Eine Aufgliederung der Wege in unserer Alltags-Mobilität nach Etappen gibt dem Zufußgehen einen ganz neuen Stellenwert. Aber es ergeben sich auch wichtige Erkenntnisse darüber, wie man die tägliche Dosis körperlicher Aktivitäten bereits in den Alltag integrieren kann.
In mobilogisch! 2/17 haben wir Ergebnisse einer Auswertung unserer Alltags-Mobilität nach Fuß-Etappen vorgestellt („Das hauptsächlich vernachlässigte Verkehrsmittel“). Diese Auswertungen wurden mit einem Datenbestand für deutsche Städte durchgeführt, der – fortgeschrieben auf 2015 – fast 40.000 Personen umfasst und sorgfältig validiert wurde. Dabei wurde die in der Mobilitätsforschung gängige Definition des „hauptsächlich genutzten Verkehrsmittels (HVM)“ einer Aufgliederung der Verkehrsmittelwahl nach einzelnen Wege-Etappen gegenübergestellt. Diese Etappen wurden zudem unterschieden nach Etappen mit oder ohne „Warten“ (auf ein Verkehrsmittel).
Ein zentrales Ergebnis war, dass die durchschnittliche Dauer, die wir mit dem HVM Zu Fuß benötigen, bei Berücksichtigung aller Fuß-Etappen mit 1,75 multipliziert werden muss. Bei zusätzlichen Einbezug der Warte-Etappen sogar mit 2,0 (Verdoppelung).
Dieser pauschale Korrekturwert ist hilfreich, um die Dimension der Problematik erkennen zu können. Detailliertere Analysen zeigen dann, wie sich dieser Effekt weiter auswirkt.
So ergibt eine Aufgliederung nach Wege-Zwecken bereits ein sehr variables Bild. Die durchschnittliche Dauer, die für das Zufußgehen aufgewendet wird, übersteigt bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen (Post, Arzt etc.), bei Ausbildung und – vor allem – Beruf den Ausgangswert (hier = 100) zum Teil deutlich (wobei die sehr hohen Werte für Arbeit vor allem darauf zurückzuführen sind, dass nur sehr wenige Menschen zu Fuß in die Arbeit gehen, der Ausgangswert also besonders niedrig ist). Unterdurchschnittliche Zuschläge zeigen sich dagegen bei Begleitung, Einkauf und – vor allem – Freizeit.
Auch eine einfache Aufgliederung nach Alter und Geschlecht ergibt deutliche Unterschiede.
Bei Männern sehen wir überdurchschnittliche Zuschläge bei den beiden jüngeren Altersgruppen und die geringsten bei den Senioren (60+).
Frauen verzeichnen insgesamt höhere Zuschläge bei den Etappen. Bei der jüngsten Altersgruppe sehen wir ähnliche Werte wie bei den Männern. Dagegen fallen die Zuschläge in der Altersgruppe 30-44 Jahre geringer aus als bei den Männern, in den beiden älteren Gruppen aber höher, besonders deutlich bei 45-59 jährigen.
Wir wollen hier aber den Blick über Deutschland hinaus lenken. Dazu benutzen wir einen Datenbestand, den Daniel Sauter auf der „Walk21“ in Hong Kong 2016 vorgestellt hat („International standard for measuring walking: how much we walk and what motivates us to walk“). Dieser Datenbestand enthält Mobilitätsdaten zu zehn Städten/Gebieten aus drei Kontinenten.
Dabei umfasst „STT“ drei englische Mittelstädte, die im Rahmen des Projektes „Sustainable Travel Towns (STT)“ untersucht wurden, D‘ Haag ist die niederländische Hauptstadt Den Haag, Gävle eine schwedische Mittelstadt ca. 170 km nordöstlich von Stockholm, V’couver die kanadische Stadt Vancouver in British Columbia, B’ham die Mittelstadt Bellingham ca. 80 Meilen nordwestlich von Seattle und B’bane die Hauptstadt Brisbane im australischen Queensland.
Ein Blick auf die Verkehrsmittelwahl in diesen Gebieten macht deutlich, warum sie ausgewählt wurden. So variiert etwa der Anteil des Umweltverbundes (Zu Fuß, Fahrrad, ÖPNV) zwischen 77 % (in Basel) und 20 % (in Bellingham). Es wird also eine große Bandbreite des alltäglichen Mobilitätsgeschehens abgebildet.
In diesen Gebieten verzeichnen wir im Durchschnitt 2,9 Wege pro Person/Tag und 5,1 Etappen (ohne Warten). Mit Warten wären es sogar 5,7 Etappen.
Dabei wird deutlich, dass in Städten mit hoher ÖPNV-Nutzung die durchschnittliche Zahl täglicher Etappen spürbar ansteigt, dass aber auch in den anderen Gebieten dieser Durchschnitt immer über vier, oft in der Nähe von fünf oder sogar mehr Etappen liegt.
Man kann bei der Darstellung der Verkehrsmittelwahl aber nicht nur das jeweilige HVM zugrunde legen, sondern man kann die Verkehrsmittelwahl auch auf alle Etappen beziehen.
Der durchschnittliche Anteil der Fußwege im Gesamt aller Gebiete läge dann nicht mehr bei 21 sondern bei 52 %! Dagegen würde beispielsweise der Anteil der Pkw-Fahrer von 38 auf 22 % absinken.
Und plötzlich gibt es nur noch vier Gebiete mit einem Fußwege-Anteil von weniger als 50 % (darunter interessanterweise auch Den Haag). Der Anteil der Pkw-Fahrer würde nur noch in den klassischen Autofahrer-Regionen (Bellingham, Brisbane) über die 30 %-Marke steigen, der Anteil der Pkw-Mitfahrer bliebe durchwegs unter 15 %. Bei ÖPNV und Fahrrad wären die Wirkungen sehr unterschiedliche: Nur Basel und Wien würden beim ÖPNV über die 20 %-Marke springen, beim Fahrrad wären nur noch Den Haag und Gävle im zweistelligen Bereich.
Wir müssen aber eine Analyse der Alltags-Mobilität nicht auf eine detailliertere Betrachtung der Fuß-Etappen beschränken. Gerade in Zeiten, in denen viel über Fitness und „physical activities“ geredet wird, könnte man ja alle Etappen herausgreifen, bei denen wir uns körperlich bewegen. Das sind im Wesentlichen die Etappen, bei denen wir zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind.
Dabei ist klar, dass wir nur dann „active“ unterwegs sind, wenn wir nicht den ganzen Tag zuhause bleiben, sondern auch das Haus verlassen (sog. „Mobile“). Addiert man jetzt die Dauer aller Fuß- und Fahrrad-Etappen, so ergibt sich die Dauer, die wir pro Tag mit „Active Time“ verbringen.
Im Durchschnitt aller zehn Gebiete liegt dieser Wert bei 28 (mobile Personen) bzw. 24 Minuten (alle Personen). Der von der WHO empfohlene Mindestwert von 30 Minuten pro Person/Tag wird nicht erreicht.
Er wird aber bei den mobilen Personen in allen Gebieten erreicht, bei denen der (HVM-) Anteil der Pkw-Fahrer unter 40 % liegt und bei denen mit einem Anteil unter 30 % (Basel, Wien) sogar im Durchschnitt aller Personen. Das ist ein wichtiger Hinweis auf einen Zusammenhang, den wir schon in früheren mobilogisch!-Artikeln thematisiert haben: Man kann die 30 Minuten physical activities bereits durch geeignete Verkehrsmittelwahl bei der Alltags-Mobilität erreichen und kann sich damit etwa den Gang ins Fitness-Studio ersparen.
