raum, sondern obliegt der Verkehrssicherungspflicht, diese verpflichtet jeden, der eine Gefahrenquelle eröffnet, diese auch entsprechend zu sichern. Geschieht dies nicht, sichert der § 823 des Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) den Geschädigten ausgleichende Leistungen zu. Das entbindet uns als Fußgänger jedoch nicht von aller Verantwortung, sondern setzt eine stets aufmerksame Benutzung des Gehwegs voraus, um Gefahrenquellen frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Halten wir daher stets die Augen offen und führen unseren Weg fort. Tänzeln um Risse im Pflaster, hüpfen über beschädigte Gullideckel und balancieren auf wankenden Bodenplatten. Auch diese sind eigentlich sicherungspflichtig.

Dabei wendet sich unser Blick ab von der Erde und richtet sich nach Vorne, wir laufen weiter und lassen die vielen kleinen Unschönheiten hinter uns. Der unangenehme Zwischenfall verblasst schnell durch die neuen Eindrücke der Straßenhändler, die ihre Ware bis zu den Laufwegen der Kunden anbieten. Immer größer wird das Angebot an Obst, Gemüse, Kleidung und Haushaltswaren. Man muss nicht mehr in Geschäfte hinein, um das Sortiment zu bestaunen. Man kann jetzt aber auch nicht mehr daran vorbei. Eine Aufstelltafel, oder treffender ein Kundenstopper, versperren den letztmöglichen Durchgang. Das ist nun schon etwas aufdringlich. Ist das denn erlaubt?

Sondernutzungen

In den meisten Fällen gilt dies als Gemeingebrauch, festgelegt in § 10 des Straßengesetzes (StrG). (1) Grundsätzlich hat jeder Anlieger das Recht, den Gehweg vor seiner Haustür zu nutzen. Für diesen Anliegergebrauch muss keine Genehmigung eingeholt werden, vorausgesetzt die Nutzung überschreitet eine Breite von 1,50 Metern in den Straßenraum hinein nicht. Diese Regelung tritt bei den meisten Gehwegnutzungen in Kraft, demnach auch bei den Geschäftsauslagen, obwohl diese den rechtlichen Rahmen meistens sehr weit ausdehnen. Wird dieses Maß überschritten, häufig bei Veranstaltungen und gastronomischer Bestuhlung, kommt es zu einer Sondernutzung nach § 11 StrG. Ein Antrag ist dann erforderlich, der in den meisten Fällen bewilligt wird, sofern kein Konflikt mit öffentlichen Interessen abzusehen ist. Hierbei muss ein Entgelt entrichtet werden, das sich nach Art, Umfang, Dauer und Wirtschaftlichkeit gestaltet.

Das Ordnungsamt kümmert sich um weit mehr als die Bestrafung der Parksünder, es ist der Ansprechpartner für Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit und alle anderen Missstände, die im Straßenraum auftreten. Je nach Problematik wird an spezialisierte Behörden delegiert, z.B. an das Straßen- und Grünflächenamt, die Straßenverkehrsbehörde oder die Stadtreinigung.

Meldeplattformen

Wir sind froh, die voran gegangenen Situationen überstanden zu haben und würden dies gerne mit anderen Menschen teilen und auch ihnen dazu verhelfen. Die wenigsten haben jedoch die Nummer des Ordnungsamtes griffbereit, die für eine Verbesserung sorgen könnten. In sozialen Netzwerken ist das Thema nicht besonders populär. Deswegen gibt es eine App dafür. Zumindest im Großraum Berlin/ Brandenburg. Sie nennt sich Maerker und beruht auf der gleichnamigen Meldeplattform im Internet. 2008 entwickelt, um der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, sich mehr im Stadtgeschehen zu beteiligen und ihr unmittelbares Wissen miteinzubeziehen.

Entdecken wir also eine selbsternannte Müllhalde im Straßenbild oder hindert uns defekte Beleuchtung daran, es überhaupt wahrzunehmen, kann dieses Problem online gemeldet werden. Das Anliegen wird an die zuständige Behörde weitergegeben und es gibt Rückmeldung über den Bearbeitungsstatus. Damit ist es ein Instrument, das schnelle und direkte Dienste leisten kann, wenn man die Missstände sachlich angibt und es nicht mit einem persönlichen Kummerkasten verwechselt.

Ein Spaziergang durch die Stadt bietet uns die Chance, sich über Dinge zu freuen. Er gibt einem die Möglichkeit sich zu echauffieren. Und er gibt Anreiz sich zu engagieren. Wir bewegen uns täglich auf dem Gehweg, doch beschäftigen wir uns kaum mit ihm selber. Wir bemerken, wenn er überfüllt oder dreckig ist. Ist er hindernisfrei, sehen wir ihn erstaunlicherweise selten.

Einige müssen genauer hinschauen, denn für sie ist ein barrierefreier Weg entscheidend und der muss oft noch gebahnt werden. Hindernisse muss man soweit reduzieren, dass es allen möglich ist voran zu kommen, nicht uneingeschränkt aber doch machbar. Mal links, mal rechts, mal mittig zu gehen ist kein Hindernis. Jeder hat das Recht auf einen großen Hundehaufen.

Hinweise:

(1) Die im Text genannten Paragrafen beziehen sich auf das Berliner Straßengesetz. Die Straßengesetze aller Bundesländer sind jedoch sehr ähnlich aufgebaut.

Auf www.gehwege-frei.de → Weitere Hindernisse → Hindernisfreie Wege finden Sie mehr Infos zu dem Thema.

 

Dieser Artikel von Nikolas Dürr ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2016, erschienen. 

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.

So viele Reaktionen wie auf den Titelbeitrag des letzten Heftes mit den provokanten Fragen „Kämpft hier eine kleine Minderheit für ihre privaten Vorteile? Oder ist die Mehrheit einfach zu doof?“ hatten wir noch nie erhalten. - Im Folgenden versuchen wir eine Zusammenfassung der Reaktionen.

