Fragt man Verantwortliche aus Schule, Kommunalverwaltung oder der Polizei, wer früher regelmäßig von den Eltern mit dem Auto zur Grundschule gefahren worden ist, bricht nicht selten ein Gelächter aus. Selbstverständlich kamen die Kinder zu Fuß, mit dem Rad oder auf dem Land mit dem Bus zur Grundschule. Autofahrten waren die Ausnahme. Dabei gelten selbstständig bewältigte Schulwege von Kindern als gesundheits-, entwicklungs- und lernfördernd und liefern auch einen Beitrag zur Verkehrssicherheit, denn die Kinder gewinnen wichtige Erfahrungen als „Verkehrsteilnehmer“. Außerdem hat wohl jedes Kind früher spannende oder prägende Geschichten erlebt oder einen „Schatz“ auf dem Schulweg gefunden. Der Schulweg ist offenkundig mehr als nur eine Ortsveränderung, er ist eine wertvolle Phase in der Entwicklung von Grundschulkindern, den es zu erhalten gilt.
Seit Jahren steigt der Anteil der Kinder, die mit dem Auto zur Grundschule kommen. Durchschnittlich 33 % der Kinder kommen bei mäßiger Witterung regelmäßig mit dem Auto zur Grundschule.(1) Dabei kann der Elterntaxianteil regional und örtlich von Schule zu Schule zwischen 3 % und 70 % schwanken. Freie Schulwahl, hohe Kfz-Verfügbarkeit, veränderte Erwerbsbiografien, Zeitdruck in den Familien, Sorge der Eltern vor Verkehrsunfällen oder Sorge vor Kriminalität können zunehmende Hol- und Bringverkehre begünstigen.
Häufig unterschätzt oder unbekannt ist das Dunkelfeld von Kinderunfällen auf dem Weg zur Grundschule. Während die polizeiliche Unfallstatistik im Schnitt von etwa 2,7 Kinderunfällen der 6- bis 9-Jährigen pro 1.000 Kindern in der Altersgruppe ausgeht, sind es in der Statistik, die die Träger der Unfallversicherungen führen, in der Grundschule bereits 5,63 meldepflichtige Schulwegunfälle pro 1.000 versicherte Grundschüler. Eigene Statistiken auf Basis von Elternbefragungen an knapp 100 Grundschulen bundesweit mit über 10.000 befragten Eltern bzw. Kindern zu Schulwegunfällen haben gezeigt, dass von einem höheren Kinderunfallgeschehen ausgegangen werden muss, als es aus den amtlichen Unfallstatistiken ablesbar ist. Die Befragungsergebnisse ergaben einen Wert von 10,14 verunfallten Kindern auf Schulwegen pro 1.000 Kinder, die aufgrund des Unfalls einen Arzt aufsuchen mussten.
Appellative Ansprachen an die Eltern, repressive Maßnahmen durch Ordnungsämter und Polizei gehören zum Standardrepertoire zur Eindämmung von Elterntaxis vor den Schulen. Der jährliche Elternbrief der Schulleitung, der Elternabend mit „Ermahnungen“ der Eltern, das Ordnungsamt, das regelmäßig patrouillieren soll oder der Schwerpunkteinsatz des örtlichen Verkehrsbeamten, der die Einhaltung der Verkehrsregeln durchsetzen soll, sind Alltag an deutschen Grundschulen. Erheblicher Personaleinsatz, Frust bei allen Beteiligten und in der Regel eine geringe und nicht nachhaltige Verbesserung der Situation sind häufig das Ergebnis.