Die Aufgliederung wird noch anschaulicher, wenn wir nach der sog. „Verkehrsmittel-Partizipation“ unterscheiden. Anders als bei den gängigen (und bisher diskutierten) Mobilitäts-Kennziffern werden bei der Partizipation nicht Wege sondern Personen klassifiziert. Jede Person, die am Tag mindestens einen (reinen) Fußweg verzeichnet, fällt in die Partizipationsgruppe Zu Fuß, jede, die mindestens einmal mit dem Fahrrad fährt, in die Partizipationsgruppe Fahrrad usw..
Eine Aufgliederung der Verkehrsmittelwahl zeigt, wie prägend das jeweilige Verkehrsmittel für die einzelnen Partizipationsgruppen ist (siehe Diagonale). Wer am Tag wenigstens einmal zu Fuß geht, der erledigt 57 % seiner täglichen Wege zu Fuß, wer Fahrrad oder ÖPNV fährt, 61 % bzw. 62 % mit dem Fahrrad/ÖPNV, wer als Pkw-Fahrer unterwegs ist, nutzt dieses Verkehrsmittel gar bei 79 % aller Wege am Tag.
Dabei geht – im Durchschnitt aller zehn Gebiete – ein gutes Viertel der Bevölkerung (26 %) mindestens einmal zu Fuß (HVM), ein Neuntel fährt Fahrrad und ein Fünftel nutzt den ÖPNV. Diesen insgesamt 57 % stehen 54 % gegenüber, die ein MIV-Verkehrsmittel wenigstens einmal täglich nutzen (Die Summe beider Gruppen liegt über 100, weil es natürlich auch Personen gibt, die sowohl den UV wie auch den MIV am selben Tag nutzen.).
Diese Aufgliederung zeigt aber noch etwas ganz anderes: Wer am Tag mindestens einmal zu Fuß geht (als HVM), der erledigt ein weiteres Sechstel seiner Wege mit dem Fahrrad oder ÖPNV und nur ein gutes Viertel (27 %) mit einem motorisierten Individualverkehrsmittel (MIV). Wer Fahrrad fährt, benutzt den MIV bei 21 % seiner Wege, die anderen Umweltverbund-Verkehrsmittel (UV) aber nur unwesentlich weniger (18 %) und wer den ÖPNV benutzt, der geht genauso oft zu Fuß wie er/sie den Pkw nutzt (als Fahrer oder Mitfahrer).
Umgekehrt verzeichnen Pkw-Fahrer am gleichen Tag die niedrigsten Werte (17 %) im UV (und übrigens auch als Pkw-Mitfahrer).
Zusammengefasst heißt das: Wer mindestens einmal am Tag ein Verkehrsmittel des UV nutzt, der nutzt für mindestens 73 % seiner Wege den Umweltverbund. Und wer mindestens einmal täglich den MIV nutzt, der erledigt mindestens 73 % der Wege im MIV.
Da aber die über das HVM definierte Verkehrsmittelwahl viele kleine Etappen – vor allem Zu Fuß – unberücksichtigt lässt, wäre es sinnvoll, die in diesem Beitrag gezeigte „Active Time“ für die einzelnen Verkehrsmittel-Partizipationsgruppen auch für unsere zehn Beispielgebiete zu kalkulieren.
Es zeigt sich, dass Personen mit Umweltverbund-Nutzung im Durchschnitt aller Gebiete deutlich über 30 Minuten pro Tag an Active Time erreichen (von 41 Minuten bei der Partizipationsgruppe ÖPNV bis 61 Minuten bei Fahrrad). Es zeigt sich aber auch, dass dies ebenso zutrifft für Gebiete mit hoher Nutzung an motorisierten Individualverkehrsmitteln. Die Active Time liegt zwischen 33 und 83 Minuten und damit durchgängig über 30 Minuten. Und bei Fußgängern und Radfahrern sinkt sie nirgends unter 40 Minuten ab. Es ist wie bei der Verkehrsmittelwahl: Wenn man will, dass die Menschen ausreichend körperliche Bewegung bereits in ihrer Alltagsmobilität erreichen, muss man sie „nur“ dazu bringen, dass sie wenigstens einmal zu Fuß gehen, Fahrrad fahren oder den ÖPNV nutzen. Den Rest regeln sie dann ganz alleine; detailliertere Anleitungen werden nicht benötigt. Und das gilt nicht nur für Gebiete mir umweltverbundfreundlicher Angebotsgestaltung, sondern auch für MIV-orientierte Kommunen!
Und umgekehrt erreicht im Durchschnitt dieser Gebiete niemand, der motorisierte Individualverkehrsmittel nutzt, die 30 Minuten-Marke an aktiver Zeit. Bei der Partizipationsgruppe Pkw-Fahrer sind es nur 17 Minuten, bei motorisierten Zweirädern 19 und bei Pkw- Mitfahrern gerade 20.
Und auch in Gebieten mit hoher Umweltverbund-Nutzung wird diese Marke in allen Partizipationsgruppen verfehlt (Ausnahme: Den Haag, motorisierte Zweiräder). Insbesondere für die Pkw-Fahrer ist der Befund eindeutig. Der Anteil an Active Time liegt nur zwischen 14 und 24 Minuten. Wer also mit dem Auto fährt, muss zusätzliche Aktivitäten unternehmen, wenn er ausreichend körperliche Bewegung erreichen möchte.
Der Einbezug von Wege-Etappen gibt Mobilitätsanalysen eine ganz neue Qualität. So kann beispielsweise die Zeit bestimmt werden, die wir tatsächlich zu Fuß gehen. Oder auch die Zeit, in der wir uns körperlich bewegen: Wer mindestens einmal am Tag den Umweltverbund nutzt, kommt dabei über die 30 Minuten-Grenze und wer ein Auto nutzt, schafft das nicht.
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2017, erschienen.
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Der in der Mobilitätsforschung verwendete Wege-Begriff verlangt die Bestimmung eines (hauptsächlich genutzten) Verkehrsmittels pro Weg. Da dieser Wegebegriff aber mehrere Etappen mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln umfasst, bevorzugt er bestimmte Verkehrsmittel und benachteiligt andere. Verlierer ist dabei nur das Verkehrsmittel Zu Fuß.
Das Problem der Wegedefinition ist so alt wie die Mobilitätsforschung selbst. Dabei ist die Frage, ob und wie die einzelnen Wege-Etappen erfasst werden, von zentraler Bedeutung. Wir haben uns in mobilogisch! 4/15 („So geht Wien“) mit diesem Thema schon einmal ausführlich befasst. In diesem Beitrag konnten wir zeigen, dass es durchaus möglich ist, die einzelnen Etappen eines Weges zu erfassen, auch sehr feingegliedert. Diese Erfassung verlangt aber ein empirisches Design, das – wenn es verlässliche Ergebnisse liefern soll – in etwa den doppelten Aufwand wie eine „klassische Mobilitätsstudie“ erfordert. Aus diesem Grund gibt es sehr wenige Auswertungen zur Mobilität auf Etappenbasis. Das ist besonders für die Vertreter des Fußverkehrs problematisch. Denn ein großer Teil der bei einer Zusammenfassung der Wege nach klassischem Muster „verlorenen Etappen“ werden zu Fuß zurückgelegt.