Wer ist Elite?

Insbesondere die erste Frage erachtete ein Leser für grundsätzlich falsch: „Kämpft hier eine kleine Minderheit für ihre privaten Vorteile? Selbst wenn, so wäre dann doch die Frage: darf die Mehrheit eine Minderheit zwingen, sich selbst und andere mehr als nötig zu gefährden?“ Eine entsprechend naheliegende Frage fiel einem anderen Leser auf: „Es wäre noch zu definieren, wen man als Avantgarde bezeichnen möchte: Das kann der Wochenend-Renn­radler sein, der 'Ramsauer Rüpel-Radler' oder der Alltags-Radfahrer, der je nach Situation das passende Gefährt vom Faltrad bis zum Velomobil nutzt.“ Aber auch: „Sie skizzieren einen Gegensatz zwischen einer 'Elite' und der Mehrheit. Die genannten Umfragewerte führen aus meiner Sicht in die Irre. Nach Jahrzehntelangem 'Fahrbahnverbot' und nun schon 18 Jahre dauernder schleichender Aufhebung des Verbots sind die Menschen auf Radwege konditioniert. Was soll bei solchen Umfragen anderes herauskommen? Veränderungen zum Besseren sollten generell möglich sein, wenn es gute Gründe dafür gibt. Die Einführung von Gurtpflicht oder Mülltrennung wurden auch nicht von der Mehrheit der Bevölkerung gewünscht.“

Eine etwas andere Sicht zu 'Masse und Elite' hinsichtlich der Benutzung von Radwegen wurde hier geäußert: „Im Grunde könnte es mir ja egal sein, wie sich die anderen Radfahrer in dieser Hinsicht verhalten, doch ist auf diese Weise die Stadt Köln in der bequemen Situation, das Thema einfach aussitzen zu können. Und so fehlt bei PKW- und LKW-Lenkern weiterhin das Bewusstsein dafür, dass das Radfahren auf der Fahrbahn erlaubt wäre. Und das führt dann dazu, dass ich ständig damit rechnen muss, von Autofahrern beschimpft oder gar bewusst geschnitten und gefährdet zu werden. Somit verdirbt mir diese träge Masse der Radfahrer indirekt die Lust am Radfahren in Köln.“

Warum wird Minderwertiges akzeptiert?

Zu kurz gesprungen ist der Beitrag meint ein anderer Leser: „Der einführende Beitrag betrachtet naturgemäß nur einen Teil der Aspekte. Und selbst hier findet sich autozentriertes Denken, wenn nämlich nur Überholvorgänge von Kfz erwähnt werden. Dabei ist gerade der Radverkehr durch ein breites Geschwindigkeits­spektrum gekennzeichnet. Überholvorgänge von Radfahrern untereinander sind daher eher die Regel als die Ausnahme. Eine Radverkehrsinfrastruktur muss dem Rechnung tragen. Welche Radwege und -streifen lassen aber unproblematisches Überholen tatsächlich zu? [.] Die Frage ist also, wieso dieses minderwertige Angebot so unwidersprochen akzeptiert wird.“

Eine Frage, die der Beitrag nicht beantwortet hatte, woran sich aber drei Leser versuchten: „Seit Jahrzehnten wurde und wird vielfach heute noch behauptet, das Fahrradfahren auf der Fahrbahn sei viel zu gefährlich. Schon im Verkehrsunterricht in der Schule wurde das verbreitet und zog sich dann durchs ganze Leben. Solch eine Gehirnwäsche wird man so schnell nicht los, auch wenn die Wissenschaft schon lange das Gegenteil festgestellt hat.“ „Die Masse der Radfahrer sind auch Autofahrer. Wenn sie sich dann mit ihrem halben Wohnzimmer durch den Verkehr bewegen fühlen sie sich von Radfahrern auf der Fahrbahn behindert ohne zu bemerken, dass die Behinderung durch ihr eigenes überdimensioniertes Gefährt verursacht wird (einen Fußgänger mit umgehängtem 4m x 2m großem Rahmen würde man wohl recht schnell in die geschlossene Psychiatrie einweisen). Entsprechend verhalten sie sich wenn sie auf dem Fahrrad sitzen dem Autoverkehr gegenüber unterwürfig.“

„Ich finde es schade, dass diese Debatte immer wieder neu und grundsätzlich geführt wird, statt einfach erfolgreiche 'Best Practices' zu übernehmen und umzusetzen – respektive von den zuständigen Behörden zu fordern. Diejenigen aus Kopenhagen sind zum Beispiel international anerkannt. Immer wieder von vorne zu debattieren, was denn an welchem Ort die optimale Lösung ist, führt niemanden weiter und kostet nur viel Energie, die anderweitig besser in die Förderung des Radverkehrs investiert wäre.“

„Warum gibt es diese gravierenden Diskrepanzen zwischen objektiver und subjektiver Sicherheit? Ich habe mir dieses fehlleitende subjektive Sicherheitsgefühl auf Radverkehrsanlagen abtrainiert. Warum wollen das andere nicht? Wie kann man das subjektive Sicherheitsgefühl mit dem objektiven in Einklang bringen?“

Praktische Erfahrungen

„Da es im Rhein-/Ruhr-Raum, anders als z.B. in Berlin und Hamburg, häufig recht knappe Fahrbahnprofile gibt, ist der Wunsch nach einem Netz von Radwegen hier illusorisch, weil es keine ausreichenden Flächen für regelgerechte Radwege gibt. [.] Aus meiner Sicht dürfte nur für regelkonforme Radwege, die dann regelmäßig unterhalten und im Winter schnee- und eisfrei gehalten werden müssten, eine Benutzungspflicht gelten.“

Zu den konkreten Vorschlägen...