Man muss schulische Mobilität verstehen, um sie verändern zu können. Zu den Erfolgsfaktoren für mehr Freude am zu Fuß gehen und damit weniger Hol- und Bringverkehr vor den Schulen gehören drei Schlüsselkriterien, die in Kombination erfüllt sein sollen (MAS-Kriterien):
Um dies erreichen zu können, ist das 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“ entwickelt worden. Hierzu gehören folgende Bausteine:
Dieses 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“ wurde als methodisches Gesamtkonzept erstmalig 2014 durch die Autoren erfolgreich in NRW umgesetzt.(5)
Zur Umsetzung des 3-Säulen-Modells sind folgende 12 Schritte zu empfehlen:
Dass der oben beschriebene Projektansatz erfolgreich umgesetzt werden kann, es aber auch Grenzen der Wirksamkeit des Konzeptes gibt, zeigen die im Folgenden dargestellten Ergebnisse. In den Jahren 2016 und 2017 wurde das 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“ an der Andreasschule in Essen umgesetzt. Im Juni 2017 fand die Einweihung von zwei Hol- und Bringzonen an dieser Schule statt. Die Standorte der Hol– und Bringzonen wurden mit einem besonderen nichtamtlichen Verkehrszeichen „Hol- und Bringzone“ beschildert (s. Titelfoto dieser Ausgabe). Zur Verbesserung der Schulwege setzte die Stadt Essen verschiedene Verkehrssicherheitsmaßnahmen um (z.B. Verbesserung von Sichtbeziehungen). Im Herbst 2017 konnten die Eltern der Kinder an der Andreasschule im Rahmen einer schriftlichen Befragung über ihre Erfahrungen mit dem umgesetzten Projekt berichten. Ausgewählte Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt.
Das Konzept, Eltern eine Haltemöglichkeit abseits der Schule anzubieten, um die Fußwege und die Verkehrssicherheit vor der Schule zu erhöhen, wird akzeptiert. Mit über 90 % der Antworten wird das Projektkonzept sehr positiv bewertet (ohne Abbildung). Nur rund 7 % der Eltern bewerten das Projekt kritisch.
Eltern empfehlen gut geplante Hol- und Bringzonen auch anderen Eltern. Ein hohes Maß an Zustimmung ist Voraussetzung für die Akzeptanz der Elternhaltestellen. Am Beispiel der Andreasschule in Essen konnte im Rahmen der Elternbefragung eine Weiterempfehlungsabsicht von über 90 % erreicht werden (ohne Abb.).
Ein zentrales Ziel ist die Förderung von Fußwegen der Kinder und eine Reduzierung der Elterntaxi-Verkehre zur Schule. Im Rahmen des Projektes erfolgte daher ein Vorher-Nachher-Vergleich des Mobilitätsverhaltens im Sommer und im Winter bzw. für gutes und für schlechtes Wetter (Abb. 1 und Abb. 2). Die Befragung der Eltern ergab, dass sowohl im Sommer als auch im Winter der Anteil an Fußwegen um rund 20 % gesteigert werden konnte und sich die Elterntaxis vor den Schulen im Sommer oder bei gutem Wetter nahezu halbiert haben. Auch im Winter oder bei schlechtem Wetter sanken die Elterntaxi-Verkehre und stiegen die Fußwege von Kindern im Vergleich zur Vorher-Situation an. Der Vorher/Nachher-Vergleich zeigt, dass der Anteil von zu Fuß gehenden Kindern von rund 56 % auf rund 77 % gestiegen ist (+21 % Fußgänger). Die Elterntaxi-Verkehre sind von rund 37 % auf rund 20 % gesunken (-17 %). Damit verursachen erheblich weniger elterliche Bringverkehre vor der Schule die typischen problematischen Situationen.
Mehr zu Fuß gehende Kinder und weniger Eltern mit Autos vor der Schule wirken sich positiv auf die subjektiv wahrgenommene Verkehrssicherheitssituation aus. 85 % der Eltern gaben an, dass sich die Verkehrssituation vor der Schule im Vergleich zur Situation vor der Einrichtung der Elternhaltestellen verbessert hat. Ein kleiner Anteil von 15 % der befragten Eltern kann keine Verbesserung erkennen (ohne Abb.).
Elterntaxiverkehr zu managen ist eine relativ komplexe Aufgabenstellung. Die tradierten appellativen und repressiven Lösungsansätze sind in der Praxis überwiegend gescheitert und aufgrund des hohen Personalaufwandes unwirtschaftlich.
