Die meisten Unfälle mit Radler/innen geschehen an Kreuzungen und Einmündungen. Was viele vom Radfahren, zumal vom Fahren auf der Fahrbahn, abhält, sind jedoch zu dicht überholende Kraftfahrzeuge.
Rechtlich regelt die Straßenverkehrsordnung den Abstand beim Überholen nur unscharf. § 5 Absatz 4 sagt dazu lediglich: „Beim Überholen muss ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere zu den zu Fuß Gehenden und zu den Rad Fahrenden, eingehalten werden.“ Doch was heißt ausreichend? Autofahrer/innen sehen das viel enger als Radfahrer/innen, jedenfalls dann, wenn sie nicht aus eigener Erfahrung wissen, dass man auf dem Rad allein durch den Luftzug eines Kraftfahrzeugs in Schlingern geraten kann. Sie denken dann, sie müssten die Radfahrer/innen erziehen, weil die ihrer Ansicht nach nicht weit genug rechts fahren. Erfahrene Radler/innen halten sich allerdings bewusst nicht ganz rechts, damit sie noch Platz zum Ausweichen haben.
Der Begriff „ausreichend“ musste also von Gerichten definiert werden. Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm sieht bis zu einer Geschwindigkeit von 90 Stundenkilometern einen Seitenabstand von mindestens 1,50 Meter als erforderlich an, bei höheren Geschwindigkeiten zwei Meter. Unter besonderen Bedingungen, beispielsweise an Steigungen, sollen ebenfalls zwei Meter gelten, entschied das OLG Frankfurt/Main. Auch Kinder im Kindersitz auf einem Fahrrad seien ein Grund für zwei Meter Abstand, entschied das OLG Karlsruhe. Das OLG Hamm bestimmte außerdem, dass auf sehr schmalen Straßen vom Überholen „entweder abgesehen oder die eigene Geschwindigkeit auf ein Maß herabgesetzt werden“ solle, das eine Gefährdung ausschließt. Der Bundesgerichtshof urteilte vor 50 Jahren, dass ein Fahrzeugführer gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt, wenn der Überholte erschrickt und dadurch beim Fahren einen Fehler macht. Dann sei der Abstand zu gering gewesen, was als Nötigung oder Gefährdung des Straßenverkehrs geahndet werden könne. Merke: Jederzeit überholen zu können ist kein Grundrecht.
International gibt es andere, teils bessere Regelungen. In Österreich wird zum Beispiel kein konkreter Seitenabstand vorgegeben, aber das Kraftfahrzeug muss beim Überholen die Spur wechseln. In Frankreich gibt es konkrete Vorschriften für den Abstand: innerorts mindestens ein Meter, außerorts mindestens 1,50 Meter. Spanien fordert lediglich, dass beim Überholen der linke Fahrstreifen mitbenutzt wird. In Großbritannien muss Radfahrer/innen ähnlich viel Platz eingeräumt werden wie Kraftfahrzeugen. Das führt zwangsläufig dazu, dass die Gegenfahrbahn benutzt wird und dass bei Gegenverkehr nicht überholt werden kann.
Die aktuellen Regelwerke der Forschungsgesellschaft für Straßenwesen, die den Radverkehr betreffen, sehen zum Schutz der Radfahrer/innen Markierungen auf der Fahrbahn vor. Auch hier ist der Abstand zu parkenden Kraftfahrzeugen wichtig.
Schutz- oder Angebotsstreifen dürfen Kraftfahrzeuge bei Bedarf befahren, wenn sie Radfahrer/innen dabei nicht gefährden. Schutzstreifen sind gewöhnlich dort, wo der Platz für einen Radfahrstreifen nicht reicht. Die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) sehen 1,50 Meter breite Schutzstreifen vor, ausnahmsweise 1,25 Meter. Der in der Regel nicht markierte Sicherheitsraum zwischen dem Streifen und längs parkenden Autos beträgt 0,25 bis 0,5 Meter. Da Parkstreifen normalerweise zwei Meter breit sind, dürfte der Sicherheitsraum angesichts der immer breiteren Autos, insbesondere der SUV, allerdings immer öfter von Kraftfahrzeugen belegt sein.
Nach Ansicht des ADFC Nordrhein-Westfalen bewirken Schutzstreifen rechtlich und praktisch zu geringe seitliche Abstände, da sie Kraftfahrer/innen verleiten, die Markierung als Orientierungshilfe zu nutzen, egal, ob sich neben ihnen gerade ein Radfahrer befindet oder nicht. Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) bezeichnet dieses Problem als Leitlinieneffekt.
Radfahrstreifen sind benutzungspflichtige Sonderwege für Radfahrer/innen und dürfen von Kraftfahrzeugen nicht befahren werden. Da sie rechtlich kein Teil der Fahrbahn sind, wird man hier, juristisch gesehen, nicht überholt; hier greift vielmehr das Gebot der Rücksichtnahme. Radfahrstreifen haben zu parkenden Kraftfahrzeugen einen Sicherheitstrennstreifen von 0,5 bis 0,75 Meter und ein Regelmaß von 1,85 Meter. Sind sie breiter, verlockt das manche Autofahrer/innen, sie zu befahren - ein weiteres Problem neben dem Falschparken. Dieses Dilemma kann durch Markierungen nicht gelöst werden.
Die Werte in den Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt) und den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen stimmen, was Sicherheitsräume betrifft, nicht immer mit der aktuellen Rechtsprechung überein. So gibt die RASt zwischen fahrenden Kraftfahrzeugen und Radfahrer/innen einen seitlichen Abstand von 0,75 Metern vor. Das steht deutlich im Konflikt mit den oben genannten Urteilen der OLG Hamm, Frankfurt/Main und Karlsruhe, nach denen der erforderliche Abstand zwischen 1,50 Meter und 2,00 Meter liegt. Auch als Sicherheitsabstand zu parkenden Fahrzeugen gibt die RASt 0,75 Meter vor. Das entspricht einer schmalen Tür und liegt unter den 0,80 bis 1,60 Metern, die das Landgericht Berlin und das OLG Karlsruhe für angemessen halten. Ist ein Schutzstreifen entlang des Parkstreifens schmaler als, er nach Ansicht der Gerichte sein müsste, befinden sich Radfahrer/innen, die ihn benutzen, in einer rechtlichen Grauzone.
Dass der Sicherheitsabstand zu parkenden Autos wichtig ist, zeigt auch eine Studie des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft: Bei sieben Prozent aller Unfälle zwischen Auto- und Radfahrer/innen prallt das Rad gegen eine sich öffnende Autotür. Bei etwa jedem fünften dieser Unfälle wird der Radfahrer oder die Radfahrerin schwer verletzt . Meist sind es Kopfverletzungen und Verletzungen der Beine (je 40 Prozent).(2) Die Studie empfiehlt, neben Radfahr- oder Schutzstreifen keine Parkflächen auszuweisen. Das lässt sich heutzutage jedoch kaum noch durchsetzen.
Im vergangenen Jahr hat ein Diplomand der TU Dresden mit einer Videokamera aufgezeichnet, welchen seitlichen Abstand zu Radfahrer/innen Kfz-Fahrer/innen tatsächlich einhalten. Außerdem untersuchte er, welche Faktoren den Abstand beeinflussen.(1) Ergebnisse:
Gegenverkehr ist also der größte Einflussfaktor, dicht gefolgt von Schutzstreifenbreite und Lkw-Anteil. Ob Radfahrer/innen eine Warnweste tragen oder nicht, spielt für den Abstand praktisch keine Rolle, ebenso wenig die Geschwindigkeit der Kraftfahrzeuge.