wurde wenig geäußert, daher hier in aller Kürze: „Dass Radfahrstreifen oft zum Parken oder Halten missbraucht werden, ist etwas nervig, aber weniger problematisch, als wenn die Bordsteinradwege zugeparkt werden und man dann eigentlich absteigen müsste... Von Protected Bike lines oder 'geschützten Radfahrstreifen' halte ich nicht viel. Sie würden bei schmalen Radfahrstreifen das Überholen verhindern. Und die Radfahrer vielleicht wieder mehr träumend durch die Gegend fahren lassen. Im Ausland werden sie auch oft viel zu schmal und als Beidrichtungsradweg angelegt. Das geht ja gar nicht. Viel wichtiger wären Radfahrstreifen in Breiten von 2,50 bis 3,25 pro Richtung!! Breit genug zum Überholen, nebeneinander fahren, Lastenrad oder Anhänger fahren, Kinder begleiten. Dann kann man leicht Abstand zu den parkenden Autos halten.“

Lösungsansätze informell

Wissen ist Macht auf freiwilliger Basis: „Mehr würde wahrscheinlich eine Informationskampagne des Staates bringen, die alle Verkehrsteilnehmer auf ihre Pflichten hinweist. Eine Wiederaufnahme des 7. Sinns, der Fernseh-Inforeihe aus den 70er Jahren, wäre eine Möglichkeit, die nicht zu viel kostet.“

Wissen ist Macht mit Schulbankdrücken: „Hauptproblem ist jedoch, dass die meisten Menschen – wenn überhaupt – nur ein rudimentäres Wissen über die als Fahrradfahrer zu beachtenden Verkehrsregeln aus ihrer Grundschulzeit besitzen. Sinnvoll wäre eine verbindliche Fahrradfahrerlaubnis-Prüfung, in der die Kenntnisse der StVO abgefragt werden (ggf. nach jeder StVO-Änderung neu!). Wird diese obligatorisch im Zusammenhang mit Schadensersatzforderungen oder Schmerzensgeld bei Fahrradunfällen, müsste eigentlich jede Person, die ein Fahrrad fahren möchte, selbst daran interessiert sein, diese Prüfung abzulegen. Eine solche Prüfung könnte bereits im Rahmen der Schulzeit erworben oder auch später in einer Fahrschule nachgeholt werden.“

Vorenthalten von Informationen und Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen sind Mobbing: „Das Vorenthalten von Informationen ist deutlich daran zu erkennen, dass der größte Teil der Bevölkerung noch nichts von der StVO-Novelle 1997 gehört hat. Demzufolge werden Menschen in dem Glauben gelassen, dass alles was irgendwie wie Radweg aussieht, auch benutzt werden muss. Was sind die Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen? Z.B. werden auf Gehwegen, mit Schild 'Radfahrer frei'-Separationslinien und Fahrradsymbole aufgemalt, die mangels Wissen und teils unter Anwendung von Gewalt 'natürlich' zu benutzen sind.“ - „Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) kann keinen Radweg nennen, auf dem das Fahren nachweislich sicherer ist als das Fahren auf der begleitenden Fahrbahn. Demnach ist es rechtlich unmöglich, eine Radwegebenutzungspflicht anzuordnen.“ (Drucksache des Bundestages 16/15317, Frage 121)

Fast alle Beiträge, die Lösungsansätze anboten, sprachen sich für flächendeckend Tempo 30 in den Kommunen aus.

Lösungsansätze klassisch

Weiter wie bisher: „Es muss erlaubt sein, dass sich der Radfahrende je nach Situation oder Sicherheitsempfinden seinen Weg aussuchen kann: Wer sich auf der Fahrbahn unsicher fühlt, sollte auf Radwegen oder freigegebenen Gehwegen fahren dürfen. Wer sich auf Radwegen oder kombinierten Fuß-/Radwegen behindert fühlt, darf ohne Wenn und Aber die Fahrbahn benutzen.“ Ein anderer Leser fordert zielgruppengerechte Informationen für je Rad- und Autofahrer, Behörden und Politik, ein weiterer meint: „Das Radfahren auf dem Gehweg bzw. gemeinsamen Geh- und Radwegen wurde über Jahre entwickelt. Auf kurzen Abschnitten Radfahrer auf die Straße zu nehmen, ist nicht sinnvoll, es müssen Achsen gebildet werden.“

Kollateralschäden

„Die Diskussion über die Radwegepflicht geht vollkommen an den Tatsachen in den Städten vorbei. Die Radfahrer benutzen die Fußwege (!) und werden von den Stadtverwaltungen und der Polizei daran nicht gehindert, so dass allmählich die Fußgänger sich dafür entschuldigen, die Radfahrer auf den Fußwegen, auch den Parkwegen behindert zu haben. Unter dieser Duldung durch die Behörden verlieren die Radfahrer auf den Fußwegen jedes Unrechtsbewusstsein. Die Organisationen der Fußgänger sollten sich lieber auf diesen Missstand konzentrieren und insbesondere gegen die Stadtverwaltungen rechtlich und politisch vorgehen – durch Beschwerden bei der Kommunalaufsicht, durch Förderung von Amtshaftungsprozessen wegen der Unfälle auf den Fußwegen, die bei Fortsetzung dieser Duldungspolitik unvermeidlich sind, durch politische Interventionen. In Frankfurt am Main zum Beispiel ermuntert das städtische Verkehrsamt in einer Publikation die Fußgänger und Radfahrer zu gegenseitiger Rücksichtnahme auf den Fußwegen, so ist leider die Lage.“

Trennung von der Separation?