Hierfür gibt es aber einen Ausweg. Da sich einzelne Wege-Etappen in ihrer Struktur sehr ähnlich sind, können aus validen Etappen-Erhebungen Kennziffern gewonnen werden. Wenn man diese Kennziffern in andere Erhebungen einsetzt kann man dann die Etappen quasi simulieren. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass alle bei einem Weg genutzten Verkehrsmittel sauber erhoben wurden.
Eine solche Datenbasis liegt uns vor (siehe linke Spalte). Sie ist (in deutschen Städten) im echten KONTIV-Design erhoben (alle Tage des Jahres, alle Haushaltsmitglieder), wurde schriftlich/postalisch durchgeführt (die Methodik, die mit Abstand die validesten Daten zur Mobilität misst), hat eine hohe Antwortquote und wurde im Hinblick auf die beiden größten Fehlerquellen bei solchen Erhebungen (Non-reported-trips und Non-response) korrigiert. Die Fallzahlen sind groß und die Daten auf das Jahr 2015 fortgeschrieben. Die klassischen Mobilitäts-Kennziffern zeigen ein vertrautes Bild.
Dabei wurde für die Auswertung der Verkehrsmittelwahl das „Hauptsächlich genutzte Verkehrsmittel (HVM)“ gebildet. Wie das geht, haben wir an einem Beispiel gezeigt. Dabei handelt es sich um einen Arbeitsweg mit dem Bus. Dazu gehören neben der Fahrt im Bus zwei Fuß- und eine Warte-Etappe(n).
Nach dem Muster HVM wäre dies ein Weg mit einem Verkehrsmittel (Bus), der bei Dauer und Entfernung die jeweiligen Tür-zu-Tür-Werte dem Bus zurechnet. Betrachtet man „alle genutzten Verkehrsmittel“, dann wäre dies ein Bus- und ein Fußweg. Da zwischen den beiden Fuß-Etappen nicht unterschieden werden kann, muss ein Wert x für die jeweiligen Fuß-Anteile zusammen geschätzt werden. Klarer wird das Bild erst, wenn wir uns auf die Etappen-Ebene begeben. Jetzt kann jeder einzelnen Etappe eine Dauer und eine Entfernung zugeordnet werden. Allerdings wird dann noch immer nicht berücksichtigt, dass es beim ÖV auch Wartezeiten gibt (sowohl bei Zugang wie auch beim Umsteigen). Dies kann durch Einführung von Warte-Etappen behoben werden.
Sobald die Wege in Etappen aufgegliedert sind, stellt sich ein Problem, das zu wiederkehrenden Diskussionen führt. Für viele Auswertungen muss nämlich ein Verkehrsmittel für einen Weg bestimmt werden. Dafür braucht es eine Prioritäten-Liste. Weltweit gilt hier fast überall dieselbe Reihenfolge: ÖV – Pkw – Fahrrad – Zu Fuß. Dies hat schon des Öfteren zu Diskussionen in der Automobil- wie auch der Fahrrad-Szene geführt. Man vermutete deutlich andere HVM-Werte, wenn der Pkw bzw. das Fahrrad an erster Stelle der Prioritäten-Liste gesetzt würden. Diese Sorge ist unbegründet. Da es so wenige Kombinationen der Verkehrsmittel ÖV, Pkw, Fahrrad bei einem Weg gibt, ist die Verkehrsmittelwahl nach HVM nahezu gleich, egal ob nach ÖV, Pkw oder Fahrrad gereiht wird.
Das einzige Verkehrsmittel, das bei der Bildung eines HVM echt benachteiligt wird, ist Zu Fuß. Allerdings würde eine Priorisierung der Fußwege bei der Bildung des HVM dazu führen, dass der Anteil der Wege mit ÖPNV oder als Pkw-Mitfahrer unter die 0,5 Prozentmarke sänke. Deshalb wird bei Erhebungen im Etappenformat die Verkehrsmittelwahl auch auf Etappenbasis ausgewiesen. Das ist genauer als nach allen genutzten Verkehrsmitteln (weil dort nicht erkennbar wäre, dass es in unserem Eingangsbeispiel zwei Fuß-Etappen gibt) und erlaubt es, bei Bedarf auch noch die Warte-Etappen mit aufzunehmen.
Jetzt erkennen wir, dass pro Weg 1,58 Verkehrsmittel genutzt werden und 1,81 bzw. 2,03 Etappen (ohne bzw. mit Warten) entstehen. Und wir sehen, dass fast jeder Weg (94 %) eine Fuß-Etappe enthält.
Bezogen auf alle Etappen (inkl. Warten) liegt der Anteil der Fuß-Etappen bei 57 %; es folgen Pkw-Fahrer (19 %) und ÖPNV (12 %) (s. rechts oben).
Die mit Abstand meisten Etappen pro Weg finden wir naturgemäß beim ÖPNV (5,24). Dabei werden im Schnitt 1,41 öffentlichen Verkehrsmittel genutzt und fast vier (3,74) Fuß-Etappen zurückgelegt. Auch bei den motorisierten Individualverkehrsmitteln liegt der Anteil der Fuß-Etappen relativ hoch (zwischen 0,54 und 0,62). Lediglich das Fahrrad wird häufig ohne weitere Fuß-Etappen genutzt.
Die Stadtbewohner(innen) in unserem Datenbestand sind im Schnitt 65 Minuten unterwegs, den größten Anteil davon Zu Fuß (reine Fußwege = 12 min; Fuß-Etappen = 9 min und Warten = 3 min). Dieser Wert übertrifft alle anderen Verkehrsmittel. Es folgen Pkw-Fahrten mit 20 und ÖPNV-Fahrten mit 9 Minuten. Der Anteil der Fahrrad-Fahrten und Fahrten als Mitfahrer ist noch geringer. Vor allem beim ÖPNV fällt aber auf, dass die nach HVM ermittelte Zeit (18 Minuten) genau doppelt so hoch ist, wie die tatsächliche in einem ÖPNV-Fahrzeug verbrachte (9 Minuten).
Hieraus ergibt sich eine einfache Faustregel, mit der man die tatsächlich zu Fuß verbrachte Zeit aus einer „klassischen“ Mobilitäts-Erhebung ableiten kann. Man muss nur die unter HVM ausgewiesene Zeit (in unserem Fall 12 Minuten) verdoppeln, um die gesamte Zeit für Zufußgehen, Fuß-Etappen und Warten zu erhalten.
Von dieser gesamten Zeit (24 Minuten = 200 %) entfällt etwa ein Viertel auf den ÖPNV (52 von 200 %) und etwa ein Achtel (25 von 200 %) wird mit „Warten“ zugebracht.
In krassen Gegensatz zu diesen Befunden stehen die Auswertungen, die die MiD zu Etappen anbietet. Dort wird das (wichtigste) Verkehrsmittel Zu Fuß ignoriert. Dadurch ergeben sich 86 % „ÖPV-Fahrten“, bei denen „nur ÖPV“ genutzt wird.
Dagegen zeigen unsere Auswertungen, dass 94 % aller ÖPNV-Fahrten mit den Verkehrsmitteln Zu Fuß verknüpft sind. Dieses Ergebnis gilt zwar nur für deutsche Städte, würde sich aber für Gesamt-Deutschland nur geringfügig ändern.
Dabei sind die hier dargestellten Etappen von sehr unterschiedlicher Natur (das kann beispielsweise ein kurzer Fußweg zum geparkten Auto sein, ein sehr viel längerer Fußweg zur S-Bahn oder das Warten beim Umstieg von Bus auf Straßenbahn). Diese Unterschiede werden auch deutlich, wenn wir die Geschwindigkeiten vergleichen, die bei den einzelnen Fuß-Etappen festgestellt werden können.