Insgesamt zeigte sich, dass Kraftfahrzeugfahrer/innen häufig zu wenig Sicherheitsabstand lassen. Doch auch wenn es manchmal bedenklich knapp ist, beträgt der durchschnittliche Abstand beim Überholen immerhin etwa 1,30 Meter.
Auch alle nationalen Untersuchungen haben unabhängig voneinander ergeben, dass der von Gerichten geforderte seitliche Abstand beim Überholen regelmäßig unterschritten wird. Ebenso ist belegt, dass der Abstand bei Gegenverkehr schrumpft. Bei der Frage, ob die Fahrbahnbreite einen Einfluss hat, sind sich die Untersuchungen uneinig.
Fahren Radfahrer/innen trotz Radweg auf der Fahrbahn,schrumpft der Sicherheitsabstand ebenfalls, selbst wenn der Radweg nicht benutzungspflichtig ist. Schutzstreifen bewirken nach Erkenntnissen der BASt, dass Kraftfahrzeuge langsamer fahren. Fahrradhelme führen auch in der BASt-Studie zu geringeren Abständen.
Internationale Untersuchungen kommen zu ähnlichen, aber auch zu abweichenden Erkenntnissen. Die Wirkung eines Fahrradhelms hat nur eine Studie untersucht und mit Helm geringere Abstände gefunden. Die Bekleidung der Radler/innen hat keinen Einfluss auf den Abstand. Einzige Ausnahme: Radler/innen in Polizeiuniform. Unterschiedliche Ergebnisse liefern die Untersuchungen, wo es um den Abstand der Radfahrer/innen vom Fahrbahnrand geht. Nach der einen Studie überholen Kraftfahrzeuge mit desto geringerem Abstand, je weiter die Radfahrer/innen in der Mitte fahren. Eine andere Studie fand genau das Gegenteil heraus. Laut einer dritten Studie wächst der seitliche Abstand, je langsamer die Kraftfahrzeuge sind.
Im Mittel liegt der seitliche Abstand also bei 1,30 Meter. Ist es da wirklich kleinlich, wenn Radfahrer/innen, darauf verweisen, dass ihnen 20 bis 70 Zentimeter fehlen? Abgesehen davon, dass ein Mittelwert dem Einzelnen nicht hilft, wenn er gerade mit einem halben Meter Abstand überholt wird, haben Radler/innen, die grundsätzlich dicht am Fahrbahnrand oder an parkenden Kraftfahrzeugen vorbeifahren, kaum eine Möglichkeit, Fehler der Autofahrer/innen selbst auszugleichen. Zu bedenken ist auch , dass nicht nur parkende Autos immer breiter werden. sondern auch fahrende. Die in den Richtlinien geforderten Maße für Kernfahrbahnen sind in der Praxis längst überholt.
Da realistischerweise nicht damit zu rechnen ist, dass Autos auf absehbare Zeit wieder kleiner werden, müssen die Regeln klarer und deutlich besser werden. Fahrer-Assistenz-Systeme, die den Seitenabstand automatisch einhalten, müssen zur Pflicht werden. Für Kraftfahrzeuge ohne die neue Technik muss gelten: Wer überholt, muss die Spur wechseln. Dabei würde es helfen, wenn das Nebeneinanderradeln grundsätzlich erlaubt wäre.
Der Beitrag gibt einen Überblick über die rechtlichen Vorschriften zum seitlichen Sicherheitsabstand, den Kraftfahrzeuge beim Überholen von Radler/innen einhalten müssen und über die verkehrsplanerische Situation. Außerdem beschreibt er, wie groß dieser Sicherheitsabstand tatsächlich ist und wovon das abhängt.
(1) Dieser Beitrag stützt sich überwiegend auf die Diplomarbeit von Ralf Langer: Seitlicher Überholabstand von Radfahrern durch den motorisierten Verkehr – Empirische Analyse mit Hilfe von Kameradaten, Dresden, 2016, Diplomarbeit an der TU Dresden. Download unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-216589
(2) Unfallforschung der Versicherer: Pkw Heck- und Seitenkollisionen mit Fußgängern und Radfahrern, Berlin 2017
Stefan Lieb: Das Überholen von Radfahrern überholen, mobilogisch 2/12.
ADFC NRW: Schutzstreifen auf der Fahrbahn, 2016, www.adfc-nrw.de, 9/2017 nicht mehr dort gefunden
Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt): Führung des Radverkehrs im Mischverkehr auf innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen. In: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Verkehrstechnik, 2015, Heft V 257
Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2017, erschienen.
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Wie hängt die objektive Sicherheit, die sich z. B. (begrenzt) in Unfallstatistiken zeigt, mit der subjektiven, der gefühlten Sicherheit zusammen? Hängen sie überhaupt zusammen? Wie realistisch kann der Mensch ein Risiko einschätzen?
Im Jahr 2013 sammelte der Senat von Berlin über die Website radsicherheit.berlin.de (nicht mehr im Netz) Hinweise von Radler/innen, an welchen Stellen der Stadt sie sich unsicher fühlten. Das Interesse war groß: Mehr als 5.000 Hinweise gingen ein, worauf sich 4.000 Kommentare zusätzlich bezogen. Wie sollte die Berliner Straßenverwaltung damit umgehen? In einer Präsentation für den Radverkehrsbeirat des Berliner Senats wurde das so zusammengefasst: „Subjektive Rückmeldungen sind wichtige Ansatzpunkte für künftige Maßnahmen, gerade in Ergänzung zu den statistischen Unfallschwerpunkten. Wichtig! Klare Kommunikation: Konkrete Maßnahmenschwerpunkte weiterhin prioritär an den objektiven Unfallschwerpunkten orientiert!“
Etwa 40 Prozent der Hinweise bezogen sich auf das Abbiegen. Abbiegeunfälle sind laut Unfallstatistik Berlin tatsächlich die häufigsten Unfälle - die Befragten hatten den richtigen Riecher. Das nennt man Schwarmintelligenz. Die Stellen, an denen die Befragten sich unsicher fühlten, waren jedoch oft nicht die Unfallschwerpunkte auf der Unfallsteckkarte der Polizei.
Die fehlende Deckungsgleiche kann verschiedene Ursachen haben. Eventuell haben sich an der Befragung die „falschen“ Radler/innen beteiligt. Das Ergebnis der Befragung ist nicht repräsentativ. An den Unfallschwerpunkten aus der Statistik sind höchstwahrscheinlich genau die Radler/innen verunglückt, die sich kaum Gedanken um Verkehrssicherheit machen. Wer solche Umfragen beantwortet, ist andererseits vermutlich ein risikobewusster Mensch, der sich an den als unsicher empfundenen Orten vorsichtig verhält und deswegen dort nicht verunglückt.
In einer Studie hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV auch das Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Sicherheit bei älteren Berlinerinnen und Berlinern untersucht.(1) Demnach fühlte sich mehr als jeder vierte ältere Radfahrer und jede siebte ältere Fußgängerin im Verkehr unsicher beziehungsweise sehr unsicher. Von den älteren Pkw-Fahrer/innen fühlte sich nur jede/r 33. unsicher. Die Antworten wurden mit der Unfallstatistik verglichen, die zeigt, mit welchem Verkehrsmittel Ältere verunglücken. Wenn man davon absieht, dass bei dieser Gegenüberstellung der Modal Split ebenso wenig berücksichtigt wird wie die Zeit, die ältere Leute unterwegs sind, ergab der Vergleich folgendes Bild:
Radfahrer/innen schätzten ihr Unfallrisiko etwas zu hoch, aber immer noch am realistischsten ein. Jede/r elfte Nutzer/in öffentlicher Verkehrsmittel fühlte sich unsicher; tatsächlich gibt es hier jedoch die wenigsten Unfälle - nur jede/r 100. verunglückt mit Bus oder Bahn. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass die Berichterstattung über Gewalttaten in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Gefühl beigetragen hat, dass Bus- oder Bahnfahren gefährlich ist.