Das Programm „Mehr Freude am Gehen“ funktioniert mit guter Wirksamkeit, wenn die drei erforderlichen Projektbestandteile konsequent umgesetzt werden. 20 % mehr Fußgänger und eine Halbierung der Elterntaxiverkehre sind bei überschaubarem Aufwand realistisch möglich.
Der „sichere Schulweg“ ist dabei die entscheidende Ausgangsgröße für den Projekterfolg und bildet die Basisanforderung insbesondere für die Eltern. Der sichere Schulweg ist dadurch definiert, dass die Kinder die Schulwege selbstständig mit ihren jeweiligen Kompetenzen unbegleitet bewältigen können. Die Abwesenheit von amtlichen Unfalldaten reicht nicht aus, um einen „sicheren Schulweg“ zu definieren. Es gilt im Schulumfeld eine altersangemessene, kompetenzorientierte Verkehrsplanung konsequent umzusetzen.
Hilfreich ist es, politische Beschlüsse für die Durchführung des Projektes zu erwirken. Dies erleichtert hinterher ggf. die Umsetzung erforderlicher Maßnahmen für die Schulwegsicherung. Voraussetzung für ein erfolgreiches Konzept ist die Bereitschaft der Kommune und der Schule zur Mitwirkung.
Empfehlenswert ist es, für Kommunen ein eigenes Leitbild für eine kinderfreundliche Verkehrsplanung zu entwickeln, das sich intensiver an den Kompetenzen der Kinder orientiert.
Bei der Umsetzung der Projekte an Schulen sollten ggf. vorhandene Einflüsse durch Kitas oder weiterführende Schulen frühzeitig konzeptionell berücksichtigt werden. Insbesondere an weiterführenden Schulen ist zusätzlich mit großen Mengen an Elterntaxis zu rechnen.
Die Empfehlung einer durchschnittlichen Entfernung der Hol- und Bringzone von ca. 250 – 300 Metern abseits der Schule sollte eingehalten werden, da sowohl deutliche Unterschreitungen als auch Überschreitungen negativ bewertet werden.
Unverzichtbar ist auch die kontinuierliche pädagogische Arbeit in der Schule. Die motivierende Arbeit in den Schulen sollte fester Bestandteil des Gesamtkonzeptes im Rahmen der schulischen Mobilitätsbildung sein.
Unter ungünstigen verkehrlichen Rahmenbedingungen im Schulquartier kann es erforderlich sein, für dieses Quartier eine Gesamtverkehrsplanung zu entwickeln. Hier ist dann das 3-Säulen-Modell um eine weitere Säule einer integrierten Gesamtverkehrsplanung im Quartier zu erweitern.
Den Kommunen und Schulen kann empfohlen werden, zunächst ein Schulisches Mobilitätsmanagement im Sinne des hier vorgestellten 3-Säulen-Modells konsequent umzusetzen, um die Elterntaxi-Probleme im Umfeld der Schulen wirksam zu reduzieren.
Aufgrund der Komplexität der Aufgabenstellung ist es hilfreich, Entscheider und Mitarbeiter von Verwaltungen, Polizei, Kommunen und auch von Schulen im vorgestellten 3-Säulen-Modell fortzubilden, um ein gemeinsames Verständnis für die hier vorgestellte, erfolgreiche Lösungsstrategie zu entwickeln.
(1) Leven J., Leven T. (2018): Schulisches Mobilitätsverhalten von Grundschülern in Deutschland. Analyse von Mobilitätsbefragungen von 10.276 befragten Eltern an 93 Grundschulen in 25 deutschen Kommunen. Stand April 2018
(2) Leven J., Leven T. (2017): Sichere Räume, sichere Wege - Leitbild Wohlfühlmobilität, https://vm.baden-wuerttemberg.de
(3) Baker-Price, A. (2015): Verkehrszähmer Leitfaden. Verfügbar unter: www.zukunftsnetz-mobilitaet.nrw.de
(4) Meine, A.; Gottmann, T. (2018): Die Fußgänger-Profis – Unterrichtsmaterialien zur Mobilitätsbildung in den Jahrgängen 1 bis 3 der Grundschule. Verfügbar unter: www.nibis.de
(5) https://dosys01.digistadtdo.de www.verkehrswachthessen.de
(6) Winkler, R.; Leven, T.; Leven, J.; Beyen, M.; Gerlach, J. (2015): Das Elterntaxi an Grundschulen – Ein Leitfaden für die Praxis. ADAC e. V. München, 2015. In Kürze erscheint die 3. überarbeitete und ergänzte Auflage.