Die durchschnittlich ermittelte Geschwindigkeit über alle Fußwege und Fuß-Etappen liegt bei 3,7 km/h. Diesen Basiswert setzen wir gleich Hundert. Dann zeigt sich, dass reine Fußwege fast genau diesem Durchschnitt entsprechen (Index 101), dass am schnellsten auf dem Weg zur – oder von einer – ÖPNV-Haltestelle gegangen wird und dass die Eile offenbar geringer ist, wenn andere Verkehrsmittel erreicht werden sollen.
Bei einer genaueren Betrachtung der Fuß-Etappen zum oder vom ÖPNV ergeben sich weitere Unterschiede. Man kann diese Etappen gliedern danach ob sie von zu Hause weg oder nach Hause führen. Und man kann sie danach unterscheiden ob ihr Ziel eine Haltestelle oder ob die Haltestelle die Quelle ist. Zusätzlich gibt es natürlich auch Wege, die weder zu Hause beginnen noch dort enden („Zwischenwege“).
Dabei fällt auf, dass Wege zur Haltestelle immer schneller sind als von der Haltestelle (Ausnahme: Das Ziel ist zu Hause) und dass es dann besonders eilig ist, wenn wir von zu Hause zum ÖPNV oder (siehe oben) wieder nach Hause wollen.
Die vorliegende Auswertung hat gezeigt, dass es möglich ist, einen Etappenbestand aus einer klassischen Mobilitäts-Erhebung quasi zu simulieren, sofern in dieser Mobilitäts-Erhebung alle genutzten Verkehrsmittel valide erfasst sind.
Damit ergeben sich einige Kennziffern, die das Repertoire der bisher gebräuchlichen Standard-Kennziffern (z.B. 3,0 Wege pro Person/Tag) ergänzen können. Diesem Standard kann man hinzufügen: ca. zwei Etappen pro Weg, fünf - sechs Etappen pro Person/Tag und eine Fuß-Etappe pro Weg. Diese Werte steigen an, wenn in einer Stadt der ÖPNV-Anteil über dem hier zugrundeliegenden Wert (17 %) liegt, und sie sinken ab, wenn der ÖPNV-Anteil darunter liegt.
Ungeachtet dieser Konstellation zeigt sich aber durchgängig, dass bei den klassischen Mobilitätsauswertungen das Zufußgehen das „hauptsächlich vernachlässigte Verkehrsmittel“ ist.
Obwohl die eigenen Beine das einzige Verkehrsmittel sind, das jede(r) jederzeit nutzt und obwohl jeder weiß, dass ein Verkehrsmittel wie der ÖPNV ohne Fuß-Etappen gar nicht existieren könnte, findet diese Selbstverständlichkeit bei den gängigen Mobilitäts-Erhebungen wenig Berücksichtigung. Dieser Beitrag zeigt wie diesem Mangel ohne großen Aufwand begegnet werden könnte.
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2017, erschienen.
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Die Diskussion über ein nachhaltigeres Mobilitätsverhalten ist nach wie vor stark geprägt von Ideen zur Veränderung der Infrastruktur oder des ordnungspolitischen Rahmens. Große Potentiale, die bereits jetzt – ohne weitere Maßnahmen – erschlossen werden können, bleiben unbeachtet.
In der Mobilitätsplanung unterscheidet man die Maßnahmen, mit denen man das Verhalten beeinflussen möchte, in zwei Gruppen: Die sog. „hard policies“ sind Maßnahmen, die die externen Rahmenbedingungen des Mobilitätsverhaltens verändern, also vor allem Veränderungen der Infrastruktur (im weiteren Sinne) sowie ordnungspolitische oder fiskalische Maßnahmen. Dem stehen gegenüber die sog. „soft policies“, deren Ziel es ist, die internen Rahmenbedingungen des Mobilitätsverhaltens zu verändern, also beispielsweise Informations-, Awareness- oder Werbekampagnen. Dabei ist wichtig zu beachten, dass jegliche policy, ob hard oder soft, zunächst nur die Rahmenbedingungen, also die jeweiligen Verhaltenssituationen verändert und darauf hoffen muss, dass die betroffenen Menschen auch mit entsprechenden Verhaltensänderungen reagieren.
Valide Untersuchungen der subjektiven Verhaltenssituationen zeigen regelmäßig, dass unser Mobilitätsverhalten zu etwa gleichen Teilen bestimmt ist von externen wie von internen Faktoren. Das bedeutet, dass die Potentiale für hard und soft policies etwa gleich groß sind.
Diese Erkenntnis ist bedeutend, weil soft policies in aller Regel erheblich billiger sind als hard policies und sofort und flächendeckend eingesetzt werden können. Deshalb müsste man auch meinen, dass alle Verfechter einer nachhaltigen Mobilitätspolitik eine ganze Reihe von soft policy-Maßnahmen im Köcher haben. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Auch ernsthaft und engagiert geführte Diskussionen um eine nachhaltige Zukunft des Mobilitätsgeschehens sind stark dominiert von hard policy-Debatten und lassen die Potentiale für weiche Maßnahmen weitgehend außer Acht.
Wohin das führen kann, zeigt uns die Stadt Bend in Oregon. Das Fuß- und Fahrrad-Netz in Bend ist beispielhaft und weit über dem Standard amerikanischer, aber auch vieler europäischer Städte. Da verwundert es nicht, dass das amerikanische „Pedestrian and Bicycle Information Center (PBIC)“ die Stadt Bend 2013 mit einem Preis (Silver level) für „Walk Friendly Communities (WFC)“ ausgezeichnet hat (for „its success in working to improve a wide range of conditions related to walking, including safety, mobility access and comfort“). Dass dabei wieder nur die „hard policy-Brille” benutzt wurde, zeigt ein Blick auf die Verkehrsmittelwahl in Bend:
mobilogisch!-Leser erinnern sich vielleicht an unseren Beitrag „Das Verkehrsmittel Zu Fuß. Was wir (nicht) wissen.“ in der Ausgabe 4/14. Dort haben wir die Verkehrsmittelwahl im Winter gezeigt, mit anderen amerikanischen Städten verglichen und belegt, dass auch die vorbildlichste Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer automatisch zu einer nennenswerten Nutzung führt, wenn sie nicht durch – möglichst ebenso vorbildliche – soft policies begleitet wird. Diesmal haben wir die Sommer-Daten ergänzt. Die machen das Bild noch schlimmer (nur 8 % nichtmotorisierter Verkehr!). Und wenn man die Pkw-Fahrten untergliedert in Solo (fährt alleine) und Plus (mit Passagieren) findet man einen der höchsten „Solo-Werte“, den wir in unseren weltweiten Untersuchungen je gemessen haben.
Diese und viele andere Erfahrung(en) haben uns veranlasst, die Verlagerbarkeit von Pkw-Fahrten im bestehenden System (also ohne hard policies) zu ermitteln und daraus das Potential für reine soft policies zu bestimmen. Daran bestand großes Interesse vor allem im Ausland, insbesondere in Australien, Großbritannien und den USA. Der folgende Vergleich umfasst in Perth die Stadtteile Fremantle, Melville, South Perth und Victoria Park (= Australien); in England die Städte Exeter, Gloucester, St. Albans und Watford (= Europa) und die Städte Bellingham, Eugene, Portland und Salem (= USA).