In der Befragung fühlten sich die Fußgänger/innen nur halb so unsicher, wie sie sich laut Statistik fühlen müssten. Am krassesten war die Fehleinschätzung bei den Autofahrer/innen: Sie schätzten ihr Unfallrisiko um den Faktor 15 zu niedrig ein.
Radler/innen nannten zu 75 Prozent das Fahren auf Hauptverkehrsstraßen ohne Radweg oder Radfahrstreifen sowie zu 56 Prozent das Linksabbiegen. Während die Unfallstatistik beim Radeln auf der Fahrbahn keinen Unfallschwerpunkt erkennt, schätzten die Radler/innen das Linksabbiegen völlig realistisch als riskantes Verkehrsmanöver ein.
Zwei von drei Fußgänger/innen fühlen sich unsicher, wenn Radfahrer/innen den Gehweg mitbenutzen, rund die Hälfte hat Angst, eine Kreuzung ohne Ampel zu queren. Fast genauso viele Ältere fühlen sich bei Falschparkern auf Gehwegen unsicher. Während die Befragten bezüglich der Fahrbahnquerung ohne Querungshilfe das Risiko laut Unfallstatistik adäquat einschätzten, konnten zum Problem Radfahrer und Pkw auf Gehwegen keine Daten erhoben werden. Man darf aber annehmen, dass sie das Unfallrisiko überschätzt haben, weil ihnen falsch parkende Fahrzeuge im Weg sind und hautnaher Kontakt mit Radler/innen Angst macht.
Die Hälfte der befragten älteren Fußgänger/innen fühlte sich übrigens beim Queren von Fahrbahnen mit Straßenbahngleisen unsicher. An diesem Beispiel lässt sich gut zeigen, wie Erfahrung das Risikoempfinden beeinflusst. Das Gefühl der Unsicherheit war bei Senior/innen im Westteil Berlins deutlich größer. Im Jahr der Befragung (2010) gab es jedoch praktisch keine Tramstrecke im Westteil der Stadt, während Ostberliner/innen schon jahrelange Erfahrung mit der Tram hatten.
Nichtmotorisierte vermeiden im Allgemeinen folgende Situationen:
- glatte, rutschige Wege
- Dunkelheit
- Strecken mit hohem Lkw-Anteil
- Geh- und Fahrbahnen schlechter Qualität
Während sich die beiden letzten Probleme mit einer anderen Route vermeiden lassen, führen die beiden ersten nicht selten dazu, dass man sich gar nicht erst auf den Weg macht.
Drei weitere Befunde der Studie, unabhängig von der Art der Verkehrsteilnahme:
Was bedeutet das für die Verkehrssicherheitsarbeit? Wie sollte man mit subjektiven Sicherheitsäußerungen umgehen? Wie sind diese für die objektive Verkehrssicherheit nutzbar zu machen? Kann man subjektive Einschätzungen mit objektiven Erkenntnissen verknüpfen? Wir würden gerne Ihre Meinung und ihre Erkenntnisse erfahren.
(1) Unfallforschung der Versicherer GDV (Hrsg.)/ Emmanuel Bakaba, Jörg Ortlepp: Verbesserung der Verkehrssicherheit älterer Verkehrsteilnehmer, Berlin, 2010. Download unter www.udv.de
Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2017, erschienen.
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In der Auto- Stau- und Abgashauptstadt Stuttgart regt sich Widerstand gegen die Übermacht des Motorisierten Individualverkehrs und dessen VertreterInnen in Verwaltung und Gemeinderat - die Vision der autofreien Innenstadt soll Wirklichkeit werden.
Wer „Stuttgart“ hört, denkt sofort an Daimler, Porsche und Bosch und damit an eines - das Auto und die autogerechte Stadt. Sprich: an die Ausrichtung der Stadt- und Verkehrsplanung am Motorisierten Individualverkehr (MIV) bei gleichzeitiger Unterordnung nichtmotorisierter Fortbewegungsarten, also Fußgängern und auch Radfahrern.
Gleichzeitig ist Stuttgart bundes- und europaweit bekannt als Stau - und Feinstaub- bzw. Abgashauptstadt. Die Zeit, die AutofahrerInnen in Staus verbringen, nimmt konstant zu. Der sogenannte „Parkdruck“ steigt. Um jeden Parkplatz in den Innenstadtbezirken wird verbissen gekämpft. Soll ein Parkplatz zugunsten eines Baumes weichen, ist der Aufschrei der AutofahrerInnen garantiert.
Dennoch ist auch in Stuttgart, in Teilen seines Gemeinderats und in der Verwaltung das Bewusstsein dafür gewachsen, dass das Auto nicht länger die Fortbewegungsart der ersten Wahl sein kann, gerade in Städten und bei Wegen von unter 5 km. Umfragen unter den StadtbewohnerInnen ergeben, dass sie sich weniger MIV, eine bessere Luft, eine grünere Stadt wünschen. Für Jüngere ist der PKW längst kein automatisches Muss bei Erreichen der Volljährigkeit mehr, ein hippes Fahrrad hat ihm schon längst den Rang als Statussymbol abgelaufen:
„Junge Menschen in Stuttgart fahren kaum noch mit dem Auto zur Arbeit oder zur Ausbildung“ – diese Erkenntnis zeigt die aktuelle Bürgerumfrage. Die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) wird bei jungen Stuttgarter_innen immer beliebter: Waren es im Jahr 2005 noch 59 Prozent, die den Weg zu Arbeit oder Ausbildung mit dem ÖPNV zurücklegten, sind es zehn Jahre später schon satte 78 Prozent. Beim Auto sind die Zahlen für den gleichen Zeitraum deutlich rückläufig: Von 34 Prozent sinkt die Nutzung auf magere 14 Prozent. Auch die Zahl der zugelassenen Autos in der Altersgruppe 18 bis 25 ist seit dem Jahr 2000 um 76 Prozent zurückgegangen – im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der jüngeren Einwohner_innen um 13 Prozent, was verdeutlicht, welch enormen Bedeutungsverlust das Auto für die jüngeren Stuttgarter_innen hat. Betrachtet man den Zeitraum zwischen 2005 und 2015, so zeigt sich, dass alle Stuttgarter_innen deutlich häufiger die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Die mit dem Fahrrad zurückgelegten Wege nehmen zu. Selbiges gilt auch für die der Fußgänger. Eine deutliche Abnahme verzeichnet hingegen die Nutzung des Autos als Verkehrsmittel. Die genannten Fakten zum Bedeutungszuwachs des Umweltverbunds verlangen nach einer städtebaulichen Sichtbarmachung.