Dieser Artikel von Tanja und Jens Leven ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2018, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
Wer kennt das nicht: Plötzlich endet der Radweg und es bleibt nur die Wahl, sich entweder auf die vierspurige Schnellstraße zu wagen oder aber auf den Gehweg auszuweichen – sehr zum berechtigten Ärger der Fußgänger*innen. Oder als solcher ist man kaum losgegangen, da wird die Fußgängerampel schon wieder rot, und die Straße kann gar nicht in einer Ampelphase überquert werden? Hat man es dann erstmal geschafft, ist gar nicht daran zu denken, auf dem Fußweg entspannt nebeneinander zu laufen, da dieser größtenteils von parkenden Fahrzeugen eingenommen wird?
Im Straßenraum hat der motorisierte Verkehr heute noch Vorrang – und das im doppelten Sinne: Zum einen nimmt er wesentlich mehr Fläche ein und zum anderen genießt er in vielerlei Hinsicht rechtliche Privilegien. Das Problem dabei: Wir haben uns daran gewöhnt und es im Großen und Ganzen akzeptiert.
Gleichzeitig scheint es zumindest an den Universitäten und in der medialen Berichterstattung langsam aber sicher durchzusickern, dass wir ein Umdenken brauchen. Unsere öffentlichen Räume sollen nicht länger nur als Verkehrsräume für den motorisierten Individualverkehr verstanden werden, sondern vielmehr als ein wertvoller „Lebensraum“ für vielfältige und nachhaltige Städte. Sie stellen einerseits sichere Möglichkeiten für umweltfreundliche Verkehrsmittel zur Verfügung und bieten gleichzeitig Raum für das städtische Leben und den städtischen Austausch. Gelungene Beispiele für Veränderungen und für die Rückeroberung der Straße ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und kreieren in mancherlei Hinsicht ein Bild, dass dieses Umdenken bereits stattgefunden habe. Die meisten Räume, Planungsdiskurse und tatsächlichen Planungen orientieren sich jedoch weiterhin an alten Paradigmen.
Sind die anfangs beschriebenen Situationen also alles nur noch Überreste alter Planungen? Planen wir heute anders, wird also die Stadt in 30 Jahren anders aussehen? Und wie können wir heute Veränderungen bewirken?
Von diesen Überlegungen ausgehend entstand an der TU Berlin ein selbstbestimmtes Masterprojekt von sechs Studierenden der Stadt- und Regionalplanung. Betreut wurde das Projekt von Susanne Thomaier, wobei sowohl Fragestellung und Methodik selbst definiert und die Arbeitsprozesse selbst organisiert wurden.
Motivation für das Projekt war unsere Überzeugung, dass der öffentliche Raum vielfältige Funktionen erfüllen, er ein Ort der Kommunikation, des Verweilens, der nachhaltigen und sicheren Fortbewegung, des politischen Ausdrucks und des Wohlfühlens sein kann.
Mit der Umsetzung des Projekts wollen wir die jetzigen Hindernisse für eine andere Straßenplanung verstehen, das Problembewusstsein forcieren und der gesellschaftlichen Relevanz des Themas mit praxisorientierten Maßnahmenvorschlägen begegnen – in Kooperation und am Beispiel des Berliner Bezirks Pankow, aber durchaus mit allgemeingültigem Anspruch. Dabei ging es sowohl um Aspekte der Gestaltung als auch um das Verstehen politischer Prozesse.