In allen drei Kontinenten ist die ÖPNV- und vor allem die Fahrrad-Nutzung gering, der Anteil der Pkw-Fahrer dagegen (sehr) hoch. Dass das nicht so sein muss, zeigen die Potentiale (nur soft policies) gegenüber den Verkehrsmitteln des Umweltverbundes. Drei Viertel der Pkw-Fahrten in „Australien“ oder „Europa“ sind durch Sachzwänge an das Auto gebunden (z. B. schwere Gepäckstücke, Oma muss ins Krankenhaus etc.) oder haben keine angemessene Alternative; in Amerika liegt dieser Anteil bei fünf Sechstel.
Das bedeutet aber, dass ein Viertel bzw. ein Sechstel dieser Pkw-Fahrten durch soft policies erreichbar wäre. Und 3-5 % dieser Fahrten sind bereits heute „wahlfrei“, d. h. es gibt keinen „objektiven“ oder „subjektiven“ Grund gegen die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.
Wenn wir die gleichen Potentiale gegenüber dem Fahrrad betrachten, springen drei Dinge sofort ins Auge: Die Werte sind – trotz völlig unterschiedlicher Ausgangslage – praktisch identisch; der Anteil der Fahrten, bei denen das Fahrrad ausschließlich aus subjektiven Gründen nicht genutzt wird, ist weitgehend gleich mit dem korrespondierenden Anteil beim ÖPNV; der Anteil wahlfreier Fahrten ist aber deutlich höher und liegt durchwegs über 10 %.
Diese Fahrten zu gewinnen ist nicht so schwer, denn diese Menschen halten bereits jetzt das Fahrrad für eine – objektiv und subjektiv – gleichwertige Alternative. Wenn es gelänge nur 3 %-Punkte für das Fahrrad zu gewinnen (etwa ein Viertel aller Wahlfreien) würde der Fahrradverkehr in Australien um 150 % ansteigen, in England um 100 % und in Amerika um 75 %. Und der Pkw-Verkehr in Australien würde bereits um 5 % sinken, in England um sieben und in Amerika um fünf.
Am geringsten sind die (Pkw-) Potentiale für soft policies beim Verkehrsmittel Zu Fuß. Aber auch hier sind die Ergebnisse über drei Kontinente verblüffend ähnlich. Bei 8-11 % der Pkw-Fahrten erklärt sich die Verkehrsmittelwahl aus subjektiven Gründen gegen das Zufußgehen, bei 4-6 % herrscht bereits jetzt Wahlfreiheit.
Bereits jetzt können wir feststellen, dass es beachtliche Potentiale an Pkw-Fahrten gibt, die mit soft policies auf ein Verkehrsmittel des Umweltverbundes verlagert werden könnten. Darunter sind die Wahlfreien eine besonders leicht zu gewinnende Gruppe. Bei Pkw-Fahrten, die ausschließlich aus subjektiven Gründen die Alternativen nicht nutzen, lohnt es sich dagegen, diese subjektiven Gründe genauer anzusehen.
Dabei ist – und das ist lange bekannt – der wichtigste subjektive Grund gegenüber dem ÖPNV die fehlende Information über das real vorhandene Angebot (trotz moderner digitaler Möglichkeiten). Es folgt eine negative Einstellung gegenüber dem öffentlichen Verkehr („Akzeptanz“), die weit weniger leicht behoben werden kann als andere subjektive Gründe. Der dritte Aspekt („Zeit“) ist wieder ein klassischer subjektiver Grund, der leichter behebbar wäre. Denn alle Fahrten, bei denen die ÖPNV-Nutzung unangemessen lang gedauert hätte, sind schon bei „ohne Alternativen“ ausgeschlossen. In dem jetzt gezeigten Zusammenhang bedeutet „Zeit“ nur „subjektiv zu lang“. Nach wie vor wird die Reisezeit (= von Tür-zu-Tür) im ÖPNV über- und im Pkw unterschätzt. Wenn beide Reisezeiten real gleich lange sind, halten wir subjektiv den ÖPNV für deutlich langsamer (50-100 %). Das muss man nicht hinnehmen und das korrespondierende Potential würde eine Maßnahme mehr als rechtfertigen. Dagegen spielen die Kosten bei der Verkehrsmittelwahl eine weit geringere Rolle als oft vermutet.
Wenn wir dagegen die subjektiven Gründe ansehen, die gegen eine Fahrrad-Nutzung oder das Zufußgehen gesprochen haben, fällt ein Grund weg (Kosten) und zwei neue kommen hinzu (Kommunales Klima, Komfort). Es gibt diese neuen Gründe auch beim ÖPNV; dort sind sie aber zahlenmäßig so schwach ausgeprägt, dass wir sie unter „Andere“ subsumiert haben.
Zwar ist bei beiden Verkehrsmitteln die Einschätzung der Reisezeit noch immer der wichtigste subjektive Grund (eine Faustregel besagt, dass in beiden Fällen die alternative Reisezeit etwa doppelt so hoch geschätzt wird als sie wirklich ist), aber die Aspekte Komfort und kommunales Klima sind fast gleichbedeutend. Dabei ist Komfort sehr vielfältig, individuell und nicht immer leicht behebbar. Dagegen ist das kommunale Klima gut beeinflussbar und ein wichtiger Aspekt für nachhaltigere Mobilität.
In allen drei ausgewählten Gebieten wurde nicht nur das Mobilitätsverhalten untersucht und das Potential für Verhaltensänderungen abgeschätzt, sondern es wurden auch soft policies zur Verlagerung von Pkw-Fahrten auf Verkehrsmittel des Umweltverbundes eingesetzt. Das war in allen drei Fällen das sogenannte „Individualisierte Marketing („IndiMark“). Dabei werden alle Bewohner(innen) eines Gebietes persönlich angesprochen, motiviert, informiert und zu einem Umstieg auf die Verkehrsmittel des Umweltverbundes angeregt. Veränderungen an der Infrastruktur oder andere externe Maßnahmen sind dabei ausgeschlossen.
In allen drei Gebieten lag die Projektgröße für IndiMark bei etwa 100.000 Zielpersonen. In allen Fällen wurde das Verhalten vorher und nachher (mit Kontrollgruppe) untersucht (jeweils ca. 15.000 Personen).
Das Ergebnis war eindeutig: Über alle Gebiete zusammen wurde jede neunte Pkw-Fahrt (11 %) verlagert, in Australien und Europa sogar zwölf Prozent, in Amerika immerhin noch acht. Wirklich bemerkenswert ist aber der Beitrag der einzelnen Verkehrsmittel zu dieser Verlagerung. Der weitaus größte Teil der Pkw-Fahrten wird nämlich – durchgängig in allen drei Kontinenten – durch das Zufußgehen ersetzt (überall über 50 %!). Dagegen ersetzt der ÖPNV „nur“ zwei Prozent der Pkw-Fahrten. Auch das wäre schon eine Steigerung des ÖPNV um ein gutes Viertel in „Australien“, ein gutes Fünftel in „Europa“ und sogar zwei Drittel in „USA“ und damit wiederum eine Wirkung, die auch für viele „hard policy-Projekte“ nicht leicht erreichbar wäre. Aber die Wirkung bei Zu Fuß ist zwei bis dreimal höher.
Die Reduzierung von 11 % Pkw-Fahrten (über alle drei Gebiete) ist ein starker Beleg dafür, dass auch mit soft policies große Wirkungen erzielt werden können.
