Der aufrechte Gang hat es dem Menschen ermöglicht, seine Umwelt besser wahrzunehmen. Dennoch wären in imaginären Aufzeichnungen absolvierter Mobilität solche Selbstverständlichkeiten, wie das Fahren mit dem Auto und dem Aufzug zum Laufband im Fitnessstudio oder aufgrund der enormen Verkehrsbelastung dem mütterlichen Instinkt folgende Mamataxifahrten vorzufinden. Nach wie vor sind derlei Verhaltensweisen auch in den Köpfen der Verkehrsplaner und -politiker wiederzufinden.
Nachdem die Stadt mit ihren großzügigen Promenaden für zu Fuß Gehende von der Gründerzeit in den 1920ern zur autogerechten Stadt in den 1970ern mutierte, führen heute die Verkehrsmittel und ihre Nutzer untereinander einen Streit um die Hoheit der Fläche. In der Verkehrsplanung spielt der Fußverkehr, abgesehen von den Innenstadtreservaten, häufig die Rolle des Lückenfüllers, obwohl der Modal Split-Anteil des Fußverkehrs in Deutschland bei 24 % (1) liegt. Dieser unterminierte Stellenwert liegt zum Teil an der schlechten Datenlage über Anforderungen und Verhaltensweisen des Fußverkehrs.
Der Fußverkehr findet bisher aus medialer Sicht nur einen geringen Stellenwert. Während für andere Verkehrsmittel bereits Indizes zur Wertung der jeweiligen Qualität in deutschen Städten bestehen, allen voran für den Radverkehr, war ein Index, der den Fußverkehr nach einem einheitlichen Prinzip in einer Vielzahl von Städten untersucht, nicht gegeben. Diese Lücke wollte ich schließen. In meiner Masterarbeit wurde der Fußverkehr für alle 76 deutschen Großstädte mit über 100.000 Einwohnern (Berlin bis Moers) untersucht. Dies wurde mithilfe verschiedener, auf transparente Weise hergeleiteter Indikatoren sowie deren Übertragung in den eigens erstellten perpedesindex 2016 realisiert.
Als Erstes versuchte ich, in der Fußverkehrspolitik erläuterte Qualitätsziele und Indikatoren für den Fußverkehr zu finden, zunächst gelang es nicht aus diesen Quellen passende Indikatoren für einen Index zu finden. Im nächsten Schritt wollte ich herauszufinden, welche Determinanten aus Bereichen wie Stadtplanung, Umwelt und Psychologie den Fußverkehr berühren, um daraus Indikatoren ableiten zu können. Dabei konnten mir wissenschaftliche Ausführungen zum Thema der Walkability (Gesamtbegehbarkeit) diese Determinanten liefern.
In einem weiteren Schritt untersuchte ich die nationale und internationale Fußverkehrspolitik grundlegend auf Ziele, die sich Staaten und Kommunen auferlegt haben, um den Fußverkehr zu verbessern. Darunter zu finden sind vor allem die Verkehrsentwicklungsplanung (VEP), die Luftreinhalteplanung (LRP) und die Lärmminderungsplanung (LMP) sowie Fußverkehrskonzepte auf kommunaler Ebene, Fußverkehrsstrategien wie z.B. der „Masterplan Gehen“ auf nationaler Ebene und rechtsverbindliche Dokumente wie z.B. die European RoadSafety Charter auf internationaler Ebene.
In einem letzten Schritt habe ich bestehende Indizes unabhängig von den Schwerpunkten ihrer Betrachtungen (Copenhagenize Index, ADFC-Fahrradklimatest, Bundesländerindex Mobilität, Walk Score) auf
untersucht und miteinander verglichen, um bereits evaluierte Indikatoren oder Themenbereiche, z.B. zur Einschätzung des Radverkehrs in Städten, in meinen perpedesindex 2016 zu übertragen.
Aus den politischen Zielen, den Ergebnissen meiner Untersuchung anderer Indizes, sowie aus den Determinanten der Walkability konnte ich daraufhin Zielgrößen für meinen Index definieren.
Aus diesen Zielgrößen habe ich nach allgemein gültigen Anforderungen (2) Indikatoren abgeleitet. Aufgrund einer fehlenden übergreifenden Statistik oder Vergleichsgröße für die Barrierefreiheit konnte diese Zielgröße nicht mit einem Indikator berücksichtigt werden. Ebenso floss die Fußverkehrspolitik nicht direkt in den perpedesindex 2016 ein, da die konkrete Zuweisung einzelner Finanzmittel für den Fußverkehr in den Kommunen nicht erhoben werden konnte.
Das Ergebnis der Voruntersuchung ist der perpedesindex 2016, welcher aus folgenden Indikatoren besteht:
Eine Gewichtung der einzelnen Indikatoren untereinander wurde nicht vorgenommen. Jeder der fünf Indikatoren besitzt dasselbe Gewicht von 20 % im perpedesindex. Ein frei erstelltes Gewichtungssystem würde dem Problem gegenüberstehen, eine Berechtigung für die unterschiedliche Bewertung der Einflussfaktoren nachzuweisen. Die Gewichtung innerhalb der Indikatoren wurde wiederum mithilfe von Interpolation durchgeführt. Die Ergebnisse werden normalisiert, wobei der beste Wert aller Städte eines Indikators einen Punktewert von 100 bzw. der schlechteste Wert einer Stadt 0 Punkte erhält. Die Werte dazwischen werden interpoliert und orientieren sich damit an den jeweiligen Grenzwerten. Der Vorteil der Normalisierung auf 0 bis 100 Punkte ist die Vergleichbarkeit der einzelnen Indikatoren untereinander, sowie die Möglichkeit einen Durchschnitt aller Indikatoren zu bilden.
Während der Motorisierungsgrad und die Erholungsfläche pro Einwohner schnell über das statistische Bundesamt erhoben werden konnten, mussten die anderen Indikatoren aufwendiger ermittelt werden:
Den höchsten Wert erreichten die Städte Jena und Rostock mit jeweils 76 Punkten. Diese Städte wiesen Bestwerte bei den Indikatoren Modal Split, Motorisierungsgrad und Verkehrssicherheit auf und führen damit den perpedesindex 2016 an. Die Stadt Jena erhielt, bis auf den Indikator Erholungsflächenanteil, bei allen Indikatoren Werte über 85 Punkte, was ein Alleinstellungsmerkmal unter allen Städten darstellt. Ferner erreichten die Städte Göttingen (73), Halle (Saale) (69) und Aachen (67) nennenswert hohe Punktewerte. Die geringsten Werte wiesen Saarbrücken (39), Regensburg (38) und Heidelberg (36) auf. Die Stadt Heidelberg konnte aufgrund ihrer sehr geringen Stadtfläche und ihrer besonderen Stadtstruktur bei den Indikatoren Umwegefaktor und Erholungsflächenanteil keinen Punkt erhalten. Saarbrücken ist die Stadt mit dem niedrigsten Wert für den Indikator Verkehrssicherheit und erreichte ebenfalls einen sehr niedrigen Punktwert für den Indikator Erholungsflächenanteil (4 Punkte). Insgesamt weisen die meisten Städte einen Gesamtpunktwert zwischen 50 und 60 auf. Nur die drei jeweils o.g. Städte erhielten einen Punktewert unter 40 bzw. über 70 Punkten. Der durchschnittliche Punktewert des perpedesindex beträgt 56 Punkte, der von 35 Städten überschritten wird.
Alle erreichten Punktwerte werden in einer Onlinekarte dargestellt, bei der jeder schauen kann, welche Platzierung „seine“ Stadt erreichte.
Mithilfe einer Sensitivitätsanalyse wurden die Indikatoren des perpedesindex 2016 geprüft. Dabei wurde die Gewichtung der einzelnen Indikatoren verändert und die dabei entstehenden Endergebnisse auf starke Abweichungen überprüft. Innerhalb der Prüfung konnten lediglich geringe Abweichungen festgestellt werden. Obgleich einer Sensitivitätsanalyse keinerlei Regeln unterstehen, kann der perpedesindex 2016 nach statistischen Gesichtspunkten als sicher betrachtet werden.
Nachdem ich den perpedesindex 2016 erstellt hatte, stellte sich für mich die Frage, welche wissenschaftlichen Aussagen man über die Ergebnisse treffen kann. Dies versuchte ich anhand einer Korrelation von Einflussfaktoren wie
mit den Ergebnissen des perpedesindex 2016. Des Weiteren versuchte ich die einzelnen Indikatoren miteinander zu korrelieren um bspw. Aussagen zu treffen wie: „Eine Stadt mit einem hohen Modal Split-Anteil besitzt gleichzeitig einen hohen Erholungsflächenanteil“. Nachdem ich zahlreiche Daten miteinander korreliert hatte, konnten folgende Aussagen getroffen werden:
Für alle anderen Einflussfaktoren konnte keine wissenschaftliche Aussage getroffen werden, aufgrund sehr geringer Bestimmtheitsmaße. Wobei auch bei den oben genannten Ergebnissen aufgrund von Bestimmtheitsmaßen von weniger als 0,2 lediglich von Tendenzen gesprochen werden kann.