Das Umweltbundesamt hat in der Studie „Umweltbewusstsein und Umweltverhalten junger Menschen“ vom Januar 2016 folgendes ermittelt: „Der Vorschlag, Städte und Gemeinden gezielt so umzugestalten, dass einzelne Personen kaum noch auf ein Auto angewiesen sind, sondern ihre Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erledigen können, findet bei jungen Leuten große Zustimmung, und zwar mit 84 Prozent noch etwas mehr als in der Gesamtstichprobe (82 Prozent).“
Aus dem Wegweiser der Kampagne Stuttgart Laufd Nai - (nachzulesen unter www.stuttgart-laufd-nai.de):
Zwischen Bewusstwerdung und Taten der Stadt Stuttgart klafft aber nach wie vor eine große Lücke: Radwege werden nur dann - stückweise und scheinbar völlig planlos - gebaut, wenn sie dem MIV nichts wegnehmen, also entsprechend schleppend.
Der Fußverkehr wird besonders stiefmütterlich behandelt. Gehwege werden in Stuttgart bedenkenlos dem hier schon erwähnten Parkdruck geopfert: Querparken, hinkendes Parken sind Alltag. Autofahrerinnen, die auf Gehwegen parken, wird von Seiten der Ordnungsbehörden viel zu viel Verständnis entgegen gebracht - die Straßenverkehrsordnung wird in Suttgart mit einem großen „Ermessensspielraum“ ausgelegt und kaum umgesetzt. So parken in Stuttgart alle unbeanstandet um Kurven herum, die 5-Meter-Regelung existiert hier de facto nicht. Sämtliche Infrastruktur für den MIV - Parkscheinautomaten, E-Ladesäulen - wird auf den Gehwegen platziert. Illegales Gewehgparken ist selbstverständlicher Alltag. Dank fehlender Sanktionierung dieses Verhaltens schwindet bei immer mehr PKW-FahrerInnen zunehmend jegliches Unrechtsbewusstsein. Wie manch eine/r jemals seine Führerscheinprüfung bestehen konnte, fragt man sich oft.
Obwohl sich die Stadt Stuttgart schon vor Jahren mit einem Verkehrsentwicklungskonzept (VEK 2030) eine Selbstverpflichtung hin zu einer anderen, nachhaltigen Mobilität gegeben hat, das inzwischen durch einen Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ ergänzt wird, ändert sich in der Realität wenig. Die Autofahrerlobby sitzt immer noch fest im Stuttgarter Gemeinderat und verhindert nach wie vor wichtige Weichenstellungen in die richtige Richtung.
In dieser Situation und mit der Erkenntnis, dass Zu-Fuß-Gehende dringend eine Lobby brauchen, hat sich im Oktober letzten Jahres FUSS e.V. Stuttgart gegründet und ihre Arbeit aufgenommen. Mit der Überzeugung, dass nachhaltige Mobilität nie isoliert nach einzelnen Fortbewegungsarten - hier besonders Fuß- und Radverkehr - betrachtet und gefördert werden kann, waren und sind bei den Aktiven-Treffen der Gruppe immer auch Vertreter der Radfahrenden dabei. Das in Stuttgart übliche gegeneinander Ausspielen der beiden Fortbewegungsarten - besonders beliebt sind hier die Schilder „Fußgängerweg mit Fahrrad frei“ noch schlimmer „Fußgängerzone mit Fahrrad frei“ soll ein Ende haben. Fuß- und Radverkehr soll immer zusammen gedacht werden.
Und wie so oft, wenn die Zeit für eine Idee reif ist, haben nahezu zeitgleich zur Gründung von FUSS e.V. Stuttgart zwei junge Stadträte im Stuttgarter Gemeinderat (Christoph Osazek, Die Linke und Luigi Pantisano; das Bürgerbündnis „Stuttgart Ökologisch Sozial“, SÖS) beschlossen, mit Hilfe von Stuttgarter BürgerInnen und Verbänden, endlich das in Gang zu bringen, was schon lange auf dem Papier steht, aber an den Autofahrerparteien im Rat bislang scheiterte: Eine Entwicklung hin zu einer nachhaltigen Mobilität und damit zu einer lebenswerteren Stadt. Als erstes Projekt planten sie die deutliche Ausweitung der Fußgängerzone in der Stuttgarter Innenstadt mit dem ersten Arbeitstitel „Stuttgart läuft“. Ziel: „Ein Paradies für Zu-Fuß-Gehende und Rad-Fahrende mit optimaler Anbindung an den ÖPNV im Herzen der Stadt“.
Zusammen mit einem noch zu schmiedenden Bündnis aus Stuttgarter Verbänden und Vereinen sollte ein Bürgerbegehren angestoßen werden, das in einen Bürgerentscheid münden sollte und damit Gemeinderat und Verwaltung endlich zu konkreten Taten zwingen sollte. Sie erarbeiteten ein wohl durchdachtes Konzept (zu finden unter www.stuttgart-laufd-nai.de), mit dem sie als erstes an die noch recht frische FUSS e.V.-Gruppe Stuttgart herantraten. Nach anfänglicher Diskussion innerhalb der Gruppe, welche Auswirkungen so eine Fußgängerzone auf die umliegenden Bezirke haben könnte (Stichwort: verstärkter Parksuchverkehr), war FUSS e.V. Stuttgart bereit, zusammen mit den beiden Stadträten, die auch nach und nach ihre jeweilige Gemeinderatsfraktion von der Idee überzeugen konnten, „Stuttgart Läuft“ auf den Weg zu bringen und weitere Verbündete ins Boot zu holen. Schnell kamen dazu: der BUND, der Nabu, der ADFC, die Radgruppe der Naturfreunde Stuttgart, ProBahn, die Anstifter .... um nur einige zu nennen - inzwischen unterstützen 21 Gruppen die Idee einer autofreien Innenstadt, die inzwischen recht schwäbisch mit „Stuttgart Laufd Nai“ daherkommt.
Auszüge aus dem „Wegweiser“ der Kampagne zeigen, „wo's hinlaufen“ soll: „Innerhalb des Stuttgarter Cityrings soll das gesamte Straßennetz in eine Fußgängerzone umgewidmet werden. Dabei wird es folgende Sonderregelungen geben:
Das Bündnis nahm im Frühjahr diesen Jahres seine Arbeit auf. Die Presse berichtete wohlwollend, der Oberbürgermeister entdeckte die „Vision der autofreien Innenstadt“ für sich und verkündete seine Sympathie dafür wiederholt. Noch bevor das Bündnis mit dem Sammeln der nötigen 20.000 Unterschriften, die für das Bürgerbegehren nötig sind - und die nach unserer Überzeugung schnell zusammengekommen würden - beginnen konnte, entdeckten zwei weitere Parteien (Grüne und SPD) im Stuttgarter Gemeinderat das Thema für sich und gossen es, stark abgeschwächt, in einen Antrag zu den anstehenden Haushaltsberatungen 2018/2019 in Stuttgart.
Die Fraktion der beiden Initiatoren der Idee für „Stuttgart laufd Nai“ (SÖSLinkePlus) wurden vom Bündnis beauftragt, einen neuem Antrag zu formulieren, der die Ziele von „Stuttgart Laufd Nai“ wiedergibt. Damit gingen sie in harte Verhandlungen - und erfolgreich daraus hervor!
Schneller als ursprünglich gedacht - und schneller als über den Weg eines Bürgerentscheids - scheint es im Gemeinderat der Stadt Stuttgart nun eine Mehrheit zu geben für einen Antrag, der die Idee der Kampagne „Stuttgart Lauf Nai“ umsetzen möchte.