Mithilfe von Literatur, eigener Bestandsanalysen und Vor-Ort-Befragungen sowie eines Experten-Interviews wurden heutige Straßenräume und jetzige Planungsprozesse analysiert. Eine Herausforderung stellte dabei die Vielfalt der Straßenräume und deren unterschiedliche Funktionen im gesamtstädtischen Kontext sowie deren Bedeutung für die Bewohner*innen dar. Um diese Diversität nutzen zu können, wurde eine Typologie von Straßenräumen entwickelt, die sich nicht hauptsächlich nach Verkehrsstärke, Verbindungsfunktion oder weiteren auf den motorisierten Verkehr bezogene Kriterien richtet, sondern die Frage nach der Aufenthaltsfunktion bzw. -potenzials an die erste Stelle rückt. Erst in einem zweiten Schritt folgt eine Einordnung nach Größe und Verkehrsstärke. Durch diese Klassifizierung wird die stadträumliche Funktion in den Fokus gerückt.
Entsprechend der Typologie wurde ein umfassender Maßnahmenkatalog zur Gestaltung lebenswerter Straßenräume erarbeitet. Dieser stellt in sieben Themenfeldern (Wahrnehmung, Aufenthalt und Spiel, Stadtökologie, Reduktion des Kfz-Verkehrs, Fußverkehr, Radverkehr, öffentlicher Verkehr) über 300 verschiedene Maßnahmen zusammen. Jede Maßnahme ist unter anderem sortiert nach der Maßstabsebene, nach Zeithorizonten und Kostenrahmen. Besonders an diesem Katalog ist die Einschätzung der Eignung der jeweiligen Maßnahme für jede der sechs definierten Straßentypologien.
Dieser Maßnahmenkatalog verdeutlicht die Bandbreite der Möglichkeiten und soll somit eine Inspiration und ein Ansatzpunkt für Planende, Politik und Verwaltung sein. Er soll Politiker*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen vom Paradigmenwechsel überzeugen und Inspirationen für ihre alltägliche Arbeit geben. Zudem können vor allem mittels der erzeugten Bilder der Beispielentwürfe im Bezirk Pankow räumliche Auswirkungen der Vision verdeutlicht werden.
Im Folgenden sollen einige Denkansätze und offene Fragen aus unserer Arbeit vorgestellt und geteilt werden – in der Hoffnung, eine Diskussion anzustoßen.
Im Laufe des Projektes wurde für uns deutlich, dass bereits sehr viele Ansätze für einen Wandel in der Planung vorhanden sind – es gibt vielfältige Ideen für andersartige Gestaltung, eine große Reihe an möglichen Maßnahmen, es gibt versprechende Beispiele aus aller Welt. Trotzdem müssen für eine umfassende Veränderung der Planung noch einige Hindernisse überwunden werden – wie an unseren gegenwärtigen öffentlichen Räumen und selbst neuen Planung offensichtlich wird. Was sind hier die springenden Punkte? Die folgenden Überlegungen sollten als offene Anregungen gesehen werden – und sind teilweise bewusst provokant formuliert.
Zunächst einmal vollzieht sich ein solcher Wandel nur sehr langsam, denn er betrifft teilweise große Infrastrukturentscheidungen, die Zeit und Geld für einen Umbau erfordern. So dauert es oft viele Jahre, bis es zum Umbau einer Straße kommt. Ist es dann soweit, werden häufig nur Minimallösungen, „faule Kompromisse“ oder Teillösungen umgesetzt. Die Chance auf eine wirkliche Veränderung wird so für viele weitere Jahre vertan. Und das scheint an festgefahrenen Strukturen zu liegen: Nicht nur in der gebauten Umwelt, sondern auch in vielen Köpfen.