Den deutlichsten Unterschied zeigte eine Gegenüberstellung von Städten der alten Bundesländer mit Städten der neuen Bundesländer.
Der Fußverkehr wird in Zukunft vom demografischen Wandel profitieren. Der perpedesindex 2016 kann dazu beitragen, Städte zu ermutigen, den Fußverkehr in ihrer Stadt- und Verkehrsplanung stärker einzubeziehen. Als vergleichendes Instrument mit einer Vielzahl von Indikatoren ist der perpedesindex 2016 signalgebend für Stadtplaner, Politiker und Verbände. Aus diesem Grund wurden die Ergebnisse allen untersuchten Kommunen, deren Polizeipräsidien und Stadtplanern, sowie einschlägigen Verbänden in Form der erstellten Karte zugestellt. Die Reaktionen auf die Ergebnisse werden erste Hinweise geben, ob der Fußverkehr seine Rolle als gleichwertiges Verkehrsmittel einnehmen kann.
Bei der Auswahl der Indikatoren hat sich gezeigt, wie schwierig es ist, den Fußverkehr ohne eine gute Datengrundlage zu messen. Für eine verbesserte und periodische Erstellung des perpedesindex könnten hierfür aufwendigere Methoden für die Erhebung gewählt werden, wie z.B. eine repräsentative Befragung. Ferner wäre für die Erstellung eines fortlaufenden perpedesindex die Vergrößerung des Fragenpools im Zensus von Deutschland auf weitere Kenngrößen des Verkehrs wünschenswert.
Der Fußverkehr spielt bisher auf der politischen und medialen Bühne eine Nebenrolle. Ein Ranking des Fußverkehrs von Städten kann Hilfestellung sein, um sich dem Fußverkehr zu nähern. In dieser Masterarbeit wurde der Fußverkehr für alle 76 deutschen Großstädte mit über 100.000 Einwohnern untersucht. Dies wurde mithilfe hergeleiteter Indikatoren sowie deren Übertragung in den eigens erstellten perpedesindex 2016 realisiert.
Die Masterarbeit „Fußverkehrsqualität in Städten messen- der perpedesindex 2016“ , 121 Seiten. 1. Betreuer: Prof. Mathias Gather, FH Erfurt, Institut für Verkehr und Raum (IVR) 2. Betreuer: Attila Lüttmerding, Fuss e.V., IVR.
Nach einer Nachbereitung wird die Arbeit vorausichtlich ab Juni 2016 in „Berichte des Instituts Verkehr und Raum“ zu finden sein (www.fh-erfurt.de/fhe/vur/download-bereich/berichte-des-instituts-verkehr-und-raum/)
(1) Vgl. DLR- Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. Institut für Verkehrsforschung, infas- Institut für angewandte Sozialwissenschaft (2010): Mobilität in Deutschland 2008, Berlin, Ergebnisbericht, Struktur- Aufkommen- Emissionen- Trends, Berlin, S. 25.
(2) Vgl. Dietrich, Edgar; Schulze, Alfred; Weber, Stefan (2007): Kennzahlensystem – für die Qualitätsbeurteilung in der industriellen Produktion, Hanser Verlag, Weinheim, S. 14-15, verfügbar unter: www.beck-shop.de/ fachbuch/leseprobe/9783446410534_Excerpt_001.pdf
Dieser Artikel von Jörg Kwauka ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2016, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
In der Fußgängerstadt Wien fand im Oktober 2016 die Walk 21 Vienna statt. Doch trotz eines ausladenden Programmes war für notwendige Diskussionen um die Messung und Analyse des Verhaltens der Fußgänger(innen) zu wenig Platz.
Soeben ist die Walk 21 Vienna zu Ende gegangen. Es war die neunte Ausgabe einer internationalen Konferenz-Reihe, die sich dem Thema Zu-Fuß-Gehen widmet. In ihrem Rahmen entstand eine bemerkenswerte Initiative. Der Schweizer Daniel Sauter hat mit vier weiteren Kollegen aus Belgien, England und Kanada (Tim Pharoah, Miles Tight, Ryan Martinson, Martin Wedderburn) einen „International Walking Data Standard“ zum „Treatment of Walking in Travel Surveys“ erstellt (www.measuring- walking.org). Dafür haben sie sich fünf Jahre Zeit genommen und sehr gründlich gearbeitet. Der Standard lag rechtzeitig zur Wiener Konferenz vor, klar gegliedert, verständlich formuliert und gut lesbar aufbereitet. Er befasst sich mit einem Thema, das von grundsätzlicher Bedeutung ist für jede(n), der/die sich für das Mobilitätsgeschehen interessiert. Denn ohne saubere Daten über das Verhalten der Menschen sind fundierte Analysen oder Planungen schwer vorstellbar. Und ganz besonders beim Zu-Fuß-Gehen, dem einzigen Verkehrsmittel das jeder nutzt, sind die Datengrundlagen eher dürftig.
Sie, liebe Leser, werden jetzt denken, dass dieser Standard an geeigneter Stelle im Konferenz-Programm präsentiert wurde. Da kennen Sie die Walk-Konferenz aber schlecht. Es gibt/gab ein ausuferndes Programm mit schwachen Präsentationen, es gab eine langatmige Eröffnungsveranstaltung mit Talk-Show-Charakter, aber für die Erhebung der Daten – die ja die Menschen repräsentieren – war keine Zeit. Lediglich ein Workshop im Vorprogramm der Konferenz konnte den Veranstaltern abgerungen werden.
Vor diesem Hintergrund können Sie sich bereits vorstellen, wie es einer Auswertung ergangen ist, die wir speziell für diese Konferenz, mit aktuellen Daten zu Wien und besserer Erfassung des Fuß-Verkehrs (inkl. Fuß-Etappen und Warte-Etappen) gemacht haben. Ihre Präsentation hat es auch nur ins Vorprogramm geschafft.
Dabei wollten wir zeigen, wie detailliert man mit gängigen Erhebungsverfahren die tägliche Mobilität auf Etappenbasis erfassen kann. Zugrunde liegen zwei Datenquellen. Eine Erhebung für das Austrian Institute of Technology (AIT) im Jahre 2012, bei der alle Personen eines Haushalts und ihr Mobilitätsverhalten für sieben Tage auf Etappenbasis erfasst wurden. Diese Erhebung war sehr erfolgreich (Antwortquote 69 %) aber auch aufwändig. Deshalb war die Stichprobe relativ klein (210 Personen). Die zweite Quelle war die kontinuierliche Erhebung der Mobilität der Wiener(innen) von 1993 bis 2009. Diese Erhebungen erfassten alle Tage eines Jahres, wurden jährlich fortgeschrieben und zu einem Gesamt-Bestand von knapp 24.000 Personen verschmolzen. Die in der ersten Erhebung ermittelten Kennwerte für Etappen wurden dann in die zweite Erhebung eingespielt und die Mobilitätsdaten auf das Jahr 2015 fortgeschrieben.
Ein Weg besteht fast immer aus mehreren Etappen. Dabei werden in der Regel auch mehrere Verkehrsmittel genutzt. Für viele Auswertungen ist es aber nötig, pro Weg ein Verkehrsmittel zu bestimmen, das sog. „hauptsächlich genutzte Verkehrsmittel (HVM)“. Hierzu wird am häufigsten eine Verkehrsmittel-Hierarchie benutzt, bei der in der Regel der öffentliche Verkehr „oben“ und der Fuß-Verkehr „unten“ steht. Mit anderen Worten: Wann immer ein ÖV auf einer Etappe benutzt wurde, ist es ein ÖV-Weg. Fußwege sind dagegen nur Wege, bei denen es keine Etappen mit anderen Verkehrsmitteln gibt. Da wir alle wissen, dass sehr viele Verkehrsmittel nur in Verbindung mit Fußwegen genutzt werden können, wird deutlich, dass das Zu-Fuß-Gehen der große Verlierer bei der Bestimmung des HVM ist. Wie groß dieser „Verlust“ ist, möchten wir an einem besonders geeigneten Beispiel zeigen: Der Mobilität der Wiener(innen).
In unserem fortgeschriebenen Datenbestand für 2015 legen die Wiener(innen) über ein Drittel (38 %) aller Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. An zweiter Stelle folgt das Zu-Fuß-Gehen (28 %) und erst an dritter der Pkw-Fahrer (21 %). Diese Dominanz des öffentlichen Verkehrs begründet das Image Wiens als ÖV-Stadt. Da wir aber wissen, dass der ÖV nicht ohne Fußgänger funktioniert, müssen wir dieses Image bereits jetzt revidieren. Denn beide Verkehrsmittel decken bereits zwei Drittel aller Wege ab, Wege also, die ohne die eigenen Füße nicht möglich wären.
Wenn man sich jetzt alle Verkehrsmittel ansieht, die bei einem Weg (einmal oder mehrmals) benutzt werden, ergibt sich eine Summe von 180 %. Es werden also pro Weg 1,8 Verkehrsmittel genutzt. Und bei neun von zehn Wegen ist mindestens eine Fuß-Etappe dabei. Wien ist also sicher eine ÖV-Stadt, vor allem aber eine Stadt der Fußgänger.