Entscheidende Abstimmungen müssen noch abgewartet werden. FUSS e.V. Stuttgart wird zusammen mit den anderen Bündnispartnern das Thema mit Veranstaltungen und Flyern in der Öffentlichkeit begleiten. Sollte die Umsetzung des Projekts „Stuttgart laufd Nai“ ins Stocken geraten, bleibt uns immer noch der Bürgerentscheid! Und weil die autofreie Innenstadt nur der Anfang sein kann, bleibt das Bündnis auch darüber hinaus bestehen. Es gibt noch viel zu tun, auf dem Weg zur „Lebenswerten Stadt für alle“.
FUSS e.V. Stuttgart macht sich zusammen mit anderen Verbänden daran, in Stuttgart eine weitgehend autofreie Innenstadt zu verwirklichen und gründete die Kampage „Stuttgart laufd Nai“. Dabei soll die bereits bestehende Fußgängerzone in der Innenstadt deutlich ausgeweitet und Fahrradstraßen und -wege integriert werden. Der ÖPNV soll darin erhalten und verbessert und die Logistik neu gedacht und geplant werden.
* Erklärung für die, die des Schwäbischen nicht mächtig sind: Der Schwabe „laufd“ (läuft), wenn er zu Fuß geht. Wenn er schnell „laufd“ dann „saut“ er :-) Deutungsmöglichkeiten, für „des laufd nai“: find ich super, gefällt mir. Weiter bedeutet es: „Kommt mir gerade recht“, also zum richtigen Zeitpunkt. Zu guter Letzt kann es auch noch ganz wörtlich im Sinne von „rein (also in die Stadt) laufen“ verstanden werden.
www.facebook.com/stuttgartlaufdnai/
Twitter: @Slaufdnai
Dieser Artikel von Susanne Jallow ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2017, erschienen.
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Zu den zahlreichen Änderungen und Ergänzungen der StVO im Jahre 1997 gehörte die Fahrradstraße. Nur wenige Kommunen haben allerdings die Gelegenheit genutzt, den Radverkehr durch Fahrradstraßen zu fördern. Auch wenn das zwanzigjährige Jubiläum der Fahrradstraße in Deutschland deshalb bescheiden ausfällt, ist es doch Zeit für einen Glückwunsch, einen Rück- und einen Ausblick.
Verhalten: Obwohl es jeder wissen sollte, hier ein kurzes Repetitorium für das Verhalten auf Fahrradstraßen:
Verkehrsrechtlich: „Die gesamte Fahrbahn einer Fahrradstraße ist damit Radweg“, heißt es im Rechtskommentar.(3) Dennoch sind Fahrradstraßen verkehrsrechtlich keine Radverkehrsanlagen. Für Radverkehrsanlagen gelten in der StVO und ihren Verwaltungsvorschriften andere Regelungen als für Fahrradstraßen.
Beim Einrichten einer Fahrradstraße sieht sich die Verwaltung mit Anforderungen konfrontiert, die das Zögern der Kommunen verständlich werden lassen: „Fahrradstraßen kommen dann in Betracht, wenn der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist oder dies alsbald zu erwarten ist“ und „vor der Anordnung (müssen) die Bedürfnisse des Kraftfahrzeugverkehrs ausreichend berücksichtigt werden (alternative Verkehrsführung).“ Als Ergebnis muss Folgendes herauskommen: „Auf […] Fahrradstraßen darf der Kraftfahrzeugverkehr nur gering sein (z. B. nur Anliegerverkehr).“
Wenn Voraussetzung und Ergebnis einer Maßnahme nahezu identisch sind, ist es für die Verwaltung in der Tat schwer, diese umzusetzen.
Würde man auf Fahrradstraßen Kraftfahrzeuge ausschließen, wäre der Radverkehr umgehend die „vorherrschende Verkehrsart“. Dies ist jedoch nicht möglich, da Anwohner und Anlieger der Fahrradstraßen sowie deren Besucher, Lieferanten, Kunden und Patienten das Recht haben, ihr Ziel mit dem Kraftfahrzeug zu erreichen: „Das Anliegerrecht ist allgemein darauf ausgerichtet, die Verbindung mit dem öffentlichen Straßennetz zu gewährleisten.“ Nötig wäre hier auf jeden Fall das Zusatzzeichen „Anlieger frei“.
Es fragt sich allerdings, was die Einschränkung bringt. Schon allein die Anlieger können eine Menge Kraftfahrzeugverkehr erzeugen. Häufig werden Fahrradstraßen jedoch als Durchfahrtstrecke benutzt. Dafür sind maximal 30 Euro Bußgeld fällig, was kaum abschreckt. Hinzu kommt, dass „Anlieger frei“ schwer zu überwachen ist. Selbst als unerwünschter Besucher ist man schließlich Anlieger. Da ist es nur ein schwacher Trost, dass jemand, der in die gesperrte Straße nur einfährt, um dort zu parken, nicht als Anlieger gilt.
Geradezu folgerichtig sind nach einer Studie der Unfallforschung der Versicherer 96 Prozent aller untersuchten Fahrradstraßen in Deutschland für den Autoverkehr freigegeben, zwei Drittel sogar ohne Einschränkungen wie „Anlieger frei“.
Im August 2009 wurden unter Verkehrsminister Ramsauer die Verwaltungsvorschriften zum Zeichen „Fahrradstraße“ stark verschlankt.(7) (Auf vielen Websites findet sich noch die vorherige Version). Folgende Aspekte wurden gestrichen:
Das Verkehrsministerium nannte keine speziellen Gründe dafür, warum es gerade diese Punkte strich, sondern begründete im allgemeinen Teil die Änderungen so: „Straffung und Vereinfachung der Vorschriften, die insbesondere durch Herausnahme der verkehrstechnischen/ planerischen Erläuterungen aus der begleitenden VwV-StVO gewährleistet wird.“ Formal ist das verständlich. Die Kehrseite ist, dass die Verwaltung bis heute nicht genau weiß, nach welchen Kriterien sie Fahrradstraßen einrichten soll.
Was die Situation verschärfte: Die StVO schreibt seit 2009 für die Fahrradstraße nicht mehr „mäßige Geschwindigkeit“ vor, sondern eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h.
Die Behörden stehen vor dem Dilemma, dass sie Fahrradstraßen verkehrspolitisch und planerisch nur schwer zur Fahrradförderung einsetzen können, denn sie müssen die Bedürfnisse des Autoverkehrs ausreichend berücksichtigen. Von den Bedürfnissen der Radfahrer/innen ist nicht die Rede, implizit sind diese im besten Fall zu erahnen. Das passt ins Bild einer immer noch am Kraftfahrzeug orientierten Verkehrspolitik: Wird eine Straße zur Kraftfahrstraße umgewidmet, müssen die Belange von Fuß- und Radverkehr nicht berücksichtigt werden.
Dass man Fahrradverkehr nicht mithilfe einiger Schilder und Markierungen fördern kann, erfuhr die Initiative des Volksentscheids Fahrrad in Berlin. Die Initiative will ein Berliner Fahrradgesetz auf den Weg bringen, das im ersten von zehn Punkten fordert, bis zum Jahr 2025 in Berlin 350 km sichere Fahrradstraßen auf Nebenstraßen auszuweisen.
Ein vom Innensenator beauftragtes Gutachten kam jedoch zu dem Ergebnis, dass eine derart quantifizierte und zeitlich fixierte Forderung nicht StVO-konform sei. Vereinfacht ausgedrückt müsse für jede einzelne Straße geprüft werden, ob sie sich als Fahrradstraße eignet. Fahrradstraßen seien keine Maßnahme zur Erzeugung eines zusammenhängenden Fahrradnetzes. Damit stand die wichtigste Maßnahme des Volksentscheids Fahrrad aus verkehrsrechtlicher Sicht in Frage, obwohl die Bereitschaft der rot-rot-grünen Koalition, ein Fahrradgesetz zu entwerfen, das sich an den Zielen des Volksentscheids Fahrrad orientiert, Bestandteil des Koalitionsvertrages ist. Bundesländer sind in ihren Entscheidungen hier also stark eingeschränkt.