So erlaubt die aktuelle Richtlinie für die Anlage von Stadtstraßen (RASt06) durchaus, von den Standardstraßenquerschnitten abzuweichen, in der Praxis wird dies aber nur selten angewandt. Es stellt sich die Frage, zu welchen Teilen das an der Ausbildung und der Praxis derjenigen liegen könnte, die momentan in den leitenden und entscheidenden Positionen sitzen – wird sich das also automatisch ändern, wenn in anderem Sinne ausgebildete Planer*innen ans Werk gehen? Ein Blick auf die heutige Ausbildung in der Verkehrsplanung zeigt allerdings, dass integrierte Herangehensweisen und Interdisziplinarität immer noch kaum gelehrt werden und ein Austausch zu beispielsweise der Stadtplanung kaum stattfindet.
Zudem zeigt auch die Diskussion um die notwendige Verkehrswende, dass in vielen Köpfen ein Paradigmenwechsel noch nicht stattgefunden hat. Denn es reicht eben nicht, konventionelle Antriebe durch elektrische oder auch autonome Autos zu ersetzen – ein Umdenken muss fundamentaler sein, es darf kein Tabu mehr bleiben, auch Rechte und Privilegien wegzunehmen – sowohl für etablierte Industriezweige als auch für einzelne Verkehrsteilnehmende. Das führt zum nächsten Punkt:
Ein anderer hemmender Grund ist der oft fehlende politische Wille. Raum für Aufenthalt und den Umweltverbund zu schaffen, bedeutet gleichzeitig auch, Raum wegzunehmen. Raum, der in vielen Großstadt knapp ist. Bestehende Ordnungen zu verändern erfordert also Mut, und wir sollten nicht so tun, als wäre eine Verkehrswende zunächst eine Veränderung, von der alle profitieren – es wird Menschen geben, die Privilegien abgeben müssen. Ein anderes Verständnis zu öffentlichem Raum braucht engagierte und mutige Politik, und sie braucht eine engagierte Auseinandersetzung – und Konflikte sind ein Teil davon.
Das wirft die Frage nach der Rolle der Planenden auf – denn auch mit guten Absichten gibt es oft von verschiedenen Seiten Proteste. Es fallen schließlich oft Parkplätze weg, zusätzliche Kosten für die Nutzung des Pkw entstehen und Veränderungen führen generell oft zu Alarmbereitschaft. Wie wird damit umgegangen?
In einigen Fällen ist wirklicher Wille zur Veränderung in der Politik und Verwaltung da – und es tun sich neue Probleme auf: Eine Planung, die für Aufenthalt und nicht motorisierten Verkehr planen will, steht vor dem Problem, dass kaum Daten verfügbar sind. Zu Fahrrad- und Fußverkehr gibt es wenige Erhebungen, und erst recht nicht zu Aufenthaltsqualität – denn das ist ein schwer fassbares Thema. Zwar erheben Städte Daten, allerdings lange nicht in dem Maße, in dem Kfz-Daten erhoben werden. Das ist besonders relevant, wenn es nicht mehr nur um einige Modellprojekte in den Stadtzentren europäischer Großstädte gehen soll, sondern um einen Umbau an vielen, auch dezentralen Stellen. Dazu müssen kontinuierlich und systematisch Daten erhoben werden.
Auch sind Evaluationen unabdingbar, welche die Effekte bestimmter Maßnahmen aufzeigen. Dazu muss schnell angesetzt werden. Es könnten beispielsweise Universitäten beauftragt werden – wie ändert sich die Wahrnehmung der Menschen durch einen Umbau? Wie ändert sich die Nutzung des Raumes, wie ändert sich der Modal Split? Das wiederum könnte die Kommunikation von Maßnahmen der Öffentlichkeit gegenüber deutlich erleichtern.
Es bleibt die Frage, wie mit diesen wenig greifbaren oder messbaren Merkmalen umgegangen werden soll. Die RASt06 beispielsweise erlaubt es, sich an solchen Merkmalen zu orientieren und sie in die Gestaltungen einfließen zu lassen. Aber das scheint oftmals nicht oder nicht im gleichen Maße zu passieren, wie es bei „harten“ verkehrstechnischen Faktoren der Fall ist. Sollte man also Faktoren der Aufenthaltsqualität operationalisieren, um sie leichter in die Logik der RASt einzufügen, und dazu vergleichbare Daten erheben zu können? Oder nimmt man ihnen damit ihre eigentliche Qualität - und sollte stattdessen eher auf weniger Regulierung und auf eine stärker integrierte Ausbildung gesetzt werden?