Mit den 1,8 Verkehrsmitteln werden in Wien 3,0 Etappen pro Weg zurückgelegt (in der Tabelle: 300 %). Und es zeigt sich, dass wir im Schnitt pro Weg mit zwei Fuß-Etappen rechnen können. Aus 28 % Fußwegen (HVM) werden 90 % Wege mit Fuß-Etappen und zwei Fuß-Etappen pro Weg. Dabei sind Etappen auf Privatgrund nicht berücksichtigt (traditionell werden bei Mobilitäts-Erhebungen nur Wege auf öffentlichem Boden erfasst); mit ihnen wäre die Dominanz der Fuß-Etappen noch stärker.
Man kann diese Werte aber auch so darstellen, dass die Summe der HVM, der genutzten Verkehrsmittel und der Etappen immer hundert ergibt. Dann zeigt sich, was wir aus der vorherigen Tabelle schon indirekt ablesen können: Ein gutes Viertel (28 %) aller Wege sind Fußwege nach HVM, die Hälfte aller Verkehrsmittel sind „Zu Fuß“ und zwei Drittel aller Etappen werden zu Fuß zurückgelegt.
Interessant ist hier aber auch die zeitliche Entwicklung dieser Kennziffern. Nach gängiger Lesart (HVM) ist in Wien der öffentliche Verkehr stark angestiegen, ausschließlich zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs (MIV). Dagegen blieb der Anteil der (reinen) Fußwege über zwanzig Jahre konstant. Die Zuwächse im ÖPNV sind allerdings (relativ) am größten bei der Betrachtung des HVM und am geringsten auf Etappenbasis. Beim Pkw-Fahrer ist es genau umgekehrt. Das wäre auch so, wenn wir den MIV gesamt betrachten würden (mobilogisch! Leser wissen allerdings, dass wir es für einen ebenso großen wie häufigen Fehler halten, nur den MIV auszuweisen und nicht nach Pkw-Fahrer und -Mitfahrer zu unterscheiden).
Schon 1993 ergab sich für Wien ein Spitzenwert mit 7,3 Etappen pro Person und Tag; bis 2015 ist dieser Wert nochmal um ein Siebtel gestiegen (8,3). Um ein besseres Gefühl für diese Etappen zu bekommen, müssen wir die Wege nach HVM und den jeweiligen Wege-Etappen untergliedern. Dabei zeigen sich auch ganz ungewöhnliche Kombinationen, die nur sehr selten vorkommen und in der Tabelle mit 0,00 ausgewiesen sind.
Die geringste Anzahl an Etappen pro Weg finden wir beim Fahrrad (1,08), die höchste beim ÖPNV (5,80!). Der motorisierte Individualverkehr liegt durchwegs im Bereich von 1,6 Etappen pro Weg. Dabei handelt es sich fast immer um Fuß-Etappen. Nur beim ÖPNV werden auch 1,64 öffentliche Verkehrsmittel im Schnitt auf einem Weg miteinander verknüpft. Dem stehen aber (bei einem durchschnittlichen ÖPNV-Weg!) etwa vier Fuß-Etappen gegenüber.
Für diese Wege-Etappen kann man auch die jeweils zurückgelegte Entfernung oder die entsprechende Dauer hinterlegen. Dabei kann man unterscheiden zwischen der Entfernung/ Dauer für das jeweilige HVM und für die dazugehörigen Fuß-Etappen. Für diese Auswertung haben wir die gesamte Mobilität pro Person und Tag zugrunde gelegt.
Für den Durchschnitt aller Personentage zeigt sich ein gewohntes Bild: Die täglich zurückgelegte Entfernung wird zum weitaus größten Teil mit dem HVM bewältigt; Fuß-Etappen umfassen nur knapp 6 % (1,1 von 19,3 km). Allerdings übersteigen sie in ihrer Summe bereits die Entfernung, die mit „reinen“ Fußwegen erreicht wird (0,8 km) um über ein Drittel. Oder anders: Die über HVM ermittelte Fuß-Entfernung muss mehr als verdoppelt werden, um die tatsächliche Verkehrsleistung mit den eigenen Füßen zu ermitteln. Und: Die in ÖPNV-Etappen zurückgelegte Fuß-Entfernung ist bereits so hoch (oder höher) als die des HVM Zu Fuß.
Ein deutlich akzentuierteres Bild ergibt sich bei einer Aufgliederung der Wege-Dauern, wobei wir hier die Warte-Etappen (im ÖPNV) noch zusätzlich ausgewiesen haben. Im HVM ist die Dauer pro Person und Tag fast gleich bei Zu Fuß und Pkw-Fahrer (12 und 13 Minuten) und beim ÖPNV am höchsten (17 Minuten). Allerdings summieren sich die Fuß-Etappen zu insgesamt 17 Minuten (alleine im ÖPNV 14 Minuten) und erreichen damit fast den eineinhalbfachen Wert der reinen Fußwege. Beim ÖPNV kommen nochmal fünf Minuten Wartezeit dazu. Damit beträgt die reine Fahrzeit (17 Minuten) noch nicht einmal die Hälfte der gesamten Reisezeit (36 Minuten).
Traditionelle Mobilitäts-Analysen auf Basis des HVM haben ihren Sinn und sind nicht verzichtbar. Aber man sollte immer im Kopf haben, dass dabei - wie bei jeder Standardisierung - wichtige Informationen verloren gehen.
In unserem Beispiel für Wien sind das pro Person und Tag 1,1 Kilometer der täglich zurückgelegten Entfernung (6 % von 19,3; bei anderen Verkehrsmitteln zugeordnet). Und die tägliche Unterwegszeit (72 Minuten) gliedert sich in 50 Minuten mit einem HVM (davon 12 Minuten zu Fuß als HVM), 17 Minuten für Fuß-Etappen (davon 14 Minuten im Zusammenhang mit dem ÖPNV) und 5 Minuten Warte-Etappen (ebenfalls ÖPNV).
Der praktische Nutzen solcher detaillierter Daten wird sofort deutlich, wenn wir uns mit einem Thema befassen, das in den letzten Jahren große Bedeutung gewonnen hat: Körperliche Bewegung (physical activity). Da ist inzwischen weitgehend akzeptiert, dass wir uns im Schnitt 30 Minuten am Tag bewegen sollten. Dass man dieses Ziel am einfachsten über die Alltagsmobilität erreicht, wurde in der klassischen Verkehrsplanung lange nicht erkannt. Das ist inzwischen in vielen Städten anders, so auch in Wien.
Addiert man nun die Dauer aller Rad-Wege, Fuß-Wege und Fuß-Etappen (sog. „Active Modes“) dann ergibt sich für Wien über alle Personen (allen Alters) und alle Tage bereits heute ein Durchschnittswert von 32 Minuten; bei denen die, die das Haus verlassen („mobile Personen“) sogar 39 Minuten.
Differenziert man diesen Wert nach Verkehrsmittel-Partizipations-Gruppen (also nach Personen, die an einem durchschnittlichen Tag mindestens ein Mal das jeweilige Verkehrsmittel als HVM nutzen), so zeigt sich, dass Fußgänger (innen) und Radfahrer(innen) die 30 Minuten-Marke deutlich überschreiten. Nutzer des motorisierten Individualverkehrs liegen dagegen durchwegs darunter. Aber die Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel erreichen auch Werte, die mit 49 Minuten das tägliche „Soll“ um fast zwei Drittel übertreffen: Wer den ÖPNV nutzt, lebt gesünder.
In dem genannten Workshop auf der Walk 21 Vienna, aber auch in den Gesprächen rund um die Konferenz ist immer wieder eine Frage gestellt worden, die ich aus vierzigjähriger Arbeit mit empirischer Mobilitätsforschung gut kenne: „Wozu braucht man das eigentlich?“
Hierfür bietet Wien ein vorzügliches Beispiel. Dazu müssen wir uns erinnern an den zu Beginn der neunziger Jahre erarbeiteten Master-Plan in Wien, in dem ein Konzept zur Eindämmung des motorisierten Individualverkehrs und zur Förderung seiner Alternativen angelegt wurde. Dabei wurde erkannt, dass infrastrukturelle Maßnahmen alleine nicht ausreichen würden, sondern dass auch die Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielt und einbezogen werden muss. Und es wurde erkannt, dass „Öffentlichkeit“ nicht nur die Bürgerinnen und Bürger meint, sondern alle Institutionen (wie z. B. Politik, Medien, Verwaltung, Interessengruppen, Initiativen etc.). Diese Erkenntnis resultierte in einem Auftrag an Socialdata zur Erarbeitung und Umsetzung eines „Public-Awareness (PAW)-Konzeptes“. Dieses PAW-Konzept hat Verhalten, Einstellungen, Potentiale für die erhofften Veränderungen ermittelt und mit diesen empirischen Daten ein Konzept der sog. „soft policies“ entwickelt und umgesetzt. Eine wichtige Erkenntnis war, dass die Stimmung in der Öffentlichkeit gegenüber dem gewollten Konzept positiver als erwartet ist und dass Verhaltensänderungen in die gewünschte Richtung leichter möglich sind, als vermutet. Auch auf freiwilliger Basis und ohne umfängliche infrastrukturelle Maßnahmen.