Die „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“ aus dem Jahr 2010 (ERA 2010(4)) sind in die Jahre gekommen. Zum Thema Fahrradstraßen halten sie sich geradezu bedeckt. Der kurze Text gibt überwiegend die StVO und ihre Verwaltungsvorschrift wieder.
Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen arbeitet derzeit an einer Neuauflage der ERA. Neue Aspekte gegenüber der Ausgabe 2010 sollen sein: einheitliche Gestaltung, Breite der Fahrgassen, Regeln zur Wartepflicht. Fahrradstraßen im Zuge von Radschnellverbindungen werden eventuell breiter. Zudem werden einige Anwendungsbeispiele vorgestellt. Der Arbeitstitel lautet „ERA 2020“, es kann aber auch 2021 werden.
Aufgrund dieser Unwägbarkeiten zitieren wir im Folgenden aus dem Entwurf des Berliner RadGesetzes(5), weil es zum einen der aktuellste Versuch ist, auch Radverkehrsanlagen zu qualifizieren. Zum anderen ist dieser Entwurf das erste Landesgesetz, in dem - noch vor einem möglichen Bundesgesetz - Qualität und Quantität von Verkehrsanlagen konkret benannt werden. Dies geschieht bereits im Gesetzestext, differenzierter dann in den noch zu formulierenden Verwaltungs- bzw. Ausführungsvorschriften. Damit legt dieses Gesetz einen Standard vor, der von der ERA 2020 kaum unterschritten werden kann. Der Gesetzentwurf greift auch einige der 2009 in den Verwaltungsvorschriften zur StVO gestrichenen Aspekte auf.
Zur Vorfahrt auf Fahrradstraßen heißt es in der ERA 2010: „Ein besonders gleichmäßiger Verkehrsfluss und eine hohe Reisegeschwindigkeit für den Radverkehr wird erreicht, wenn die Fahrradstraße gegenüber einmündenden Straßen Vorfahrt bekommt. Dann sind gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen, die die Geschwindigkeiten des Kraftfahrzeugverkehrs im Zuge der Fahrradstraßen wirksam dämpfen können. Die Entscheidung über die Vorfahrt sollte deshalb von örtlichen Gegebenheiten abhängig gemacht werden. [..] Die bevorrechtigte Führung sollte zusätzlich zur Beschilderung auch durch die bauliche Gestaltung der Kreuzung verdeutlicht werden.“
Eine Vorfahrtsregelung ist also eine zweischneidige Sache: Bei der Fahrradbeschleunigung wird auch der Kraftfahrzeugverkehr beschleunigt, den man dann wieder (baulich?) entschleunigen muss. Der letzte Satz aus dem Zitat deutet auf erhöhte Kosten gegenüber Lösungen mit Markierung und Beschilderung hin.
Schnelle Kraftfahrzeuge sind ebenso wie schneller Fahrräder eine Gefahrenquelle für den Fußverkehr. FUSS e.V. hat den Fahrrad-Volksentscheid Berlin unter der Bedingung unterstützt, dass der Fußverkehr nicht ins Hintertreffen gerät. Im Entwurf des Berliner RadGesetzes wird das zum Beispiel in § 13 Fahrradstraßen berücksichtigt: „Die Knotenpunkte sind so zu gestalten, dass alle Verkehrsteilnehmer* innen gute Sichtbeziehungen haben und beim Abbiegen sichere Geschwindigkeiten eingehalten werden.“ Damit empfiehlt FUSS e.V. Gehwegvorstreckungen an Kreuzungen. Zwar schreibt die ERA 2010 zur Kreuzung mit einer vorfahrtberechtigten Fahrradstraße: „Ergänzende geschwindigkeitsdämpfende Maßnahmen für den Kraftfahrzeugverkehr sind in der Regel notwendig, z. B. durch eine Anhebung der gesamten Kreuzungsfläche.“ Das ist sicher eine gute Sache für den Fußverkehr, aber nicht unbedingt für (schnelle) Radler/innen. FUSS e.V. erachtet hier - barrierefreie - Gehwegnasen als adäquaten Kompromiss.
Ansonsten empfiehlt die ERA die Kombination von Einbahn- mit Fahrradstraßen: „Insbesondere die einseitig für den Kraftfahrzeugverkehr freigegebene Fahrradstraße kann Einbahnstraßen ersetzen und fügt sich gut in Einbahnstraßensysteme ein.“ Das Berliner RadGesetz greift dies auf, jedoch werden die Einbahnstraßen als Maßnahme gegen durchfahrende Kraftfahrzeuge gesehen. In der Begründung heißt es: „Des Weiteren können für den motorisierten Verkehr geltende Einbahnstraßenregeln eingeführt (wobei die Fahrrichtung auf den einzelnen Abschnitten der Fahrradstraßen wechselt) oder an den Kreuzungsbereichen Rechtsabbiegen angeordnet werden.“
Zur Unterbindung des Kraftfahrzeugdurchgangsverkehrs sieht das RadGesetz ganz allgemein vor, Fahrradstraßen „so zu gestalten, dass motorisierter Individualverkehr außer Ziel- und Quellverkehr im jeweiligen Straßenabschnitt unterbleibt.“ Die Begründung ist deutlicher: „Autoverkehr soll weitgehend reduziert und verlangsamt werden. Dazu sollen nötigenfalls auch bauliche Maßnahmen wie z. B. Poller oder Fahrgassenverengungen im Bereich der Zufahrt ergriffen sowie Maßnahmen der Verkehrsüberwachung stationär oder regelmäßig durchgeführt werden.“ Interessant (und realistisch) ist, dass „der Wirtschaftsverkehr durch die Einrichtung von Fahrradstraßen als Quell- und Zielverkehr nicht ausgeschlossen sein soll. Dazu sollen Lieferzonen ausgewiesen und ihre Nutzbarkeit durch Kontrollen sichergestellt werden.“
Vielleicht ist es ein Spezifikum Berlins mit seinen Kopfstein- und Schlaglochstraßen? Der Entwurf des RadGesetzes weist jedenfalls auf die Fahrbahnqualität hin: „Fahrradstraßen […] sollen im Bereich der Fahrgasse mit einem erschütterungsarmen, gut befahrbaren Belag, beschaffen sein.“ In der Begründung heißt es: „Durchgehende, dünne Bremsschwellen bzw. Bodenwellen sind in Fahrradstraßen zur Verkehrsberuhigung regelmäßig ungeeignet, da sie den Radverkehr ebenfalls behindern.“ Auch wenn der letzte Satz nicht zwingend logisch ist, wird die Anforderung klar.