Mithilfe von Straßentypologien und dazugehörigen Idealbildern zu planen, die die stadträumliche Funktion einer Straße als Ausgangspunkt nehmen, bedeutet auch, sich der Ziele im Klaren zu sein, die mit Veränderungen jeweils bewirkt werden sollen.
Planung für den öffentlichen Raum sollte auf klaren Visionen basieren. Verschiedene Funktionen sind an verschiedenen Orten sinnvoll, und dafür kann und sollte gezielt geplant werden. An manchen Orten hat etwa der Aufenthalt einen besonders hohen Stellenwert, an anderen die Durchlässigkeit für den Fußverkehr, nur um zwei Beispiele zu nennen.
Das heißt auf der einen Seite, dass Maßnahmen für Aufenthaltsqualität auch für Straßentypen angewandt werden können, in denen gegenwärtig diese Nutzung keine Rolle spielt, aber in Zukunft eine größere Rolle spielen soll - während in manchen Fällen Aufenthalt keine Rolle spielt, und das auch nicht muss. Nicht jede Straße muss eine Aufenthaltsstraße werden. Somit muss die Straße auch stets im Kontext des Quartiers und der Stadt betrachtet werden, und hier spielt Bürgerbeteiligung eine essentielle Rolle.
Das bedeutet auch, dass differenzierte Visionen gebraucht werden – also mehr als nur ein allgemeines Leitbild für einen zeitgemäßen öffentlichen Raum. Ein stadtweiter, detaillierter und differenzierter Entwicklungsplan mit Fokus auf den öffentlichen Raum könnte diese Funktion erfüllen - wie es das beispielsweise in Berlin Ende der 1990er Jahre mit dem Stadtentwicklungsplan öffentlicher Raum schon einmal gab.
Gerade der letzte Punkt macht noch einmal deutlich: es gibt nicht den einen öffentlichen Raum oder die eine Lösung. Auch der Maßnahmenkatalog, der im Zuge unseres Projektes entwickelt wurde, ist kein Rezeptbuch. Es ist ein Anfang, eine Anregung, ein Aufruf.
Wir wollen eine neue Herangehensweise an den öffentlichen Raum und dessen Planung. Ein Wandel ist angestoßen, aber es bleiben offene Fragen, die genau jetzt diskutiert werden müssen. Wir appellieren also an euch, die ihr den Raum plant oder nutzt:
An der TU Berlin erarbeitete ein selbstbestimmtes Masterprojekt von sechs Studierenden der Stadt- und Regionalplanung ein Planungshandbuch mit Straßentypologien, Maßnahmenkatalog und Testentwürfen am Beispiel des Berliner Bezirks Pankow. Auf dieser Grundlage formulieren sie Anforderungen an eine offensivere und politischere Planung und plädieren für Straßenraum als öffentlichen Stadtraum.
Dieser Artikel von Laura Bornemann, Sebastian Gerloff, Leonie Hock, Melana Jäckels, Laura Mark, Julia Theuer ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2018, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
In der gegenwärtigen Diskussion um die Zukunft des Autoverkehrs wird die Automobilindustrie nicht geschont. Das ist berechtigt. Es werden auch sinnvolle Konzepte von Planung und Politik verlangt. Das ist ebenso berechtigt. Dass sich aber viele Probleme gar nicht stellen, wenn wir nur ein bisschen weniger Autofahren, geht weitgehend unter. Das ist nicht berechtigt.
Die Diskussion, die wir gegenwärtig im Bereich der (Alltags-) Mobilität erleben, ist geprägt von den negativen Folgewirkungen des Autoverkehrs. Damit rückt seit langem ein Thema wieder in den Fokus, das schon in den Achtziger-Neunzigerjahren eine Rolle gespielt hat. Passive Mobilität: Wir sind eben nur etwa eine Stunde am Tag unterwegs, aber 23 Stunden den Folgen ausgesetzt, die diese eine Stunde bewirkt.