Dieses Konzept traf auf eine relativ geschlossene, gute vernetzte Planer-Szene in Wien. Sie hatten Daten und Ansichten, die von unseren oft abwichen. Als „Höhepunkt“ der dadurch ausgelösten Konflikte wurde in der für die Verkehrsplanung zuständigen Magistratsabteilung ein Flugblatt über unsere Ergebnisse verteilt, das mit „Rattenfänger unterwegs“ betitelt war.
Heute weiß man, wie erfolgreich Wien auf dem Weg zu einer verträglichen Mobilität ist. Dazu bedurfte es vieler guter Planungs- und Infrastrukturprojekte. Aber eben auch das Mitwirken der gesamten Öffentlichkeit. Und aus der zuständigen Magistrats-Abteilung ist zu hören, dass die Planung jetzt einfacher geworden ist, weil viele Menschen ihr Verhalten auch freiwillig ändern. Die Frage: „Why survey data?“ ist damit beantwortet: Empirische Daten repräsentieren das Leben und sind für Planungen, die sich an den Menschen orientieren wollen, unverzichtbar.
Werner Brög
Ohne das Zu-Fuß-Gehen gibt es keine Alltagsmobilität. Das wird besonders deutlich in einer Stadt wie Wien, in der konsequent Alternativen zum Autoverkehr gefördert werden. Allerdings braucht es eine verfeinerte Methodik, um das Zu-Fuß-Gehen auch empirisch angemessen abbilden zu können. Eine Diskussion dieser Methodik wird selten geführt und liegt leider nicht im Interessenspektrum einschlägiger Foren.
Socialdata, Institut für Verkehrs- und Infrastrukturforschung GmbH:
- Mobilitätserhebung 2012 im Auftrag von Austrian Institute of Technology
- Kontinuierliche Marktanalyse für die Wiener Linien 2009 im Auftrag der Wiener Linien
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2015, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
Unsere Alltagsmobilität ist individuell vielfältig und im Durchschnitt simpel und unspektakulär. Ihre Messung / Beschreibung ist aber immer eine Herausforderung.
Wir verbringen unser Leben am eigenen Wohnstandort oder an auswärtigen Gelegenheiten / Zielen. Um diese Ziele zu erreichen sind wir unterwegs. Dieses „Unterwegssein“ nennen wir Mobilität. In der Mobilitätsforschung nimmt man in der Regel die gesamte Mobilität der Menschen, zieht den Wirtschaftsverkehr und Fahrten über 100 km ab, erhält die täglichen Abläufe und Routinen und nennt das die „Alltags-Mobilität“.
Diese Alltags-Mobilität erleben wir täglich selbst und nehmen sie jeweils subjektiv (und damit unterschiedlich) wahr. Ihre empirische Messung ist gar nicht so einfach. Heute möchten wir aber, auf Bitte der mobilogisch!-Redaktion, die wichtigsten Variablen vorstellen, mit denen wir ein einheitliches Bild der Alltags-Mobilität herstellen können. Und damit dies nicht nur mit abstrakten Begriffen geschieht, quantifizieren wir die Basis-Variablen mit Daten aus einem unserer Datenbestände. Er bildet das Verhalten von Bewohner(inne)n deutscher Städte ab, umfasst alle Personen der jeweiligen Haushalte, ist für jeweils einen Stichtag, verteilt über das ganze Jahr erhoben und umfasst ca. 35.000 Personen (fortgeschrieben auf das Jahr 2015).
Außer-Haus-Anteil: Die Grundvoraussetzung für Mobilität ist, dass wir das Haus verlassen. Das machen in deutschen Städten vier von fünf Bewohnern. Sie sind die „Mobilen“ (80 % „Außer-Haus-Anteil“).
Ausgänge: Jedes Mal, wenn wir aus dem Haus gehen, erledigen wir – bis zu unserer Rückkehr – einen Ausgang. Die durchschnittliche Zahl der Ausgänge, die wir (im Jahresmittel) pro Tag verzeichnen, ist allerdings mit 1,29 relativ gering.
Jede(r) Zweite verlässt an einem durchschnittlichen Tag das Haus nur einmal (48 %) jeder Vierte (24 %) zweimal.
Zeitbudget: Auch die Zeit, die wir für das Leben außer Haus aufwenden, ist im Schnitt überschaubar. Etwa 18 Stunden verbringen wir zuhause, knapp fünf Stunden an (aushäusigen) Zielen. Es verbleibt eine gute Stunde für die Mobilität.
Diese Stunde ist eine der großen Konstanten in der Mobilitätsforschung; wir finden sie im horizontalen Vergleich vieler verschiedener Länder ebenso wie im vertikalen Vergleich der zeitlichen Entwicklung.
Das, was wir an den (aushäusigen) Zielen erledigen, nennt man Aktivität. Es gibt drei etwa gleich große Gruppen von Aktivitäten: „Pflicht-Aktivitäten“, „Gelegenheits-Aktivitäten“ und „Freizeit-Aktivitäten“.
Dabei ist „Freizeit“ der schillerndste Begriff. Er umfasst beispielsweise „soziale Kontakte“ (9 %); „Erholung“ (6 %); Sport (5 %); „Restaurant“ (2 %); „Kirche / Friedhof“ (2 %); „Kulturelle Aktivitäten“ (1 %) usw..
Auch die Zahl der aushäusigen Aktivitäten ist überschaubar. Ein Mobiler kommt auf 2,1 und für alle Personen ergeben sich 1,7 Aktivitäten pro Person und Tag.
Das liegt vor allem daran, dass fast die Hälfte der Mobilen nur eine Aktivität am Tag erledigt, ein knappes Drittel zwei.
Aktivitäten-Muster: Bei (relativ) wenigen Ausgängen und Aktivitäten pro Tag kann man keine komplizierten Aktivitätsmuster erwarten.
Diese Aktivitätsmuster werden mitunter auch „Wegeketten“ genannt. Bei einer genaueren Aufgliederung zeigt sich, dass vier Fünftel dieser Wegeketten (82 %) nur einer einzigen Aktivität dienen. Jede neunte Wegekette enthält zwei und nur jede vierzehnte drei Aktivitäten oder mehr.
Insgesamt haben wir in unserem Bestand (mit fast 50.000 Ausgängen) 722 verschiedene Möglichkeiten gefunden, einen Ausgang zu gestalten. Gleichwohl entfielen fast drei Viertel (73 %) dieser 722 Varianten auf vier einfache Muster.
Die Art und Weise, wie wir unsere alltägliche Mobilität organisieren ist aber nicht nur simpel, sondern auch sehr stabil. Wir haben die gezeigten Wegeketten in einer Reihe von Städten über einen Zeitraum von zwanzig Jahren verglichen und festgestellt, dass für die wichtigsten Aktivitätsmuster im Jahr 2014 nahezu identische Werte ermittelt wurden wie 1995! Trotz Internet, Leihfahrrädern und Car-Sharing ändert sich die Struktur unserer Alltags-Mobilität offenbar nicht oder nur sehr, sehr langsam.
Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass Mobilität kein Selbstzweck ist, sondern der Ausübung von Aktivitäten dient. Man misst sie aber in Wegen und meint damit alles, was zwischen den einzelnen Standorten (der Wohnung oder der Aktivität) stattfindet. Das hat den Vorteil, dass etwa 90 % der Befragten Wege auch aktivitätenbezogen verstehen und man damit bei Verwendung dieses Wegebegriffes die Befragten nicht mit komplizierten oder schwer verständlichen Wege-Definitionen behelligen muss.
Wohnungsbezug: In unserem Bestand haben wir 2,96 Wege pro Person und 3,69 pro Mobilem gemessen. Der größte Teil dieser Wege hat einen Wohnungsbezug.
Sieben von acht Wegen, die wir alltäglich durchführen, beginnen oder enden an der eigenen Wohnung. Das ist wichtig für alle Projekte, deren Ziel es ist, unser Mobilitätsverhalten zu beeinflussen. Über den eigenen Wohnstandort ist die „Trefferquote“ hierfür – mit Abstand – am größten.
Verkehrsmittel: Die von uns gewählte Wegedefinition ist naheliegend und leicht verständlich. Sie stellt uns aber auch vor drei bedeutende Herausforderungen. Die Erste hat zu tun mit den Verkehrsmitteln, die wir nutzen.
Wenn wir beispielsweise mit dem Bus in die Arbeit fahren, gehen wir zu Fuß zur Haltestelle, warten, fahren mit dem Bus und gehen von der Haltestelle zu Fuß ins Büro. In diesem (einfachen) Fall werden zwei Verkehrsmittel genutzt (zu Fuß und Bus) und eines davon (zu Fuß) sogar zweimal.