Dabei ist das Potential für soft policies bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Denn über alle drei Gebiete und gegenüber allen drei Verkehrsmitteln sind nur etwa die Hälfte aller Pkw-Fahrten durch Sachzwang oder mangelnde Alternative an das Auto gebunden. Bei einem knappen Drittel verhindern lediglich subjektive Gründe einen Verkehrsmittelwechsel und gut jede sechste Fahrt (18 %) ist für mindestens die Verkehrsmittel des Umweltverbundes wahlfrei.
Aus diesem Potential wurden mit einer spezifischen soft policy-Maßnahme 11 % gewonnen, nur ein knappes Viertel des gesamten subjektiven Potentials (48 %). Obwohl klar ist, dass es auch subjektive Gründe gibt, die man nur schwer entkräften kann, wird deutlich, dass ein gezielter Einsatz von soft policies noch sehr viel wirksamer sein könnte.
Und natürlich schließt die Fokussierung auf soft policies den Einsatz von hard policies nicht aus. Im Gegenteil: Die Integration beider Maßnahmen in ein Projekt wäre besonders erstrebenswert.
Ein eindrucksvolles Beispiel für die Wirkung solcher integrierter Marketingansätze findet sich in der Stadt Rockingham, etwa 60 km südlich von Perth. Hier wurde das ÖPNV-System wesentlich verbessert (Bau einer Lightrail-Linie). Die neue Linie wurde mit der üblichen Marketing- und Werbebegleitung eingeführt. Die gesamten Wirkungen sind unter „Systemverbesserung“ dargestellt: Ein deutlicher Anstieg der ÖPNV-Nutzung um 61 %, aber geringe Wirkungen bei den anderen Verkehrsmitteln.
Zusätzlich wurde aber ein IndiMark für den gesamten Umweltverbund durchgeführt. Die Steigerung der ÖPNV-Nachfrage hat sich dadurch fast verdoppelt (zusätzlich +52 %), aber jetzt zeigen sich auch deutliche Wirkungen bei den anderen Verkehrsmitteln (z. B. Pkw-Fahrer-Anteil um 8 % reduziert). Ergänzend hierzu wurde auch ein sog. „ActiveSmart“-Projekt getestet (siehe „Mit dem Auto ins Fitnessstudio oder zu Fuß zur Haltestelle?“, mobilogisch! 3/14). Dabei geht es darum, die Menschen zu einer aktiveren Lebensgestaltung anzuregen: Mehr Bewegung (Sport, Gartenarbeit etc.); mehr Kontakt zu Freunden/Nachbarn; Mitgliedschaft in Vereinen usw.. Von Verkehrsmittelwahl war dabei aber keine Rede. Dennoch haben sich auch hier ähnliche Wirkungen wie in den vorherigen Projekten ergeben. Und in der Gesamtschau sind die Veränderungen beeindruckend: Das Zufußgehen nimmt um ein Drittel zu, das Fahrradfahren steigt auf mehr als das Doppelte und der ÖPNV auf das Zweieinhalbfache. Und jede fünfte Fahrt mit dem Auto (21 %) wird auf andere Verkehrsmittel verlagert! Aber der Beitrag der hard policy – wenn es auch nur ein Verkehrsmittel betraf – verblasst deutlich.
Wer nachhaltiges Mobilitätsverhalten stärken will, der sollte zunächst die leicht erschließbaren Potentiale durch soft policies gewinnen. Und mit dem Rückenwind dieses Erfolges können dann auch hard policies besser begründet und wirkungsvoll umgesetzt werden.
Werner Brög „Dialog-Marketing mit Dialog“, Der Nahverkehr, 6/2016
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2017, erschienen.
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Die meisten Unfälle mit Radler/innen geschehen an Kreuzungen und Einmündungen. Was viele vom Radfahren, zumal vom Fahren auf der Fahrbahn, abhält, sind jedoch zu dicht überholende Kraftfahrzeuge.
Rechtlich regelt die Straßenverkehrsordnung den Abstand beim Überholen nur unscharf. § 5 Absatz 4 sagt dazu lediglich: „Beim Überholen muss ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere zu den zu Fuß Gehenden und zu den Rad Fahrenden, eingehalten werden.“ Doch was heißt ausreichend? Autofahrer/innen sehen das viel enger als Radfahrer/innen, jedenfalls dann, wenn sie nicht aus eigener Erfahrung wissen, dass man auf dem Rad allein durch den Luftzug eines Kraftfahrzeugs in Schlingern geraten kann. Sie denken dann, sie müssten die Radfahrer/innen erziehen, weil die ihrer Ansicht nach nicht weit genug rechts fahren. Erfahrene Radler/innen halten sich allerdings bewusst nicht ganz rechts, damit sie noch Platz zum Ausweichen haben.
Der Begriff „ausreichend“ musste also von Gerichten definiert werden. Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm sieht bis zu einer Geschwindigkeit von 90 Stundenkilometern einen Seitenabstand von mindestens 1,50 Meter als erforderlich an, bei höheren Geschwindigkeiten zwei Meter. Unter besonderen Bedingungen, beispielsweise an Steigungen, sollen ebenfalls zwei Meter gelten, entschied das OLG Frankfurt/Main. Auch Kinder im Kindersitz auf einem Fahrrad seien ein Grund für zwei Meter Abstand, entschied das OLG Karlsruhe. Das OLG Hamm bestimmte außerdem, dass auf sehr schmalen Straßen vom Überholen „entweder abgesehen oder die eigene Geschwindigkeit auf ein Maß herabgesetzt werden“ solle, das eine Gefährdung ausschließt. Der Bundesgerichtshof urteilte vor 50 Jahren, dass ein Fahrzeugführer gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt, wenn der Überholte erschrickt und dadurch beim Fahren einen Fehler macht. Dann sei der Abstand zu gering gewesen, was als Nötigung oder Gefährdung des Straßenverkehrs geahndet werden könne. Merke: Jederzeit überholen zu können ist kein Grundrecht.
International gibt es andere, teils bessere Regelungen. In Österreich wird zum Beispiel kein konkreter Seitenabstand vorgegeben, aber das Kraftfahrzeug muss beim Überholen die Spur wechseln. In Frankreich gibt es konkrete Vorschriften für den Abstand: innerorts mindestens ein Meter, außerorts mindestens 1,50 Meter. Spanien fordert lediglich, dass beim Überholen der linke Fahrstreifen mitbenutzt wird. In Großbritannien muss Radfahrer/innen ähnlich viel Platz eingeräumt werden wie Kraftfahrzeugen. Das führt zwangsläufig dazu, dass die Gegenfahrbahn benutzt wird und dass bei Gegenverkehr nicht überholt werden kann.
Die aktuellen Regelwerke der Forschungsgesellschaft für Straßenwesen, die den Radverkehr betreffen, sehen zum Schutz der Radfahrer/innen Markierungen auf der Fahrbahn vor. Auch hier ist der Abstand zu parkenden Kraftfahrzeugen wichtig.
Schutz- oder Angebotsstreifen dürfen Kraftfahrzeuge bei Bedarf befahren, wenn sie Radfahrer/innen dabei nicht gefährden. Schutzstreifen sind gewöhnlich dort, wo der Platz für einen Radfahrstreifen nicht reicht. Die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) sehen 1,50 Meter breite Schutzstreifen vor, ausnahmsweise 1,25 Meter. Der in der Regel nicht markierte Sicherheitsraum zwischen dem Streifen und längs parkenden Autos beträgt 0,25 bis 0,5 Meter. Da Parkstreifen normalerweise zwei Meter breit sind, dürfte der Sicherheitsraum angesichts der immer breiteren Autos, insbesondere der SUV, allerdings immer öfter von Kraftfahrzeugen belegt sein.