Damit sich in Fahrradstraßen alle an die Regeln halten, steht in der Begründung des Berliner Gesetzentwurfes: „Fahrradstraßen und Nebenstraßen im Radverkehrsnetz müssen für alle Verkehrsteilnehmer deutlich gekennzeichnet sein, damit die für Fahrradstraßen gültigen Verkehrsregeln befolgt werden und auf den Radverkehr Rücksicht genommen wird. Dafür reichen die häufig kleinen Verkehrsschilder nicht aus. Die Erfahrung aus Städten wie Kiel zeigt, dass dieses Ziel mit einem auf der Fahrbahn aufgebrachten Piktogramm realisiert werden kann. 'Gut erkennbar' bedeutet, dass die Kennzeichnung durch Beschilderung durch weitere geeignete Maßnahmen zu ergänzen ist.“
Von der Forschungsstelle der Versicherer im Rahmen ihrer Studie(6) abgeleitete Forderungen mit kurzen Kommentaren des Autors:
Außerdem kann man attraktive Fahrradstraßen auch mit einer anderen Beschilderung schaffen, indem Straßen(abschnitte) mit dem Zeichen 250 („Verbot für Fahrzeuge aller Art“) und mit dem Zusatzzeichen „Radfahrer frei“ versehen werden. Zur Klarstellung der Priorisierung, zur Hebung der Verkehrssicherheit und weil Radfahrer/innen sowieso in Fahrradstraßen nebeneinander fahren dürfen, wäre dort ein generelles Überholverbot für den Kraftfahrzeugverkehr sinnvoll.
Zur Zeit bieten die meisten Fahrradstraßen den radelnden Nutzer/innen nicht mehr Vorteile gegenüber dem Befahren einer normalen Straße in einer Tempo 30-Zone. Der ADFC Berlin wie auch die Initiatoren des RadGesetzes wollen die Fahrradstraße als das Rückgrat einer Fahrradnetzplanung. Im Nebenstraßennetz soll quasi jede Straße zur Fahrradstraße werden, wenn nicht zwingende Gründe dagegen sprechen. Sollte dies so umgesetzt werden, ist die Fahrradstraße als Vorfahrtstrecke selbstverständlich nicht mehr umsetzbar: An jeder Kreuzung, an der sich Fahrradstraßen treffen, muss Rechts-vor-Links gelten (es sei denn, es gebe Fahrradstraßen mit unterschiedlicher Priorisierung). Rechts vor Links ist sicherlich auch als Mittel gegen beschleunigten Kfz-Verkehr in einem quasi zweiten Hauptstraßennetz sinnvoll, wovon wiederum auch die Fußgänger/innen profitieren würden. Von der Verbesserung der Sichtbeziehungen durch Gehwegvorstreckungen im Kreuzungsbereich würden auf jeden Fall auch die Radfahrer/innen profitieren.
1997, vor 20 Jahren, wurde mit dem Zeichen 244 das Element „Fahrradstraße“ in die StVO aufgenommen. Viele Kommunen nutzten es nicht, andere schmückten sich mit wenigen Zeichen 244. Die Umsetzung vor Ort ist oft suboptimal, was auch an den mangelnden und mangelhaften Vorschriften und Empfehlungen liegen kann. In Berlin wird z.Z. versucht, Qualität und Netzdichte per Gesetz zu regeln. In der in Arbeit befindlichen Richtlinie werden Fahrradstraßen offensiver abgehandelt werden.
(1) StVO Anlage 2 (zu § 41 Absatz 1) zu Zeichen 244.1 und 244.2
(2) VwV StVo zu § 31, Absatz 2, III.
(3) Dietmar Kettler in „Münchner Kommentar Straßenverkehrsrecht“, Band 1
(4) FGSV (Hrsg.): Empfehlungen für Radverkehrsanlagen 2010, Köln, 2010
(5) Gesetz zur Förderung des Radverkehrs in Berlin (RadG), Entwurf Stand 5. Mai 2017
(6) Unfallforschung der Versicherer: Sicherheitsbewertung von Fahrradstraßen und der Öffnung von Einbahnstraßen, Berlin 2016, Download udv.de → Straße → Stadtstraßen → Fahrradstraßen
(7) Die verschiedenen Versionen der VwV der StVO seit 1998 können Sie unter bernd.sluka.de/Recht/StVO-VwV/ abrufen.
Bernhard Knierim: Fahrradstraßen in Berlin – gute Idee, schlecht umgesetzt, in: mobilogisch 2/2013
Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2017, erschienen.
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Am 2.12.2016 hat der Bundestag die Ausbaugesetze für Straße, Schiene und Wasserstraße des BVWP 2030 verabschiedet ohne darüber informiert worden zu sein, dass insbesondere der Straßenbau im massiven Widerspruch zu den Klimaschutzzielen und Luftreinhaltezielen steht. Verkehrswegebau führt dazu, dass der Verkehr zunimmt. Die verkehrserzeugende Wirkung des Straßenbaus wird im BVWP jedoch etwa um den Faktor 10 unterschätzt. Der Öffentlichkeit und den Parlamentariern wird eine volkswirtschaftliche Rechtfertigung des Verkehrswegebaus präsentiert, die völlig falsche Nutzen-Kosten-Verhältnisse ausweist.
Im BVWP 1992 wurde die verkehrserzeugende Wirkung des Straßenbaus noch völlig ignoriert: Man tat so, als ob man nicht wüsste, dass die immer größeren Entfernungen zwischen Wohnorten und Arbeitsplätzen, der Bau von Supermärkten an den Ausfallstraßen und so weiter eine Wirkung des Baus von immer schnelleren Straßen (und Schienenstrecken) ist. Denn je schneller man fahren kann, umso größere Strecken werden zurückgelegt. Das zeigt sich im Vergleich mit früheren Zeiten, als die Verkehrsmittel und Verkehrswege noch viel langsamer waren oder auch im Vergleich mit anderen Ländern, in denen der Verkehr schneller (z.B. USA) oder deutlich langsamer (z.B. Ghana) ist als bei uns.
Beim BVWP 2003 hat man die verkehrserzeugende Wirkung neuer Straßen erstmals berücksichtigt – aber in viel zu niedrigem Umfang. Es wurde angenommen, dass nur 7,7 % der angeblich eingesparten Fahrzeit für zusätzlichen Verkehr verwendet wurde. In Wirklichkeit sind es jedoch mit guter Näherung 100 %, wie zahlreiche empirische Studien belegen. Der Wert von 7,7 % stand aber nicht im fast 400seitigen BVWP-Handbuch, sondern er wurde erst später bekannt, wobei die Begründung für die Annahme dieses Werts nicht plausibel war. Es gab leider nur wenige, darunter das Umweltbundesamt, die diese Täuschung durchschaut haben.
Im aktuellen BVWP 2030 wurde die Rechnerei noch undurchsichtiger und komplizierter gemacht, wobei die Menge des durch Straßenbau verursachten Mehrverkehrs (sog. induzierter Verkehr) weiterhin dramatisch unterschätzt wird.
Im BVWP-Methoden-Handbuch findet sich hierzu die folgende wenig erhellende Information:
“… Abbildung der geänderten Zielwahl aufgrund von zwischen Planfall und Bezugsfall veränderten Widerständen im Straßennetz. Unter Widerständen werden generalisierte Kosten beispielsweise aus Fahrzeiten und Nutzerkosten verstanden. Die Zielwahländerungen werden mit Hilfe eines Gravitationsmodells ermittelt, das im Rahmen der Modellierung der MIV-Nachfrage zum Einsatz kommt. Der induzierte Verkehr wird für alle Projekte standardmäßig ermittelt.“
In den umfangreichen BVWP-Papieren wird das Verfahren nicht beschrieben und die Widerstandsfunktionen für die Straßentypen werden nicht angegeben. Die getroffenen Annahmen bleiben im Dunkeln und es gibt keine Hinweise, wie das verwendete „Gravitationsmodell“ funktioniert. Trotzdem kann man leicht erkennen, dass das Ergebnis der komplizierten Modellrechnungen falsch ist:
Im Projektinformationssystem PRINS (bvwp-projekte.de), Abschnitt 1.6 Zentrale verkehrliche/ physikalische Wirkungen, findet sich für jedes Straßenprojekt eine Angabe über die Veränderung der Fahrzeugeinsatzzeiten im Personenverkehr (PV). Beim Projekt A20, einem der größten Straßenprojekte, sind es zum Beispiel 12,96 Mio. PKW-h/a. Das sind die angeblich durch den Bau der A20 eingesparten Fahrzeiten. Tatsächlich müsste dieser Wert 0 sein, weil die eingesparte Zeit für weitere Fahrten verwendet wird. Demnach müssten für den neu erzeugten Verkehr nicht die angegebenen 1,46 Mio. PKW-h/a zu Grunde gelegt werden, sondern
1,46 + 12,96 = 14,42 Mio. PKW-h/a.