Nein: „ Die Avantgarde der urbanen Mobilität, das sind Städte wie Kopenhagen, Groningen, jetzt auch Oslo, London rückt nach. Diese Avantgarde, the cities that rock the urban traffic world, setzt nicht auf Mischverkehr. Sie setzt mit immensen Erfolg auf getrennte und voreinander geschützte Verkehre. Sie treibt dadurch die Gleichberechtigung der verschiedenen Verkehre voran, sie versucht erwünschte, stadtverträgliche Verkehre aus ihrem Schattendasein zu holen.“ „Zu den wirklichen Fahrradstädten zählen Kopenhagen, Amsterdam und mit Abstrichen auch Münster. Dort ist das Fahrrad ein völlig alltägliches Verkehrsmittel für die Mehrheit. Eines haben diese Städte gemeinsam: ein dichtes Netz von baulich getrennten Radwegen. Ich bin davon überzeugt, dass man selbst mit den besten Radfahrstreifen höchstens einen mittelmäßigen Radverkehrsanteil von vielleicht 15 Prozent erreichen kann. 20, 30 oder 40 Prozent wie in den Niederlanden und Dänemark üblich, sind nur mit separaten Radwegen möglich. Die Menschen wollen nicht dicht an dicht mit Lärm-, Abgas- und Gefahrenquellen radeln. Anstatt Radwege zu verteufeln, sollte man sie sanieren und sicherer gestalten.“

„Es ist kein Zufall, dass Deutschland eines der letzten entwickelten Länder ist, in dem Mischverkehrsapologeten auch von eigentlich verkehrlich gebildeten und aufgeklärten Leuten, als Avantgarde gelten. Deutschland ist der Welt bedeutendster Kfz-Industriestandort. Im Artikel wird zweimal unter Quellenangabe als '(Hrsg.)' die GDV genannt. Dahinter versteckt sich die UDV. Wir haben es mit einer für Deutschland typischen Schachtelorganisation zu tun. Die 'Forschung' der UDV wird lt. Wikipedia zu 100% von den Kfz-Versicherern finanziert. Deren Geschäftsmodell ist die Kfz-Pflichtversicherung. Je höher der Kfz-Anteil, je besser das Geschäft. Die UDV ist größter Drittmittelgeber in der Verkehrssicherheitsforschung und mit vielen eigenen Studien am Start. Sie ist größter Lieferant des 'wissenschaftlichen' Argumentgebäudes der 'Avantgarde', demzufolge der Mischverkehr so viele angebliche Vorteile hat. Damit ist dieses Unikum der deutschen 'avantgardistischen' Radverkehrspolitik, die zum Rest der Welt völlig unterschiedlichen, allein in Deutschland gültigen, 'wissenschaftlichen Erkenntnisse' am besten erklärt. Mischverkehr schreckt vom Radfahren ab. Die Radler'avantgarde' verteidigt das Infrastrukturmonopol der Kfz-Industrie. Das ist Deutschland. Leidtragende sind Fuß- und Radverkehr.“

Ja: „Die in den Köpfen der Planer, Politiker und allgemein der Gesellschaft immer noch anzutreffende Doktrin des Separationsprinzips der Verkehrsarten ist in Frage zu stellen. In unserem überregulierten (Verkehrs-) Rechtssystem ist das natürlich ein dickes Brett, was zu bohren ist. Paradigmenwechsel dauern lange sind aber billiger als teure Radwegeprojekte, für die sowieso kein Geld da ist.“ „... obwohl man offenkundig ganz genau um die Probleme weiß. Da wird einem Separation in allen Formen und Farben angedreht, aber das eigentliche Problem, dass Geradeausverkehr eben nicht rechts vom Rechtsabbieger fahren sollte (womit sich Separation von selbst verbietet), wird zwar erkannt aber nicht weiter beachtet.“

„Ich bin auch gegen die Anlage von Radverkehrsanlagen. Denn diese fördern die Separation, damit schaffen sie Territorien und diese Territorien werden 'verteidigt' – neben dem Problem der Ressourcenverschwendung und Versiegelung. Diese Revierverteidigung ist eben besonders unangenehm, da, wie im Artikel angesprochen, ungenügende Breiten durch mangelhafte planerische Vorgaben dazu führen das mit der Begründung 'da ist deine Fahrspur' Sicherheitsabstände deutlich unterschritten werden. Deshalb bin ich generell gegen Separation des Fahrverkehrs und für Shared Space in den hochbelasteten Innenstadtbereichen.“

Die Redaktion dankt Bert Ungerer, Holger Müller, Ralph Sontag, F. Blume, Daniel Pöhler, Michael Hänsch, Hartmut Koch, Klaus Müller, Reinhard Zwirner, Ralph Wössner, Stephan Fischer, Reiner Geisen, Gabriele Köpke, Günther Reimers, Martin Wohlauer, Moritz Sievers, Kirsten Kock, Klaus-Christian van den Kerkhoff, Axel Flessner, Gerd Jund, Ervin Peters und den Anderen, aus deren Schreiben wir aus Platzgründen hier nicht zitieren können.

In Kürze

In dem Beitrag wird diskutiert, welche Radler/ innengruppe Elite bzw. Besserwisser sind hinsichtlich der Fragen Radwegebenutzung, Akzeptanz derzeitiger Lösungen und Separation.

Literatur:

Lieb, Stefan: Besserwisser vs. Mehrheit, mobilogisch 4/15, Seite 28 ff.

 

Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2016, erschienen. 

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Organisierte, informierte, schnelle und routinierte Radelnde wollen auf der Fahrbahn fahren. Sie wissen um die Gefahren der üblichen Radwege auf Gehwegniveau. Konzentriert haben sich diese Radler folgerichtig auf die Aufhebung der Radwegebenutzungspflicht. Doch wenn man in den Städten unterwegs ist, sieht man nur wenige Radelnde auf der Fahrbahn, die große Mehrheit fährt auf Radwegen, unabhängig von deren rechtlichem Status und ihrer Qualität. Und sie fahren auf den Gehwegen. Kämpft hier eine kleine Minderheit für ihre privaten Vorteile? Oder ist die Mehrheit einfach zu doof?