Nach Ansicht des ADFC Nordrhein-Westfalen bewirken Schutzstreifen rechtlich und praktisch zu geringe seitliche Abstände, da sie Kraftfahrer/innen verleiten, die Markierung als Orientierungshilfe zu nutzen, egal, ob sich neben ihnen gerade ein Radfahrer befindet oder nicht. Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) bezeichnet dieses Problem als Leitlinieneffekt.
Radfahrstreifen sind benutzungspflichtige Sonderwege für Radfahrer/innen und dürfen von Kraftfahrzeugen nicht befahren werden. Da sie rechtlich kein Teil der Fahrbahn sind, wird man hier, juristisch gesehen, nicht überholt; hier greift vielmehr das Gebot der Rücksichtnahme. Radfahrstreifen haben zu parkenden Kraftfahrzeugen einen Sicherheitstrennstreifen von 0,5 bis 0,75 Meter und ein Regelmaß von 1,85 Meter. Sind sie breiter, verlockt das manche Autofahrer/innen, sie zu befahren - ein weiteres Problem neben dem Falschparken. Dieses Dilemma kann durch Markierungen nicht gelöst werden.
Die Werte in den Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt) und den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen stimmen, was Sicherheitsräume betrifft, nicht immer mit der aktuellen Rechtsprechung überein. So gibt die RASt zwischen fahrenden Kraftfahrzeugen und Radfahrer/innen einen seitlichen Abstand von 0,75 Metern vor. Das steht deutlich im Konflikt mit den oben genannten Urteilen der OLG Hamm, Frankfurt/Main und Karlsruhe, nach denen der erforderliche Abstand zwischen 1,50 Meter und 2,00 Meter liegt. Auch als Sicherheitsabstand zu parkenden Fahrzeugen gibt die RASt 0,75 Meter vor. Das entspricht einer schmalen Tür und liegt unter den 0,80 bis 1,60 Metern, die das Landgericht Berlin und das OLG Karlsruhe für angemessen halten. Ist ein Schutzstreifen entlang des Parkstreifens schmaler als, er nach Ansicht der Gerichte sein müsste, befinden sich Radfahrer/innen, die ihn benutzen, in einer rechtlichen Grauzone.
Dass der Sicherheitsabstand zu parkenden Autos wichtig ist, zeigt auch eine Studie des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft: Bei sieben Prozent aller Unfälle zwischen Auto- und Radfahrer/innen prallt das Rad gegen eine sich öffnende Autotür. Bei etwa jedem fünften dieser Unfälle wird der Radfahrer oder die Radfahrerin schwer verletzt . Meist sind es Kopfverletzungen und Verletzungen der Beine (je 40 Prozent).(2) Die Studie empfiehlt, neben Radfahr- oder Schutzstreifen keine Parkflächen auszuweisen. Das lässt sich heutzutage jedoch kaum noch durchsetzen.
Im vergangenen Jahr hat ein Diplomand der TU Dresden mit einer Videokamera aufgezeichnet, welchen seitlichen Abstand zu Radfahrer/innen Kfz-Fahrer/innen tatsächlich einhalten. Außerdem untersuchte er, welche Faktoren den Abstand beeinflussen.(1) Ergebnisse:
Gegenverkehr ist also der größte Einflussfaktor, dicht gefolgt von Schutzstreifenbreite und Lkw-Anteil. Ob Radfahrer/innen eine Warnweste tragen oder nicht, spielt für den Abstand praktisch keine Rolle, ebenso wenig die Geschwindigkeit der Kraftfahrzeuge.
Insgesamt zeigte sich, dass Kraftfahrzeugfahrer/innen häufig zu wenig Sicherheitsabstand lassen. Doch auch wenn es manchmal bedenklich knapp ist, beträgt der durchschnittliche Abstand beim Überholen immerhin etwa 1,30 Meter.
Auch alle nationalen Untersuchungen haben unabhängig voneinander ergeben, dass der von Gerichten geforderte seitliche Abstand beim Überholen regelmäßig unterschritten wird. Ebenso ist belegt, dass der Abstand bei Gegenverkehr schrumpft. Bei der Frage, ob die Fahrbahnbreite einen Einfluss hat, sind sich die Untersuchungen uneinig.
Fahren Radfahrer/innen trotz Radweg auf der Fahrbahn,schrumpft der Sicherheitsabstand ebenfalls, selbst wenn der Radweg nicht benutzungspflichtig ist. Schutzstreifen bewirken nach Erkenntnissen der BASt, dass Kraftfahrzeuge langsamer fahren. Fahrradhelme führen auch in der BASt-Studie zu geringeren Abständen.
Internationale Untersuchungen kommen zu ähnlichen, aber auch zu abweichenden Erkenntnissen. Die Wirkung eines Fahrradhelms hat nur eine Studie untersucht und mit Helm geringere Abstände gefunden. Die Bekleidung der Radler/innen hat keinen Einfluss auf den Abstand. Einzige Ausnahme: Radler/innen in Polizeiuniform. Unterschiedliche Ergebnisse liefern die Untersuchungen, wo es um den Abstand der Radfahrer/innen vom Fahrbahnrand geht. Nach der einen Studie überholen Kraftfahrzeuge mit desto geringerem Abstand, je weiter die Radfahrer/innen in der Mitte fahren. Eine andere Studie fand genau das Gegenteil heraus. Laut einer dritten Studie wächst der seitliche Abstand, je langsamer die Kraftfahrzeuge sind.
Im Mittel liegt der seitliche Abstand also bei 1,30 Meter. Ist es da wirklich kleinlich, wenn Radfahrer/innen, darauf verweisen, dass ihnen 20 bis 70 Zentimeter fehlen? Abgesehen davon, dass ein Mittelwert dem Einzelnen nicht hilft, wenn er gerade mit einem halben Meter Abstand überholt wird, haben Radler/innen, die grundsätzlich dicht am Fahrbahnrand oder an parkenden Kraftfahrzeugen vorbeifahren, kaum eine Möglichkeit, Fehler der Autofahrer/innen selbst auszugleichen. Zu bedenken ist auch , dass nicht nur parkende Autos immer breiter werden. sondern auch fahrende. Die in den Richtlinien geforderten Maße für Kernfahrbahnen sind in der Praxis längst überholt.
Da realistischerweise nicht damit zu rechnen ist, dass Autos auf absehbare Zeit wieder kleiner werden, müssen die Regeln klarer und deutlich besser werden. Fahrer-Assistenz-Systeme, die den Seitenabstand automatisch einhalten, müssen zur Pflicht werden. Für Kraftfahrzeuge ohne die neue Technik muss gelten: Wer überholt, muss die Spur wechseln. Dabei würde es helfen, wenn das Nebeneinanderradeln grundsätzlich erlaubt wäre.
Der Beitrag gibt einen Überblick über die rechtlichen Vorschriften zum seitlichen Sicherheitsabstand, den Kraftfahrzeuge beim Überholen von Radler/innen einhalten müssen und über die verkehrsplanerische Situation. Außerdem beschreibt er, wie groß dieser Sicherheitsabstand tatsächlich ist und wovon das abhängt.