Für viele Auswertungen / Analysen muss jedoch ein (hauptsächlich genutztes) Verkehrsmittel (HVM) bestimmt werden. Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die gebräuchlichste ist eine Verkehrsmittel-Hierarchie. Danach ist bei allen Kombinationen mit dem ÖV das HVM immer ÖV, bei allen anderen Kombinationen mit dem motorisierten Individualverkehr (MIV) ist der MIV das HVM. Und zu Fuß wird nur als HVM gewertet, wenn der Weg ausschließlich zu Fuß durchgeführt wurde. Das hat – wie auch alle denkbaren Alternativen – Vorteile und Nachteile. Wichtig ist vor allem, dass diese Definition dem Befragten nicht zusätzliche Informationen abverlangt, dass sie offengelegt und auch im internationalen Vergleich am häufigsten angewendet wird.
Dauer und Entfernung: In unserem Datenbestand liegt die durchschnittliche Zahl der Wege pro Person / Tag bei 2,96; diese Wege dauern etwa 21 Minuten und haben eine Entfernung von knapp sieben Kilometern. Pro Person / Tag ergibt sich hieraus eine Unterwegszeit von 65 Minuten und eine Entfernung von knapp 21 Kilometern (nur Alltags-Mobilität).
Man könnte die Verkehrsmittelwahl also auf Basis der Wege, der Dauer oder der Entfernung darstellen. Und immer dann, wenn es verschiedene Formen der Darstellung eines Sachverhaltes gibt, hat jede dieser Varianten ihre Berechtigung. Man muss also wissen, was man aussagen möchte um die geeignete Variante zu finden.
Die Wege-Variante beschreibt wie viele unserer aushäusigen Aktivitäten mit welchem Verkehrsmittel erreicht wurden. Dies ist bei dem hier skizzierten Mobilitätsverständnis die naheliegende Variante.
Die Dauer-bezogene Betrachtung gibt uns Hinweise, wie viel Zeit wir mit einzelnen Verkehrsmitteln (HVM) unterwegs sind. Sie wird in der Unfallforschung angewendet. Dies folgt der Überlegung, dass das Risiko, mit einem bestimmten Verkehrsmittel zu verunglücken, davon abhängt, wie viel Zeit wir mit diesem Verkehrsmittel im Verkehr zubringen.
Und die Entfernungs-bezogene Darstellung gibt Aufschluss über die sog. „Verkehrsleistung“. Diese Größe hilft bei der Kapazitätsplanung oder der Bestimmung der Belastungen. Jede dieser Varianten – das ist die zweite Herausforderung – hat ihre besonderen Liebhaber und – richtig angewendet – ihre Berechtigung. „Richtig“ oder „falsch“ ist keine.
Die dritte Herausforderung bei der Betrachtung der Verkehrsmittel hat mit den oben geschilderten Wege-Etappen zu tun. Wir nutzen bei unseren Wegen im Schnitt 1,58 Verkehrsmittel und jeder Weg besteht aus 2,03 Etappen (alle Etappen ohne Entfernungsbegrenzung).
Man könnte also die Verkehrsmittelwahl auch für alle genutzten Verkehrsmittel oder für alle Etappen ausweisen. Dann wäre die Bestimmung eines HVM nicht mehr nötig. Sofort zeigt sich die überragende Bedeutung der Fußwege, denn gerade da wirken sich die Folgen der HVM-Bestimmung über die Verkehrsmittel-Hierarchie besonders aus.
Man könnte sich jetzt die Frage stellen, warum Mobilitäts-Erhebungen nicht immer auf Etappenbasis durchgeführt werden (denn ein HVM kann man dann immer noch bestimmen). Diese Überlegung ist sehr berechtigt und die Antwort hat nichts mit Inhalt oder Konzept zu tun, sondern ist ganz pragmatisch.
Für eine seriöse Etappen-Erhebung muss man nämlich etwa den doppelten Aufwand im Vergleich zu einer „normalen“ Mobilitäts-Erhebung ansetzen. Und das betrifft nicht nur die Kosten sondern auch den konzeptionellen und organisatorischen Aufwand. Wenn man sich diese Mühe aber macht, wird man reich belohnt. Dann zeigt sich nämlich, dass wir ein gutes Fünftel unseres täglichen Mobilitäts-Zeitbudgets für Etappen benötigen. Diese Etappen (die 14 Minuten dauern) werden bei „normalen“ Auswertungen zur Mobilität einzelnen Verkehrsmitteln zugeschlagen, weil dort die Dauer und Entfernung in der Regel „von Tür-zu-Tür“ bestimmt werden.
Den auffälligsten Effekt hiervon sehen wir bei den Fußwegen. Die Zeit, die wir „als Fußgänger“ unterwegs sind, wird durch Fuß- und Warte-Etappen mehr als verdoppelt.
Auswertungen zur Mobilität / Verkehrsmittelwahl werden traditionell auf Wegebasis durchgeführt. Das macht zwar Sinn, führt aber manchmal auch zu Verwechslungen (z. B. dass 13 % aller Menschen Fahrrad fahren und nicht 13 % aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden).
Man kann aber auch die Mobilität auf Personen-Basis darstellen. Das nennt man dann Partizipation. Eine Partizipationsgruppe haben wir schon kennengelernt (und sie erschien uns ganz logisch): Die Mobilen oder – in diesem Jargon – die „Partizipationsgruppe Außer-Haus“. Das sind alle Menschen, die an einem durchschnittlichen Tag des Jahres an der Mobilität teilnehmen. Genauso kann man die Partizipation mit dem Fahrrad oder einem anderen Verkehrsmittel bestimmen (hier: HVM).
Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass man mobil sein muss um einer Verkehrsmittel-Partizipationsgruppe anzugehören und es zeigt sich, dass unsere Stadt-Bewohner(innen) im Schnitt 1,33 Verkehrsmittel (als HVM) nutzen, sofern sie unterwegs sind.
In der Markt- und Meinungsforschung, die sich traditionell mit Personen (und nicht mit Wegen) befasst, wird die Verkehrsmittelwahl gerne auf Personen-Ebene dargestellt. Dazu wird erfragt, wie oft ein bestimmtes Verkehrsmittel genutzt wird (z. B. „jeden oder fast jeden Tag, mehrmals pro Woche, pro Monat etc.). Diese Form der Abfrage erscheint einfach ist aber voller Tücken. Darüber werden wir in Bälde berichten.
Werner Brög
Unsere Alltags-Mobilität ist nicht kompliziert und ist uns sehr vertraut. Dennoch gibt es sehr unterschiedliche Möglichkeiten ihrer Beschreibung. Das zeigt sich besonders deutlich bei der Verkehrsmittelwahl. Gleichwohl hat jede der gezeigten Varianten ihre jeweils spezifische Berechtigung. Schnelle Urteile über „richtig“ oder „falsch“ sollte man deshalb meiden.
Werner Brög: Surveys on daily mobility are not „surveys to go“ (Plenary paper).10th International Conference on Transport Survey Methods, 2014 in Leura, Australia
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2015, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
Seit 1972 wird im Abstand von fünf Jahren die Mobilität in ost- und westdeutschen Städten ausgewertet. Dieser Vergleich liefert wichtige grundlegende Erkenntnisse. Und der Zeitraum 1987 – 1992 hat dabei eine ganz besondere Bedeutung.
In der letzten Ausgabe der mobilogisch! (1/15) habe ich über das System repräsentativer Verkehrsbefragungen (SrV) berichtet („Das neue SrV: Ein kühner Ritt über die Klippen der Mobilitätsforschung“). Das SrV ist ein bedeutendes Erhebungssystem, das von 1972 bis zur Wende die Mobilität in Städten der DDR gemessen hat. Die erste Erhebung wurde 1972 durchgeführt und im Fünfjahres-Abstand wiederholt. Nach der Wende gab es zeitweise kürzere Rhythmen; seit 2003 gilt wieder das alte Intervall. Insbesondere die jüngste SrV-Welle (2013), die inzwischen etwa 100 Städte in Ost und West umfasst, wird noch zu langen und intensiven Diskussionen führen.
Das ändert aber nichts an der herausragenden Leistung der Gründer des SrV an der TU-Dresden. Sie haben die Voraussetzungen geschaffen für den von Socialdata entwickelten Städtepegel, dessen besondere Bedeutung heute vorgestellt werden soll. In einer kurzen Phase der Kooperationsbereitschaft der TU-Dresden haben wir unser Wissen und unsere Daten ausgetauscht. Der Gedanke dabei war, aus den großen Datenbeständen von Socialdata vergleichbare Städte zum SrV auszuwählen und die Mobilität in diesen Städten für dieselben Jahre auszuwerten. Voraussetzung hierfür war, dass die gewählten Erhebungsmethoden – die ja einen nicht unerheblichen Einfluss auf die jeweiligen Ergebnisse haben – einigermaßen miteinander vergleichbar sind. Obwohl in der DDR noch mündlich befragt wurde und in der BRD schriftlich/postalisch, waren das Konzept und die Durchführung der Erhebungen überraschend ähnlich (Mobilitäts-Tagebücher). Zudem waren in beiden Fällen die Antwortquoten hoch (geringer Non-response-Effekt) und die Befragung gründlich genug, dass keine allzu großen Probleme mit Non-reported-trips auftreten konnten. Weitere (kleinere) Probleme bei den Definitionen konnten schnell bereinigt werden. Es blieben letztlich nur zwei bedeutsame Unterschiede: Das SrV erhob Daten für den sog. „durchschnittlichen Wochentag“ (Dienstag bis Donnerstag) und wurde lange Zeit nur im März des jeweiligen Erhebungsjahres durchgeführt.