Ein Beleg für die letzte These mag das Ergebnis einer Befragung von Radfahrer/innen und Autofahrer/innen im Jahr 2013 durch die Unfallforschung der Versicherer UDV sein: 85 Prozent der Antwortenden meinten, ein Radweg müsse immer benutzt werden. In der Befragung der UDV zogen auch sieben von zehn Radelnden prinzipiell Radwege gegenüber Radfahrstreifen vor und fühlen sich darauf sicher. Zu ihrer Ehrenrettung muss gesagt werden, dass die meisten von ihnen immerhin fahrbahnnahe Radwege ohne Sichthindernisse zwischen Fahrbahn und Radweg wünschten. (1)

Auf der anderen Seite haben die Gegner der Radwegebenutzungspflicht ihr Ziel praktisch vielleicht schon erreicht: In Berlin z.B. ist nur noch jeder siebte Radweg benutzungspflichtig. Zweischneidig stellen sich die Folgen der Aufhebung der Benutzungspflicht in vielen Kommunen dar: Nicht benutzungspflichtige Radwege werden nicht mehr gepflegt bzw. ausgebessert. So fahren fast genauso viele Radelnde auf immer schlechter werdenden Radwegen.

Das grundsätzliche Dilemma besteht damit weiter: Radfahrende, die auf Straßen mit nichtbenutzungspflichtigen Radwegen die Fahrbahn nutzen, werden von Autofahrer/innen angehupt, bedrängt und beschimpft. Und die Mehrheit radelt unwissend auf gefährlichen Rad- und Gehwegen. Eigentlich müssten ja die Besserwisser-Radelnden auf Radwegen fahren – immerhin wissen sie, wo auf was geachtet werden muss.

Radeln auf der Fahrbahn erleichtern

Maßnahmen im Verkehr müssen stets das subjektive Sicherheitsempfinden und die objektive Sicherheit berücksichtigen. So deckt z.B. die Senkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerorts auf Tempo 30 beide Felder ab. Weitere Möglichkeiten sind z.B.:

Fahrradstraßen sind in Deutschland in der StVO eingeführt (Zeichen 244) – in der Regel mit Zusatzschild wie „Kfz-Verkehr frei“. Damit haben Radler/innen das gleiche Problem wie der Fußverkehr auf Gehwegen mit „[Radler-Piktogramm] frei“. Im Prinzip sind Fahrradstraßen eine gute Idee, die Umsetzung vor Ort fällt jedoch sehr unterschiedlich aus. (3) In der Regel wird die Einführung einer Fahrradstraße auch nicht ausreichend in der Öffentlichkeit vor Ort kommuniziert, mit der Folge, dass auch hier Radler/innen von Kfz bedrängt werden. Klar ist auch, dass diese Form der Fahrbahnnutzung für Radelnde nur auf einem geringen Teil des Straßennetzes umgesetzt werden wird. Viele freiwillige Radweg-Nutzer kennen wahrscheinlich noch gar nicht Fahrradstraßen.

Radfahrspuren/ Angebotsstreifen: Ihre Markierung setzt in der Regel eine Verschmälerung der bestehenden Kfz-Spuren voraus, was bereits oft Kfz-temposenkend wirkt. In der Praxis ergeben sich zwei Unsicherheitsfaktoren: Zum einen werden bei Platzmangel die Markierungen so aufgetragen, dass die – in den Richtlinien vorgeschriebenen – Sicherheitsabstände zu den parkenden und den fahrenden Kfz nicht eingehalten werden. Kfz überholen z.B. dann Radelnde mit weniger Abstand als sie es ohne Markierung tun würden (bzw. könnten). Zum anderen werden Radfahrstreifen bei „Parkdruck“, d.h. bei unzureichender Kontrolle durch Polizei und Ordnungsamt, als Parkstreifen zweckentfremdet. Radelnde müssen also beim Vorbeifahren auf die Kfz-Fahrspur in den fließenden Kfz-Verkehr ausweichen. Beide Faktoren wirken sich negativ auf die objektive und subjektive Sicherheit aus. - Radfahrer/innen, die Radwege bevorzugen, bekommen unter diesen Bedingungen gewissermaßen Recht.

„Geschützte“ Radfahrstreifen gibt es in Deutschland nur in Ausnahmefällen, in Nordamerika sind sie recht häufig. (4) Es sind durch Baken, Poller o.Ä. zum fließenden Kfz-Verkehr „abgetrennte“ Radfahrstreifen auf der Fahrbahn. In den USA wurde im letzten Jahr verschiedene Ausführungen evaluiert. Es wurden bei Video-Beobachtungen keine Kollisionen und kaum gefährliche Situationen festgestellt. Die protected lanes erklären sich von selbst, werden von Auto und Radfahrenden akzeptiert und scheinen die Fahrradnutzung zu steigern. - Modellprojekte sollten auch in Deutschland versucht werden, jedoch scheint der Einsatz nur auf wenigen Straßen innerorts hierzulande möglich zu sein: Der Kfz-Parksuchverkehr kommt nicht an den – in der Regel gar nicht vorhandenen – Parkstreifen. Radwege liebende Radler/innen würden diese Lösung garantiert annehmen!

Shared Lanes oder holprig übersetzt „anteilig genutzter Fahrstreifen“ sind in Deutschland (noch) nicht eingeführt, in den USA, Australien und Kanada aber verbreitet. Von unseren Nachbarn haben Frankreich und Tschechien ähnliche Lösungen. Fahrrad-Piktogramme und Pfeilspitzen (Neologismus „sharrow“, eine Neuschöpfung aus share und arrow, also etwa „Teilhabepfeil“) sind in relativ dichter Folge in der Regel in der rechten Hälfte des mit dem Kfz-Verkehr gemeinsam genutzten Fahrstreifens auf den Fahrbahnbelag aufgebracht. Sie sollen Autofahrer darauf aufmerksam machen, dass sie hier mit Radfahrern rechnen und sich entsprechend vorsichtig verhalten müssen. Die Radfahrer sollen mit der Anleitung, genau in der Mitte der Piktogramme zu fahren, dazu gebracht werden, in ausreichendem Abstand zu den parkenden Autos zu fahren.