(1) Dieser Beitrag stützt sich überwiegend auf die Diplomarbeit von Ralf Langer: Seitlicher Überholabstand von Radfahrern durch den motorisierten Verkehr – Empirische Analyse mit Hilfe von Kameradaten, Dresden, 2016, Diplomarbeit an der TU Dresden. Download unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-216589
(2) Unfallforschung der Versicherer: Pkw Heck- und Seitenkollisionen mit Fußgängern und Radfahrern, Berlin 2017
Stefan Lieb: Das Überholen von Radfahrern überholen, mobilogisch 2/12.
ADFC NRW: Schutzstreifen auf der Fahrbahn, 2016, www.adfc-nrw.de, 9/2017 nicht mehr dort gefunden
Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt): Führung des Radverkehrs im Mischverkehr auf innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen. In: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Verkehrstechnik, 2015, Heft V 257
Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2017, erschienen.
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Wie hängt die objektive Sicherheit, die sich z. B. (begrenzt) in Unfallstatistiken zeigt, mit der subjektiven, der gefühlten Sicherheit zusammen? Hängen sie überhaupt zusammen? Wie realistisch kann der Mensch ein Risiko einschätzen?
Im Jahr 2013 sammelte der Senat von Berlin über die Website radsicherheit.berlin.de (nicht mehr im Netz) Hinweise von Radler/innen, an welchen Stellen der Stadt sie sich unsicher fühlten. Das Interesse war groß: Mehr als 5.000 Hinweise gingen ein, worauf sich 4.000 Kommentare zusätzlich bezogen. Wie sollte die Berliner Straßenverwaltung damit umgehen? In einer Präsentation für den Radverkehrsbeirat des Berliner Senats wurde das so zusammengefasst: „Subjektive Rückmeldungen sind wichtige Ansatzpunkte für künftige Maßnahmen, gerade in Ergänzung zu den statistischen Unfallschwerpunkten. Wichtig! Klare Kommunikation: Konkrete Maßnahmenschwerpunkte weiterhin prioritär an den objektiven Unfallschwerpunkten orientiert!“
Etwa 40 Prozent der Hinweise bezogen sich auf das Abbiegen. Abbiegeunfälle sind laut Unfallstatistik Berlin tatsächlich die häufigsten Unfälle - die Befragten hatten den richtigen Riecher. Das nennt man Schwarmintelligenz. Die Stellen, an denen die Befragten sich unsicher fühlten, waren jedoch oft nicht die Unfallschwerpunkte auf der Unfallsteckkarte der Polizei.
Die fehlende Deckungsgleiche kann verschiedene Ursachen haben. Eventuell haben sich an der Befragung die „falschen“ Radler/innen beteiligt. Das Ergebnis der Befragung ist nicht repräsentativ. An den Unfallschwerpunkten aus der Statistik sind höchstwahrscheinlich genau die Radler/innen verunglückt, die sich kaum Gedanken um Verkehrssicherheit machen. Wer solche Umfragen beantwortet, ist andererseits vermutlich ein risikobewusster Mensch, der sich an den als unsicher empfundenen Orten vorsichtig verhält und deswegen dort nicht verunglückt.
In einer Studie hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV auch das Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Sicherheit bei älteren Berlinerinnen und Berlinern untersucht.(1) Demnach fühlte sich mehr als jeder vierte ältere Radfahrer und jede siebte ältere Fußgängerin im Verkehr unsicher beziehungsweise sehr unsicher. Von den älteren Pkw-Fahrer/innen fühlte sich nur jede/r 33. unsicher. Die Antworten wurden mit der Unfallstatistik verglichen, die zeigt, mit welchem Verkehrsmittel Ältere verunglücken. Wenn man davon absieht, dass bei dieser Gegenüberstellung der Modal Split ebenso wenig berücksichtigt wird wie die Zeit, die ältere Leute unterwegs sind, ergab der Vergleich folgendes Bild:
Radfahrer/innen schätzten ihr Unfallrisiko etwas zu hoch, aber immer noch am realistischsten ein. Jede/r elfte Nutzer/in öffentlicher Verkehrsmittel fühlte sich unsicher; tatsächlich gibt es hier jedoch die wenigsten Unfälle - nur jede/r 100. verunglückt mit Bus oder Bahn. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass die Berichterstattung über Gewalttaten in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Gefühl beigetragen hat, dass Bus- oder Bahnfahren gefährlich ist.
In der Befragung fühlten sich die Fußgänger/innen nur halb so unsicher, wie sie sich laut Statistik fühlen müssten. Am krassesten war die Fehleinschätzung bei den Autofahrer/innen: Sie schätzten ihr Unfallrisiko um den Faktor 15 zu niedrig ein.
Radler/innen nannten zu 75 Prozent das Fahren auf Hauptverkehrsstraßen ohne Radweg oder Radfahrstreifen sowie zu 56 Prozent das Linksabbiegen. Während die Unfallstatistik beim Radeln auf der Fahrbahn keinen Unfallschwerpunkt erkennt, schätzten die Radler/innen das Linksabbiegen völlig realistisch als riskantes Verkehrsmanöver ein.
Zwei von drei Fußgänger/innen fühlen sich unsicher, wenn Radfahrer/innen den Gehweg mitbenutzen, rund die Hälfte hat Angst, eine Kreuzung ohne Ampel zu queren. Fast genauso viele Ältere fühlen sich bei Falschparkern auf Gehwegen unsicher. Während die Befragten bezüglich der Fahrbahnquerung ohne Querungshilfe das Risiko laut Unfallstatistik adäquat einschätzten, konnten zum Problem Radfahrer und Pkw auf Gehwegen keine Daten erhoben werden. Man darf aber annehmen, dass sie das Unfallrisiko überschätzt haben, weil ihnen falsch parkende Fahrzeuge im Weg sind und hautnaher Kontakt mit Radler/innen Angst macht.
Die Hälfte der befragten älteren Fußgänger/innen fühlte sich übrigens beim Queren von Fahrbahnen mit Straßenbahngleisen unsicher. An diesem Beispiel lässt sich gut zeigen, wie Erfahrung das Risikoempfinden beeinflusst. Das Gefühl der Unsicherheit war bei Senior/innen im Westteil Berlins deutlich größer. Im Jahr der Befragung (2010) gab es jedoch praktisch keine Tramstrecke im Westteil der Stadt, während Ostberliner/innen schon jahrelange Erfahrung mit der Tram hatten.
Nichtmotorisierte vermeiden im Allgemeinen folgende Situationen:
- glatte, rutschige Wege
- Dunkelheit
- Strecken mit hohem Lkw-Anteil
- Geh- und Fahrbahnen schlechter Qualität
Während sich die beiden letzten Probleme mit einer anderen Route vermeiden lassen, führen die beiden ersten nicht selten dazu, dass man sich gar nicht erst auf den Weg macht.
Drei weitere Befunde der Studie, unabhängig von der Art der Verkehrsteilnahme:
Was bedeutet das für die Verkehrssicherheitsarbeit? Wie sollte man mit subjektiven Sicherheitsäußerungen umgehen? Wie sind diese für die objektive Verkehrssicherheit nutzbar zu machen? Kann man subjektive Einschätzungen mit objektiven Erkenntnissen verknüpfen? Wir würden gerne Ihre Meinung und ihre Erkenntnisse erfahren.
(1) Unfallforschung der Versicherer GDV (Hrsg.)/ Emmanuel Bakaba, Jörg Ortlepp: Verbesserung der Verkehrssicherheit älterer Verkehrsteilnehmer, Berlin, 2010. Download unter www.udv.de
Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2017, erschienen.
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