Eine Auswertung aus unserem aktuellen „Musterbestand“ für vier deutsche Städte (Daten von 2002 bis 2009, knapp 36.000 Personen; siehe mobilogisch! Nr. 1/15) zeigt uns, dass von Dienstag bis Donnerstag im März die Mobilität um 9 % höher ist als im Jahresmittel.
Dabei ist der Anteil der „Pflichtwege“ (Arbeit, Ausbildung, dienstlich/geschäftlich) und der Wege zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen (Post, Behörde, Arzt) – z. T: deutlich – höher, der der Freizeitwege dafür um über ein Fünftel niedriger. Weitere Auswertungen nach einzelnen Wochentagen würden zeigen, dass sich inzwischen die Mobilität für alle Wochentage so voneinander unterscheidet, dass es keine durchschnittlichen Wochentage mehr gibt. Und sie würden auch zeigen, dass Verkehrsmittel, deren Nutzung größeren Schwankungen unterliegt (insbesondere das Fahrrad), bei den eher „regelmäßigen“ Tagen Dienstag bis Donnerstag schlechter abschneiden.
Eine Begrenzung auf Dienstag bis Donnerstag steigert vor allem die Anteile des ÖPNV (und damit einhergehend der Fußwege) und der Pkw-Fahrer. Aber bei guter Datenlage, können solche unterschiedlichen Grundgesamtheiten relativ einfach mit entsprechenden Korrekturfaktoren vergleichbar gemacht werden. Das haben wir dann auch getan und die SrV-Daten von 1972 bis 1987 denen der West-Städte angeglichen.
Und ab 1992 hatten wir genügend eigene Erhebungen, die nach diesem Design ausgewertet werden konnten. Hieraus entstand der sog. Städtepegel, der von 1972 bis 2012 die Mobilität in vergleichbaren Städten in Ost und West darstellt. Detailliertere Ergebnisse – und einige methodische Anmerkungen zu ihrer Erhebung und Auswertung – kann man auf unserer Website nachlesen (http://socialdata.de/daten/staedtepegel.php).
Für diesen Beitrag haben wir die Zeitreihen übersichtlicher angeordnet und auf die Jahre 1972, 1987, 1992 und 2007 beschränkt.
Der Städtepegel für den Osten zeigt, dass 1972 zwar 16 % aller Wege mit dem MIV durchgeführt wurden, die Anteile der drei hierunter zusammengefassten Verkehrsmittel aber fast gleich waren. Damit lag der Anteil der Pkw-Fahrer nur bei 6 %. Das hinderte die damaligen Planer aber nicht, mit großen Ausbauplänen den Bau von Straßen zu betreiben.
Das wichtigste Verkehrsmittel waren 1972 die eigenen Füße. Dagegen hatte der ÖPNV einen Anteil von etwa einem Viertel und das Fahrrad von etwa einem Zehntel aller Wege. Diese Anteile gingen bis zur letzten Erhebung vor der Wende leicht zurück (Fahrrad) bzw. stiegen leicht an (ÖPNV). Dagegen nahm die relative Zahl der Fußwege bis 1987 um ein Fünftel ab und die der Pkw-Fahrer stieg um nahezu den gleichen Anteil an. Fünf Jahre später und gut zwei Jahre nach der Wende hat sich der Rückgang der Fußwege zügig fortgesetzt und die Anzahl der Wege als Pkw-Fahrer in etwa verdoppelt. Anders als in den West-Städten musste aber der ÖPNV starke Einbußen hinnehmen (relativer Rückgang über ein Drittel). Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass die ÖPNV-Nachfrage nicht nur durch „harte“ Maßnahmen (Angebot) gefördert werden muss, sondern auch durch „weiche“ (Marketing). Letztere waren im alten DDR-System nicht nötig, folglich nicht geübt und in ihrer Bedeutung verkannt.
Von 1992 bis 2007 setzt sich der Rückgang bei Fußwegen und ÖPNV-Fahrten fort (überwiegend zugunsten der Pkw-Fahrer), gleichzeitig wurde das Fahrrad wieder beliebter.
Wenn man von der höheren ÖPNV-Nutzung in den Ost-Städten 1987 absieht, dann ist die damalige Verkehrsmittelwahl sehr ähnlich zu der Situation 1972 in den West-Städten.
Dort wurde damals noch die Hälfte aller Wege im nichtmotorisierten Verkehr erledigt, der Anteil der Pkw-Fahrer lag gerade mal bei einem Fünftel. Gleichwohl waren die großen Generalverkehrspläne fertig und beschlossen, die zur „Bewältigung der Autoflut erforderlichen Straßen“ längst im Bau oder schon gebaut (bei einem Pkw-Fahrer-Anteil von lediglich 20 %!).
Anders als im Osten konnte der ÖPNV über die Jahre seine Anteile in etwa halten und in jüngster Zeit (wie jetzt auch im Osten) wieder steigern. Der kontinuierliche Rückgang der Fußwege (zugunsten der Pkw-Fahrer) verlief ähnlich wie in den Ost-Städten, ist aber schon weiter fortgeschritten. Die zu Beginn der achtziger Jahre ausgelöste Fahrradwelle (siehe z. B. das Projekt „Fahrradfreundliche Stadt“ des Umweltbundesamtes) hatte große Wirkung.
Mobilität ist kein Selbstzweck; die Menschen sind in der Regel unterwegs, um etwas zu erledigen. Das sind in der Mobilitätsforschung die (aushäusigen) Aktivitäten.
Ihre durchschnittliche Anzahl pro Person und Tag ist relativ niedrig und konstant. Die durchschnittliche Zahl der Wege pro Person/Tag folgt diesem Muster. Ein leichter Rückgang 1992 in den Ost-Städten hat wohl weniger mit der Wende zu tun sondern eher damit, dass die entsprechenden Werte 1987 überdurchschnittlich hoch waren.
Die tägliche Unterwegszeit (berechnet für alle Personen, nicht nur die mobilen) bewegt sich in dem erwarteten Bereich von etwa einer Stunde; allerdings zeigt sich hier – im Gegensatz zu Aktivitäten und Wegen – ein leichter Zuwachs nach der Wende der nur langsam wieder abgebaut wurde.
In den West-Städten war die Mobilität – bei völlig unterschiedlichen Lebenssituationen – im Jahr der olympischen Spiele in München fast identisch mit der in den Ost-Städten zum gleichen Zeitpunkt.
Und an den Kennziffern Aktivität, Zahl der Wege und Unterwegszeit hat sich seitdem auch nicht viel geändert. Lediglich die täglich zurückgelegte Entfernung hat sich (Alltagsverkehr, ohne Wirtschaftsverkehr und ohne Fern- oder Urlaubsreisen) in etwa verdoppelt. Das war in den Ost-Städten nicht anders, wobei dort die relativ größte Veränderung durch die Wende ausgelöst wurde.
In allen Bereichen des menschlichen Verhaltens bemühen sich Wissenschaftler rund um die Welt herauszufinden, welche Parameter des jeweiligen Verhaltens konstant und welche variabel sind. In der Mobilitätsforschung ist die Frage beantwortet. Die Wende brachte den Bürger(innen) in Ost-Deutschland gravierende Veränderungen in fast allen Lebensbereichen. Eine Messung des Mobilitätsverhaltens vor und nach der Wende (mit vergleichbarer Methodik) gibt uns also gesicherte Erkenntnisse, welche Parameter die Stürme des Lebens unbeschadet überstehen und welche sich anpassen oder verändern. Im Fall des Städtepegels kommt noch hinzu, dass der für die West-Städte gebildete Bestand eine exzellente Kontrollgruppe bildet und schon der Vergleich Ost und West (vor allem vor der Wende) wichtige Erkenntnisse über den Einfluss gänzlich unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Systeme auf das Mobilitätsgeschehen abbildet.
Danach bestätigen sich alle bisherigen Annahmen: Konstant in der Alltagsmobilität sind die Zahl der Aktivitäten, die Zahl der Wege und die tägliche Unterwegszeit. Variabel sind die Verkehrsmittelwahl, die Entfernung und die Geschwindigkeit. Wird ein Verkehrsmittel benutzt, das eine höhere Geschwindigkeit ermöglicht, kann man (bei konstanten Zeitbudget) größere Entfernungen zurücklegen. Eine Steigerung der Mobilität ist das aber nicht, sondern nur eine Ausweitung des Aktionsradiuses. Ganz selten kann man auch sehen, dass dieser Zusammenhang genauso in umgekehrter Richtung funktioniert. Beim (westdeutschen) Demonstrationsprojekt „Flächenhafte Verkehrsberuhigung“ wurden beispielsweise Nahbereiche wieder attraktiver. Bei konstantem Zeitbudget konnten die Menschen wieder auf langsamere Verkehrsmittel umsteigen und nähere Ziele aufsuchen.