Sollen, z.B. auf Fahrbahnen mit mehr als zwei Fahrstreifen, Radfahrende einen auch dem Kfz-Verkehr dienenden Fahrstreifen mittig bzw. in ganzer Breite befahren, sieht die Richtlinie der US Federal Highway Administration ein Verkehrsschild vor und empfiehlt eine Einfärbung in der Mitte des Fahrstreifens in der Breite „halber Fahrstreifen“. Selbstverständlich sind in Deutsch­land Fahrrad-Piktogramme bekannt und werden unterschiedlich eingesetzt; teilweise auch im Sinne der „shared lanes“. - Shared lanes bekräftigen eigentlich nur den Sollzustand, sie sollten zumindest in Modellprojekten auch hierzulande getestet werden.

„Überholen überholen“ ist das Steckenpferd des Autors dieser Zeilen: Damit der Radverkehr innerorts tatsächlich auf der Fahrbahn und nicht auf den Gehwegen stattfindet, sollte in der StVO eine Klarstellung für Kfz-Fahrende mit konkreten, ausreichenden Maßangaben eingeführt werden, mit welchem Mindestabstand und Tempo sie Radfahrende überholen müssen. Der derzeitige Begriff „ausreichender Seitenabstand“ in § 5 StVO ist „zu dehnbar“. Die Botschaft muss lauten: Beim Überholen Fahrspurwechsel! Und „Botschaft“ beinhaltet natürlich auch: Diese Änderung müsste vom Bundesverkehrsministerium selbstverständlich gut kommuniziert werden.

Wissen schafft was?

Wissen ist eine grundlegende Voraussetzung um richtig handeln zu können. In einer Petition eines Berliners an den Petitionsausschuss des Bundestages forderte der Radler, dass das Bundesverkehrsministerium die Bevölkerung mehr über relevante Neuerungen der StVO informieren müsse (Radwegebenutzungspflicht, Abstand beim Überholen..) Nach dem der Ausschuss das Petitionsverfahren mit einem Hinweis einstellen wollte, schaffte der Petent einen unerwarteten, kleinen Erfolg: Der Ausschuss überwies die Petition nicht nur an das Bundesverkehrsministerium sondern auch an die Bundesländer. Allerdings nur „als Material“, das ist die unterste Stufe der Annahme einer Petition. - Selbstverständlich sind auch alle Bürger/innen in einer „Holschuld“, sie müssen sich eigentlich informieren über Änderungen in der StVO. Aber erschweren sollten die Behörden diese Pflicht nun wirklich nicht. Auf der Webseite des Bundesverkehrsministeriums sind diese Informationen erst nach langem Suchen zu finden. Mal sehen, was die Ministerien nun, 18 Jahre nach der entsprechenden StVO-Novelle, aus diesem wachsweichen Auftrag des Ausschusses machen.

In einer Prognosestudie der Unfallforscher des Verbandes der Versicherer wird eine Zunahme der Unfälle von Radelnden aufgrund der Zunahme des Altersdurchschnitts und der Zahl der Radfahrer/innen generell und steigender Geschwindigkeiten (Pedelecs) vorausgesagt. (6) Am meisten würden die Unfallzahlen bei den Führungen auf der Fahrbahn steigen – weniger auf Radwegen! Dabei gehen die Forscher anscheinend jedoch von unveränderten Kfz-Verkehrsstärken und -Tempi aus.

Fazit

Die Aktiven bei der Bekämpfung der Radwegebenutzungspflicht meinen, dass das blaue Zeichen 237 unnötig ist, sehen aber auch, dass „für langsame und unsichere Radfahrer“ andere Angebote nötig sind. (2) Auf der anderen Seite ist die Forderung von Thiemo Graf in der AKP, statt Radfahrstreifen generell wieder baulich getrennte Radwege anzulegen, damit man den subjektiven Sicherheitsgefühlen entgegenkommt, nicht korrekt: (5) Seine Argumentation, allein die Masse der Radelnden würde dann ihre objektive Sicherheit steigern, wirkt angesichts der Steigerung der Unfallzahlen in der Radelnden- und Radwegestadt Münster sowie in anderen Städten leicht zynisch. Sicherlich gibt es unterschiedliche Qualitäten von Radwegen auf Gehwegniveau, aber einen gemeinsamen „Systemfehler“ haben sie doch.

In Kürze

Im Verkehrsbereich gibt es einen „roll-back“ hin zu Radwegen statt Rad fahren auf der Fahrbahn. Im Beitrag werden die Positionen der Gegner und Befürworter von Radwegen vorgestellt und eine Übersicht über die möglichen Hilfen bei der Nutzung der Fahrbahn durch Rad­ler/innen geboten und diskutiert.

Was meinen Sie?

Zurück zu den Radwegen, weil die Masse es will oder keine Radwege, weil die Avantgarde es besser weiß? Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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Quellen:

  1. GDV (Hrsg.): Abbiegeunfälle Lkw/Pkw und Fahrrad, Berlin 2013, Download: www.udv.de > Publikationen. Die Erkenntnisse dieser Studie wurden mit weiterem Material von der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in einem Leitfaden für kommunale Verwaltungen zusammengefasst: „Sicher geradeaus! Leitfaden zur Sicherung des Radverkehrs vor abbiegenden Kfz“, Berlin Mai 2015. Download auf www.stadtentwicklung.berlin.de Aufgrund der Förderung des Bundesverkehrsministeriums ist es wohl die zur Zeit „offiziellste“ Beschreibung des Stand des Wissens.
  2. "Radwegebenutzungszwang – Erfahrungsaustausch“, Bericht von einer Arbeitsgruppe beim 20. BUVKO, in: mobilogisch 2/15, Seite 23 ff.
  3. z.B. Bernhard Knierim „Fahrradstraßen in Berlin – gute Idee, schlecht umgesetzt“, in mobilogisch 2/2013
  4. Stefan Lieb „Mittelding zwischen Radweg und Radfahrstreifen“, in: mobilogisch 3/14, Seite 28 ff.
  5. Thiemo Graf „Nur was für Mutige?“, in: AKP 2/2015, Seite 41
  6. GDV (Hrsg.) „Planung verkehrssicherer Infrastruktur für den zukünftigen Radverkehr“, Berlin, 2015

 

Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2015, erschienen. 