Das heißt, es wird hier ungefähr um den Faktor 10 falsch gerechnet. Dieser Fehler-Faktor ist für die einzelnen Projekte unterschiedlich. Bei manchen Projekten wird der induzierte Verkehr sogar vollständig vernachlässigt.
Die Nutzen-Kosten-Analyse (PRINS, Abschnitt 1.7) weist 11 Nutzenkomponenten mit 23 Unterkomponenten auf. Die größte Nutzenkomponente ist bei den meisten Projekten der Reisezeitnutzen NRZ für den Personenverkehr. Tatsächlich müsste aber NRZ = 0 gesetzt werden. Das gilt auch für wesentliche Teile des Nutzens NB bei den Betriebskosten.
Weil der überwiegende Teil des induzierten Verkehrs nicht einberechnet wird, fehlen auch die meisten Unfälle des induzierten Verkehrs und die Komponente VS ist in Wirklichkeit geringer oder negativ. Entsprechendes gilt auch für die Geräuschbelastung NG und die Abgasbelastungen NA einschließlich der CO2-Emissionen.
Neu gegenüber dem BVWP 2003 ist der so genannte implizite Nutzen NI. Dahinter steckt der Gedanke, dass Autofahrer auf neuen, schnelleren Straßen nur dann weitere Strecken zu entfernteren Zielen fahren, wenn der Nutzen dieser zusätzlichen Fahrstrecke mindestens so hoch ist, wie die Kosten für Treibstoff und Reisezeit.
Es kann durchaus als Nutzen angesehen werden, wenn durch den Bau einer neuen Straße mit gleichem Zeitaufwand wie früher weiter entfernte Ziele erreicht werden können und wenn zum Beispiel der Wohnsitz weiter weg vom Arbeitsplatz gewählt werden kann. Ob man das so sieht, müsste die Politik entscheiden. Leider haben die Parlamentarier im Rahmen der Diskussion über den BVWP diese Frage gar nicht aufgeworfen.
Die Lobbyarbeit beim Straßenbau funktioniert keineswegs so, dass Vertreter der großen Straßenbaufirmen mit Geldköfferchen im Ministerium aufkreuzen und um neue Aufträge bitten. Vielmehr sind die Straßenabteilungen der Ministerien selbst die Straßenbaulobby zusammen mit den großen Straßenplanungsbüros, wo man sich immer kompliziertere Methoden zur volkswirtschaftlichen Rechtfertigung des Straßenbaus ausdenkt. Auch viele von Drittmitteln abhängige Straßenplanungsinstitute der Universitäten müssen zur Straßenbaulobby gerechnet werden.
Am 7.11.2016 fand im Ausschuss für Verkehr und Infrastruktur des Bundestages eine Anhörung mit Sachverständigen zum BVWP statt. Die Regierungsparteien hatten als Sachverständige die Experten, die sich die BVWP-Methodik ausgedacht haben, benannt und gaben damit die inhaltliche Arbeit an diese ab. Ihr wichtigster Sachverständiger war Christoph Walther vom Verkehrsplanungsbüro PTV (Karlsruhe). Walther ist seit mehr als 20 Jahren Mitglied im FGSV-Arbeitsausschuss Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen, den er jetzt leitet.
GRÜNE und LINKE hatten als Verkehrsfachleute Dr. Werner Reh vom BUND und den Bahn-Experten Dr. Martin Vieregg benannt, der durch seine Kostenprognosen für das Projekt Stuttgart 21 bekannt geworden ist. Der BUND hat bei der EU gegen den BVWP eine Beschwerde eingereicht und den BVWP als „rechtswidrig und klimapolitisch fahrlässig“ bezeichnet. Der BUND kritisierte zudem, dass Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) umgefallen sei, denn sie hätte intervenieren müssen, weil im BVWP alle von der Regierung selbst gesteckten Ziele in Sachen Nachhaltigkeit verfehlt würden. Doch auch von Dr. Reh und Dr. Vieregg wurde nicht auf den grundlegenden methodischen Fehler des BVWP hingewiesen, nämlich dass der angebliche Hauptnutzen des Straßenbaus, die Reisezeitersparnis, in der Realität gar nicht in dieser Form vorhanden ist und dass sehr viel mehr zusätzlicher Kfz-Verkehr verursacht wird als im PRINS angegeben ist.
In den sogenannten Umlegungen werden die angeblichen Entlastungswirkungen des Straßenbaus berechnet, die real bei weitem nicht erreicht werden, sofern die Straßen, die entlastet werden sollen, nicht gleichzeitig massiv zurück gebaut werden. Diese Umlegungsrechnungen werden vom Büro IVV in Aachen gemacht. Obwohl man sich seit Jahrzehnten mit dieser Aufgabe beschäftigt, ist es immer noch nicht gelungen, das ganze deutsche Straßennetz mit seinen Belastungen mit brauchbarer Genauigkeit zu simulieren. Im Rahmen der BVWP-Anhörung wurde das BMVI auf zahlreiche grobe Abweichungen aufmerksam gemacht. Es wurde jedoch nichts korrigiert.
Die Pläne für die Verkehrsbelastungen 2030 können in den PRINS-Dossiers für alle BVWP-Projekte eingesehen werden. Wer sich mit konkreten Projekten beschäftigt, kann durch Vergleich mit anderen Quellen feststellen, dass die im PRINS angegebenen Belastungen der Straßen häufig falsch sind. Der größte systematische Fehler bei allen Straßenprojekten ist aber die drastische Unterschätzung des induzierten Verkehrs im Planfall. Die roten Straßenabschnitte (Verkehrszunahme) müssten dicker und die grünen (Entlastung) viel dünner sein.
Die Computerprogramme für die komplizierten Schönrechnereien haben nicht die Verkehrsministerien selbst, sondern nur die Gutachter-Büros. Das bedeutet, dass unsere Straßenbaupolitik von Verkehrsplanungsbüros gesteuert wird, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind.
Die staatlichen Straßenplaner und die Verkehrsplanungsbüros haben das gemeinsame Interesse, dass möglichst viele Straßen gebaut werden. Deswegen haben sich die Büros für den BVWP eine komplizierte, für die Politik undurchschaubare Schönrechnerei ausgedacht, mit der ein volkswirtschaftlicher Nutzen des Straßenbaus ausgerechnet wird, den es so nicht gibt und es werden unrealistisch hohe Entlastungen versprochen. Dass der Bau neuer Straßen im massiven Widerspruch zu den Klimaschutzzielen steht, wird im BVWP weitgehend unterschlagen, weil die verkehrserzeugende Wirkung des Straßenbaus dramatisch unterschätzt wird.
Dieser Artikel von Rudolf Pfleiderer und Frieder Staerke ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2017, erschienen.
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