In der guten alten Zeit der Verkehrsplanung war der Modal-Split nicht – wie heute – das Synonym für Verkehrsmittelwahl, sondern das Verhältnis IV zu ÖV. Dabei beinhaltete „IV“ die Pkw-Fahrer, -Mitfahrer und die motorisierten Zweiräder, also das, was wir heute MIV nennen. Der nichtmotorisierte Verkehr spielte dabei keine Rolle. Da der Modal-Split allen großen Generalverkehrsplänen zugrunde lag, müssen wir uns nicht wundern, dass die Vorsorge für Fußgänger und Radfahrer relativ überschaubar blieb.
Wenn man jetzt für den Städtepegel anstelle der Verkehrsmittelwahl den Modal-Split ausweist, dann werden viele Grundmuster der Verkehrsplanung früherer Jahre deutlich. Dabei sollten wir im Kopf behalten, dass wir hier den Modal-Split auf Wege-Basis darstellen; in vielen Fällen wurde er aber auf Basis der zurückgelegten Entfernung – und damit noch „Pkw-lastiger“ – bestimmt.
In den Ost-Städten (1972) blieben 61 % aller Wege bei der Berechnung des Modal-Split unberücksichtigt; der Anteil IV zu ÖV lag bei 41 zu 59. Schon 1987 hatte der IV die Oberhand (bei einem Pkw-Fahrer-Anteil von einem Sechstel), 1992 lag er bei drei Viertel, seitdem ist er weiter (leicht) gestiegen. Der Anteil der (im Modal-Split) erfassten Wege hat von (1972 =) 100 auf 162, also um knapp zwei Drittel zugenommen (die Zahl aller Wege ist aber 1972 und 2007 mit 2,8 gleich hoch).
Eine vergleichbare Tendenz zeigen auch die entsprechenden Ergebnisse für die West-Städte. Die waren allerdings 1972 schon weiter. Der Modal-Split lag bereits bei 67 zu 33 (bei einem Pkw-Fahrer-Anteil von 20 %!) und 1992 mit den Ost-Städten gleichauf. Zu diesem Zeitpunkt war der Anteil der Wege insgesamt leicht gestiegen (von 2,9 auf 3,0), der der im Modal-Split erfassten Wege aber um 27 % (mit leicht steigender Tendenz).
Es zeigen sich ganz deutlich zwei Phänomene, die die Verkehrsplanung, deren Wirken wir heute erleben und erfahren, nachhaltig geprägt haben:
Das „Märchen von der steigenden Mobilität“ (in Wahrheit ist nur die motorisierte Mobilität gestiegen).
Die vermeintliche Dominanz des Autos (Modal-Split-Werte über 50 % IV bei Pkw-Fahrer-Anteilen unter 20 % damals. Oder heute: IV : ÖV etwa 75 : 25 bei Pkw-Fahrer-Anteilen um 40 %)
Hinzu kommt, dass bis in die Gegenwart auch Verkehrsplaner, die Alternativen zum Auto fördern, immer noch mit MIV-Zahlen argumentieren, also der Summe aus Pkw-Fahrer und -Mitfahrer. Da jedes Auto aber einen Fahrer braucht und nur einen hat, gibt der Anteil der Pkw-Fahrer nur wieder, wie viele Autos tatsächlich unterwegs sind. Diese Zahl braucht man für die Bemessung des Straßen- und Parkraums; wird sie durch MIV ersetzt, wären diese Kennziffern zu hoch.
Die Bedeutung des von der TU-Dresden betriebenen SrV geht weit über die aktuellen Analysen der Mobilität hinaus. Eine historische Betrachtung liefert international einmalige Erkenntnisse. Deshalb ist es wichtig, dass das System repräsentativer Verkehrsverhaltensbefragungen (SrV) als valides Instrument der Mobilitätsforschung erhalten bleibt.
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2015, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
In vielen Untersuchungen wird das Verhalten über vereinfachte und nicht validierte Häufigkeits-Skalen gemessen. Dieses Vorgehen ist mutig und sehr gefährlich.
Es gibt verschiedene Wege, die Alltagsmobilität empirisch zu messen und verschiedene Kennziffern, sie zu beschreiben. Die Messungen werden am häufigsten in tagebuch-ähnlicher Form durchgeführt. Dabei werden die Wege erfasst, die die Menschen zurücklegen. Die hieraus resultierenden Kennziffern sind wegebezogen. Dies gilt für die Mobilitätsforschung. In der Markt- und Meinungsforschung ist das anders. Dort bildet man in der Regel personenbezogene Kennziffern und misst das Verhalten über Häufigkeiten (z. B. Wie oft kaufen Sie Produkt xy? Täglich, mehrmals pro Woche etc.).
Auch in der Mobilitätsforschung gibt es Versuche, die Mobilität über solch (verbale) Häufigkeiten zu erfassen. Um hieraus zu wegebezogenen Aussagen zu kommen, muss man die erfragten Häufigkeiten zunächst auf Personenebene quantifizieren. Die passende Kennziffer hierzu ist die „Partizipation“. Diese Kennziffer gibt an, welcher (%-) Anteil der Befragten beispielsweise ein bestimmtes Verkehrsmittel an einem durchschnittlichen Tag nutzt. (Ein Partizipationswert von 50 % würde bedeuten, dass dieses Verkehrsmittel an jedem zweiten Tag genutzt wird.)
Socialdata hat bei großen Stichproben die Mobilität über Tagebücher erfasst. Bei nachfolgenden vertiefenden (mündlichen) Interviews wurden oft zusätzlich Häufigkeits-Skalen eingesetzt. Damit kann für dieselben Personen ermittelt werden, wie sie sich verhalten und welche Häufigkeiten sie bei einer verbalen Abfrage angeben. Dieser Vergleich basiert auf knapp 30.000 Personen in Städten aus acht Ländern.
Einen ersten wichtigen Eindruck dieser Auswertungen gewinnt man, wenn man die gemessenen Häufigkeiten für alle Länder und die drei untersuchten Verkehrsmittel (Fahrrad, ÖPNV und Pkw-Fahrer) zusammenfasst und hierfür die jeweilige Partizipation bestimmt.
Es zeigt sich, dass „(fast) täglich“ nicht (fast) täglich bedeutet, sondern nur an jedem zweiten Tag. (Von den Befragten, die angaben, ihr Verkehrsmittel täglich oder fast täglich zu nutzen, haben das nur 50 % an den vorgegebenen Stichtagen tatsächlich gemacht.) Auch bei der Angabe „an 2-3 Tagen“ ist die tatsächliche Häufigkeit geringer (2-3 Tage = ca. 35 %). Dagegen sind die danach folgenden Angaben alle – z.T. deutlich – zu hoch. Es ist also nicht möglich, eine verbale Abfrage der Nutzungshäufigkeiten direkt in Verhaltenskennziffern umzusetzen. Das wird noch deutlicher, wenn wir uns die drei Verkehrsmittel getrennt ansehen:
Die Partizipationswerte sind bei jeder Häufigkeit am geringsten beim Fahrrad und am höchsten beim Pkw-Fahrer. Und die Unterschiede sind erheblich. (Die Partizipation für „etwa 1x im Monat“ ist beispielsweise beim Pkw-Fahrer fünfmal und beim ÖPNV dreimal so hoch wie beim Fahrrad, obwohl diese Werte eigentlich gleich sein müssten.) Diese Befunde müssen uns beunruhigen. Sie wären aber zu verschmerzen, wenn die Unterschiede dieser Angaben in allen Ländern und bei allen Bevölker
ungsgruppen relativ gleich wären. Dann könnte man sie mit Korrekturfaktoren ausgleichen.
Aber so ist es nicht. In den folgenden Tabellen haben wir unsere Daten nach Ländern aufgegliedert. In fünf von diesen Ländern sind mehrere Städte in die Berechnung eingeflossen. In drei Ländern haben wir nur eine spezifische Stadt ausgewählt. Jetzt sehen wir, dass sich die Partizipationswerte je Land unterscheiden und ein bisschen die jeweilige „Mobilitäts-Kultur“ widerspiegeln.
Beim Fahrrad zeigen sich die höchsten Partizipationswerte für „(fast) täglich“ in Den Haag und Basel. Das korreliert mit der Fahrrad-Nutzung (hoch) in diesen beiden Städten. Ebenso wie die relativ niederen Werte in Wien und den USA und die vergleichsweise durchschnittlichen Angaben in Deutschland.
Dagegen sind die Werte für den ÖPNV in Basel und in Wien tendenziell am höchsten. Dieser Befund passt zu dem Vorherigen (hier: hohe ÖPNV-Nutzung in Basel und Wien). Offensichtlich hat die tatsächliche Häufigkeit der Nutzung Einfluss darauf, welche Häufigkeiten verbal angegeben werden. Dies trifft aber wiederum nicht zu für UK und Australien. Weder das Fahrrad noch der ÖPNV werden in beiden Ländern überdurchschnittlich häufig genutzt; dennoch liegen die verbalen Häufigkeiten im oberen Bereich.
Ein etwas ausgeglicheneres Bild ergibt sich bei einer Auswertung nach Pkw-Fahrer. Hier sollte angemerkt werden, dass in vielen mobilitätsorientierten Analysen nicht unterschieden wird nach Pkw-Fahrer und -Mitfahrer. In diesem Fall wäre die Abfrage von Häufigkeiten erheblich eingeschränkt und würde zu noch unplausibleren Ergebnissen führen.