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Diskussion der Handlungsoptionen von Kommunen für die Instandhaltungsproblematik der Straßen: Die aktuelle Situation unter Beachtung des demographischen Wandels, der schlechten Straßenqualität und mangelnde finanziellen Mitteln in den Kommunen, verlangt nach neuen Lösungsansätzen im Straßenbau. Der Vorschlag die Straßen zu „entnetzen“, bedeutet, sie strategisch und unter Beachtung der örtlichen Gegebenheiten zurück zu bauen. In diesem Zusammenhang wird auch oft das Wort „degenerieren“ verwendet, was bewusst das durchdachte Zurückbilden und nicht wie im üblichen Sinne verkommen oder schrumpfen, ausdrückt.

Worum geht’s?

Zentrales Thema der Doktorarbeit „Wenn Straßen zur Last fallen - Zum Umgang mit der kommunalen Straßeninfrastruktur unter Schrump­fungsbedingungen“ von Timo Barwisch ist die Frage, ob der strategische Rückbau des Straßennetzes eine mögliche mittelfristige Option für Kommunen ist. Im Fokus stehen besonders jene Kommunen, die stark von Abwanderung, geringen Geburtenraten und / oder finanziellen Problemen betroffen sind. Welche Vorteile könnten sich aus der Entnetzung ergeben, die ja eigentlich im Gegensatz zum allgemeinen Ansatz, der Verbesserung der Infrastruktur durch einen Ausbau des Netzes, steht?

Theorie

Überprüft wird zunächst, inwieweit sich der Gedanke des „Entnetzens“ im Kontext der Theorie der Netze einbetten lässt. Aufgrund der in der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse wird ein klassifiziertes Kernnetz empfohlen. Ziel ist es hierbei, entbehrliche Straßen abzubauen und nur die Straßen zu sichern, bei denen langfristig eine relevante Verkehrsbedeutung vorliegt. Im Fokus des Rückbaus stehen vor allem Straßen, die ihren ursprünglichen Nutzen verloren haben, die nahe Ausweichrouten haben, deren Rückbau nur zu geringen Umwegen führt, deren Zustand und Alter Sicherheitsrisiken mit sich bringen und / oder die in Bereiche mit aufgegebenen Nutzungen führen. Die vielerorts knappen finanziellen Mittel können oft nicht zielgerichtet in das wichtige Kernnetz investiert werden, welches sich in der Folge kontinuierlich verschlechtern wird. Um ein Kernnetz zu identifizieren, das dieselbe Funktionalität wie das ursprüngliche Straßennetz aufweist, müssen jedoch zuerst passende Kriterien gefunden und ein entsprechender Gesetzesrahmen geschaffen werden.

Gründe für planerisches Handeln

Planerisches Handeln ist, aufgrund der demographischen Entwicklung (niedrige Geburten-raten und Abwanderung) und der daraus resultierenden veränderten Verkehrsentwicklung und Inanspruchnahme der Straßeninfrastruktur, von Nöten. Des Weiteren sind viele Kommunen auch mit geringen Finanzierungskapazitäten konfrontiert, die sich aus dem demographischen Wandel, aber auch aus anderen Faktoren ergeben. Mängel in der Instandhaltung der Straßen zeigen sich vielerorts, die aufgrund der beiden oben genannten Gründe nicht adäquat angegangen werden können. In diesem Zusammenhang wird auch ergründet,ob die Instandhaltungsproblematik charakteristisch ist für bestimmte Regionen oder für die Größe der Kommunen. Ein wesentliches Ergebnis ist, dass die Übererschließung der Räume bedeutender ist als die des demographischen Wandels. Zwölf Beispielstädte dienen der Veranschaulichung.

Der Rückbau kann jedoch nicht nur eine gezielte Antwort auf den demografischen Wandel, die Finazierungsprobleme der Kommunen und die Instandhaltungskrise der Straßen sein, sondern bringt noch weitere positive Effekte mit sich. Diese wären zum einen die Aussicht auf langfristig reduzierte Instandhaltungskosten, die Möglichkeit, Schrumpfungsprozesse räumlich aktiv zu steuern, den Landschafts-und Naturschutz durch eine Wiedervernetzung von Biotopen und Lebensräumen aktiv zu unterstützen, sowie den Tourismus und den Radverkehr zu fördern. Außerdem ergibt sich durch die Konzentration auf das Kernnetz eine geringere innerörtliche Verkehrsbelastung und eine Wiedervernetzung verschiedener Räume.

Hindernisse

Aufgrund des dominierenden Trends der letzten Jahrzehnte, des konstanten Neu- und Ausbaus des Straßennetzes, wird diesem heute noch immer mehr Bedeutung beigemessen als Maßnahmen zur Bestandssicherung. Außer-dem wird auf Schrumpfungsprozesse oft unangemessen reagiert. Ein intelligenter Rückbau ist in der Außenwirkung als schwer vermittelbar, resignativ und unattraktiv zu beschreiben. Dies gilt insbesondere für politische Entscheidungsträger. Insoweit ist es nachvollziehbar, dass auch noch in Zeiten der Schrumpfung, Neuplanungen und Ausbau Konjunktur haben. Da es sich bei den Schrumpfungsprozessen jedoch um eine neue Normalität handelt, bei der nicht auszugehen ist, dass sie sich bald wieder ändert, ist die Forschung in diesem Bereich essentiell für die heutige und zukünftige Planung einer nachhaltigen Straßeninfrastruktur.

Mit dieser „historischen“ Entwicklung verbunden steht die Gesetzgebung: Zusätzlich wird in der Arbeit erörtert, ob und in welchem rechtlichen Rahmen ein Rückbau des Straßennetzes überhaupt möglich ist. Außerdem wird dargelegt, an welchen Stellen in der Gesetzgebung der Rückbau bislang behindert wird. Ferner werden Vorschläge gemacht, wie man diese Hindernisse zugunsten des Rückbaus ausräumen kann. Zum Beispiel sollte die Gesetzgebung dahingehend verändert werden, dass ein Prüfkriterium zur Mindestauslastung von Straßen eingeführt wird.