Generell bestätigt sich der Befund aus den beiden Auswertungen davor: In den Ländern mit der höchsten Nutzung dieses Verkehrsmittels (USA, Australien) sind auch die Partizipationswerte bei den Häufigkeits-Angaben sehr hoch oder gar am höchsten. Und die Briten (UK) fallen – wie bei Fahrrad und ÖPNV – wieder durch relativ hohe Angaben auf. Dagegen hat die geringe Pkw-Nutzung in Wien und Basel keine sehr großen Auswirkungen auf die Häufigkeits-Einschätzungen.
In allen Gebieten zeigt sich aber, dass überall Vorsicht geboten ist. Wörtlich genommen müsste sich bei „(fast) täglich“ eine Partizipation von 90 % ergeben, die gemessenen Werte liegen aber zwischen 49 und 68 %. Und es zeigen sich im Gegensatz zu dieser Unterschätzung erhebliche Überschätzungen bei den Kategorien mit geringer Häufigkeit. An „2-4 Tagen pro Monat“ würde wörtlich genommen einen Partizipationswert von etwa 10 % ergeben; die gemessenen Werte liegen zwischen 13 und 30 %. „Etwa 1x im Monat“ wären etwa 3 % Partizipation; wir finden aber Werte zwischen 7 und 22 % (letzterer ist etwa siebenmal zu hoch).
Die bisherigen Auswertungen bezogen sich alle auf Bewohner(innen) von Städten in den jeweiligen Ländern. Man kann aber die Frage stellen, ob die Einschätzung in den ländlichen Regionen von denen in den Städten abweichen. Der größte Teil der Socialdata-Erhebungen wurde zwar in Städten durchgeführt, aber es gibt auch gelegentlich Daten zu weniger urbanisierten Räumen. Besonders geeignet ist hier der Raum Wien, denn dort wurde mehr als zehn Jahre lang eine kontinuierliche Mobilitätsbefragung in Wien und auch in den beiden angrenzenden Bundesländern Burgenland und Niederösterreich durchgeführt. Diese Erhebungen umfassten viele kleine Gemeinden, die weit über die jeweiligen Bundesländer gestreut waren.
Da in allen Fällen die Mobilitätserhebungen um vertiefende Befragungen (mit Häufigkeits-Skala) ergänzt wurden, kann eine vergleichende Auswertung durchgeführt werden.
Diese Auswertung zeigt größere Übereinstimmungen als die Auswertungen nach den acht Ländern. Und sie zeigt auch ähnliche Tendenzen. In den beiden an Wien angrenzenden Bundesländern sind sowohl die Fahrrad-Anteile wie auch die Anteile der Pkw-Fahrer (z.T. deutlich) höher als in Wien. Dementsprechend sind auch die Partizipationswerte nach Häufigkeits-Angabe in Burgenland/Niederösterreich durchwegs höher beim Fahrrad und (fast durchwegs) höher beim Pkw-Fahrer. Wer in den Bundesländern angibt, an „2-4 Tagen pro Monat“ als Pkw-Fahrer unterwegs zu sein, fährt sein Auto an 28 % aller Tage; in Wien liegt dieser Wert noch immer zu hoch (Sollwert ca. 10 %), aber „nur“ noch bei 16 %.
Dagegen sind die Einschätzungen der ÖPNV-Nutzung auch mit den bisher gewonnenen Erkenntnissen nicht zu erklären. Sie liegen in den drei ersten Kategorien nahe beieinander. Das ist erfreulich, denn eine verbal genannte Häufigkeit sollte ja unabhängig von der generellen Verkehrsmittelnutzung sein. Aber bei der Kategorie „etwa 1x im Monat“ gibt es zwar überhöhte Werte bei Wien (wie wir sie schon kennen), aber eine zweieinhalbmal höhere Partizipation in Burgenland/Niederösterreich und damit einen Wert, der nur in Basel und Schweden noch überboten wird.
Nachdem sich bereits große Unterschiede bei den Häufigkeits-Einschätzungen nach Verkehrsmitteln und nach Land gezeigt haben, muss geprüft werden, ob es auch Unterschiede in der Einschätzung nach Soziodemografie gibt. Wir konzentrieren diese Auswertung – exemplarisch – auf eine Untergliederung nach Frauen/Männer (nur deutsche Städte).
Bereits bei dieser einfachen soziodemografischen Unterscheidung ergeben sich – z.T. deutliche – Abweichungen zwischen den beiden Gruppen. Diese Abweichungen sind erstaunlich einheitlich und folgen immer einer Tendenz: Alle Werte bei Fahrrad und Pkw-Fahrer sind höher bei den Männern im Vergleich zu den Frauen. Alle Werte beim ÖPNV sind höher bei den Frauen im Vergleich zu den Männern (dies spiegelt die Nutzung dieser Verkehrsmittel wider).
Wenn man diese Auswertungen nach soziodemografischen Merkmalen weiter führt, zeigt sich durchgehend, dass der demografische Status einer Person auch Einfluss auf die Häufigkeits-Einschätzungen hat. Oder umgekehrt: Die Ergebnisse verschiedener soziodemografischer Gruppen sind nicht direkt miteinander vergleichbar.
Unsere Mobilität und unsere dazugehörigen Einschätzungen werden aber nicht nur bestimmt durch unsere Soziodemografie und die Stadt, in der wir leben, sondern auch durch das jeweilige Wetter. Um diesen Effekt zu zeigen, haben wir unterschieden nach Winter (Oktober bis März) oder Sommer (April bis September).
Das Ergebnis zeigt, dass es auch einen Unterschied macht, in welcher Jahreszeit die jeweilige Erhebung durchgeführt wurde. Und die Abweichungen zwischen Winter und Sommer sind nicht unerheblich.
Auch hier zeigen sich einheitliche Tendenzen, die mit der Nutzung dieser Verkehrsmittel zu tun haben: Im Sommer wird mehr Fahrrad gefahren und die Partizipationswerte sind in allen Kategorien auch höher. Gleichzeitig wird der ÖPNV im Sommer weniger genutzt und die korrespondierenden Partizipationswerte sind in allen Kategorien niedriger. Nur beim Pkw-Fahrer-Anteil (der im Sommer höher ist als im Winter) findet sich diese Tendenz nur schwach wieder und nicht eindeutig.
Aus den bisher gezeigten Ausführungen wird deutlich, dass es nicht möglich ist, verbale Häufigkeits-Abfragen direkt in Verhaltenskennziffern zu überführen. Und doch gibt es einen Ausweg. Dieser Ausweg heißt Skalen-Technik. Bei einer wissenschaftlich gebildeten Häufigkeits-Skala würden für jeden Skalen-Punkt die korrespondierenden Verhaltenskennwerte empirisch ermittelt. So, wie wir es in den vorliegenden Auswertungen – am Beispiel der Partizipation – auch gemacht haben. In der folgenden Tabelle ist das am Beispiel der Fahrrad-Nutzung für unseren Bestand über alle acht Länder erläutert.
Insgesamt haben 15 % aller Befragten angegeben, dass sie das Fahrrad „(fast) täglich“ nutzen. Tatsächlich haben aber diese 15 % das Fahrrad nur an jedem dritten Tag benutzt (34 % Partizipation). Dabei haben diese Fahrrad-Nutzer 2,83 Wege pro Tag mit dem Fahrrad zurückgelegt. Wenn man diese Werte miteinander multipliziert, ergeben sich insgesamt 0,14 Fahrrad-Wege pro Person/ Tag. Wiederholt man diesen Rechengang für alle Häufigkeits-Gruppen und addiert die jeweiligen Wege-Häufigkeiten, dann erhält man am Ende einen Wert von 0,19 Fahrrad-Wegen. Dieser Wert entspricht genau der Fahrrad-Nutzung aus den „echten“ Mobilitätserhebungen.
In weiteren Erhebungen kann man also das Verhalten verbal abfragen und für jede Häufigkeits-Gruppe die ermittelten Wege-Anzahlen einsetzen. Diese Rechnung könnte auch ergänzt werden um Dauer und Entfernung. Das wäre dann eine klassische Verhaltens-Skala, mit der eine gute Annäherung an die tatsächlichen Verhaltenswerte erreicht werden kann. Allerdings ist das nur möglich, wenn die bisher gewonnenen Erkenntnisse berücksichtigt werden (unterschiedliche Werte je Partizipationsgruppe und Wege-Häufigkeit für Regionen, Personengruppen, Verkehrsmittel, Jahreszeiten etc.) und in regelmäßigen Abständen überprüft wird, ob die verwendeten Verhaltenskennziffern je Häufigkeits-Gruppe noch stimmen. Wer das nicht macht, spielt mit dem Feuer.
Verbale Häufigkeits-Abfragen des Verhaltens sind beliebt und weit verbreitet. Bei der Alltagsmobilität stoßen sie aber schnell an ihre Grenzen. Von einem unkritischen Einsatz dieser Methodik muss daher abgeraten werden.
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2016, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.