Neben der Gesetzeslage müssen im Individualfall auch immer örtliche Gegebenheiten betrachtet und diese sowie lokale Akteure in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden, was diesen komplex und langwierig machen kann. Verschiedene Maßnahmen und Wege. die Planung integrativ und das Projekt nachhaltig zu gestalten, werden im Buch diskutiert. Unter diesen befinden sich Öffentlichkeitsarbeit und Trans­parenz bezüglich der Hintergründe und Motivationen für einen Rückbau, um Wissen zu vermitteln und Akzeptanz in der Bevölkerung zu schaffen. Außerdem sollte die Zivilgesellschaft sowie andere Akteure verschiedener Ebenen und Felder mit in das Projekt einbezogen werden.

Obwohl der Ausbau der Straßeninfrastruktur oft zu einer besseren Erreichbarkeit und zu positiven Entwicklungen in anderen Bereichen geführt hat, gab es auch Fehlentscheidungen in der Straßenplanung. Jedoch ist das Einräumen dieser Fehlentscheidung und / oder die Zurücknahme von Maßnahmen und eine Änderung der Strategie im Straßenbau keine gängige Praxis. Grundsätzlich wurde erkannt, dass der Verkehrsbereich veränderungsresistent ist, was vor allem bei einem so revolutionären Konzept wie dem Rückbau Probleme bereiten könnte. Unter anderem deshalb, aber auch ganz grundsätzlich, ist der politische Wille essentiell. Um die breite Öffentlichkeit zu über-zeugen, müssen zuerst die betreffenden Politiker vom Konzept „Rückbau“ überzeugt sein, denn es darf nicht vergessen werden, dass auch ein Rückbau kurzfristig Kosten verursacht und erst langfristig zu gewünschten Einspareffekten führt. Als positiver Aspekt unter den ersten zu sein, die den Rückbau realisieren, ist die Chance, als Modellbeispiel Vorbild für andere zu werden.

Wertewandel

So wie sich im Bereich Umweltbewusstsein ein gesellschaftlicher Wandel vollzogen hat, so könnte sich auch zum Thema Rückbau die gegenwärtige allgemeine Haltung verändern. Dadurch würden zukünftig beide Aspekte, der Rück- und Ausbau, Beachtung in der Planung finden. Ein weiterer Wertewandel hinsichtlich der Assoziation des Begriffs „Abgeschiedenheit“ könnte sich vollziehen: heute meist negativ behaftet könnte „Abgeschiedenheit“ schon bald eine positive Assoziation hervorrufen, denn abgeschiedene Räume können einen großen Nutzen für den Tourismus oder den Naturschutz haben. Unter diesen veränderten Wertevorstellungen wäre der Rückbau als Option in der Straßenplanung deutlich realistischer.

Kriterienliste

Alle oben genannten Schritte und Aspekte werden in einer abschließenden Modellrechnung zusammengefasst, aus der sich dann ablesen lässt, wie sich die beiden Konzepte Erhalt und Rückbau des Straßennetzes finanziell über die nächsten Jahre entwickeln. Damit lässt sich bestimmen, ob und in welchen Fällen ein Rückbau des Straßennetzes in Frage kommt, denn dieser ist keine Universallösung. Für manche Kommunen kommt die Entnetzung nicht als Handlungsoption in Frage, andere setzen sie möglicherweise in Kombination mit anderen Alternativen um, die auch innerhalb der Arbeit dargestellt werden. Der Rückbau kann auch als Chance gesehen werden, andere Probleme in der Straßeninfrastruktur zur selben Zeit anzugehen.

Um die Entscheidung für oder gegen einen Rückbau in Einzelfällen zu vereinfachen, wurde eine Kriterienliste erstellt, die den Trägern der Baulast als Hilfsmittel bei der Erstellung einer planerischen Gesamtstrategie für einen Raum dienen kann. Die Kriterienliste kann auch für Öffentlichkeitsarbeit oder als Argumentationsgrundlage dienen.

Fazit

Eine Tendenz zur Übersättigung im Ausbau des Straßennetzes ist in einigen Teilen der Republik zu erkennen. Die Entnetzung kann helfen, das Straßennetz auf eine solche Größe zu reduzieren, dass es nachhaltig und entsprechend seiner Funktion und Auslastung unterhalten werden kann. Außerdem finden im Konzept „Rückbau“ Aspekte wie die finanzielle Machbarkeit und neben dem erwähnten tatsächlichem Bedarf auch weitere Vorteile Beachtung.

Die der derzeitigen Politik und Planungspraxis zugrunde liegenden Konzepte sind aufgrund der Forschungsergebnisse nicht zukunftsfähig. Die traditionelle Begründung des Netzausbaus, der volkswirtschaftliche Nutzen durch Zeitersparnis, muss differenzierter gesehen und gegebenenfalls durch einen oder mehrere neue Ansätze ersetzt werden. Zukünftig sollte die Ausgestaltung des Netzes, vereinfacht gesagt, mit der prognostizierten Bevölkerungsentwicklung abgeglichen werden.

In Kürze

Der demografische Wandel, leere öffentliche Kassen und Probleme bei der Instandhaltung der Straßennetze stellen viele Kommunen vor eine große Herausforderung. Im Beitrag wird der Vorschlag unterbreitet, Straßen strategisch zurückzubauen. Dabei werden Potenziale und Hindernisse aufgeführt.

Literatur:

Timo Barwisch (2014): Wenn Straßen zur Last werden – Zum Umgang mit der kommunalen Straßeninfrastruktur unter Schrumpfungsbedingungen. Hamburg, 2014. Verlag Dr. Kovac

 

Dieser Artikel von Hannah Thein ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2015, erschienen. 

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