Dabei gibt es zwei Stoßrichtungen: Einerseits wird der Automobilindustrie vorgeworfen, nicht genug für die Entwicklung wenig(er) belastender Fahrzeuge getan zu haben. Diese Kritik erhält durch die inzwischen aufgedeckten Skandale noch erhebliches Momentum. Andererseits werden Planung und Politik aufgefordert, Konzepte zu entwickeln die die passive Mobilität verbessern. Dabei konzentriert sich diese Diskussion oft auf Verbote unterschiedlicher Art und soll vor allem den Schadstoffausstoß verbessern. Andere negative Wirkungen des Autoverkehrs, wie z. B. der Flächenverbrauch werden derzeit kaum thematisiert (was insbesondere beim Thema „autonome Fahrzeuge“ dringend geboten wäre).
Die – zum Glück wieder intensiv diskutierten – negativen Folgen des Autoverkehrs auf den Klimaschutz entstehen aber nicht nur durch umweltschädliche Fahrzeuge, sondern durch die Menschen, die diese Fahrzeuge fahren. So banal diese Aussage ist, so erstaunlich ist es, dass sie in der Diskussion um eine bessere Zukunft der Mobilität kaum eine Rolle spielt.
Dabei zeigen alle einschlägigen Untersuchungen, dass durch eine (freiwillige) Veränderung des gegenwärtigen Verhaltens erhebliche Verbesserungen bei den Mobilitätsfolgen erreicht werden könnten. Und das schnell, kostengünstig, flächendeckend und im Einvernehmen mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Zur Darstellung der Potentiale freiwilliger Verhaltensänderungen benutzen wir zwei Datenbasen. Eine große Stichprobe zum Mobilitätsverhalten in deutschen Städten (ca. 35.000 Personen, fortgeschrieben auf 2015; siehe mobilogisch! 3/16, „Das Auto: Stehzeug für Solisten“) und die Ergebnisse vertiefender Interviews, ebenfalls in deutschen Städten, bei einer Substichprobe von ca. 20.000 Personen, fortgeschrieben auf 2015).
In diesen vertiefenden Interviews wurden Haushalte befragt, die bereits auf eine Mobilitätserhebung geantwortet und ihr Verhalten (alle Haushaltsmitglieder) zu einem Stichtag berichtet haben. Dieses konkrete Verhalten war die Basis eines Intensiv-Interviews mit allen Haushaltsmitgliedern, das in der Regel 45 - 60 Minuten gedauert hat. Dabei wurden alle Bestimmungsgründe der vorliegenden Alltagsmobilität exploriert. Damit war es möglich, das gegenwärtige Mobilitätsverhalten zu verstehen, zu erklären und auf seine Veränderbarkeit zu untersuchen.
Socialdata hat solche Erhebungen in vielen Ländern auf drei Kontinenten durchgeführt. Eine internationale Auswertung haben wir in mobilogisch! 1/17 („Weniger Auto, mehr Umweltverbund? Just do it!“) vorgestellt. In dieser Auswertung haben wir auch den Anteil an Autofahrten gezeigt, die nicht durch Sachzwänge oder mangels angemessener Alternative an ihr Auto gebunden sind. Der Anteil dieser Autofahrten, bei denen das Auto nur aus subjektiven Gründen genutzt wurde, lag im Schnitt von Beispielen aus Amerika, Australien und Europa bei 48 %, also knapp der Hälfte. In deutschen Städten sieht diese Situation sogar noch besser aus:
Für jede elfte Pkw-Fahrt gibt es einen Sachzwang (z. B. Oma ins Krankenhaus bringen, weil sie sich den linken Arm gebrochen hat) und für ein gutes Drittel gibt es keine angemessene Alternative (zu Fuß, Fahrrad, ÖV). Damit gibt es bei 56 % aller Pkw-Fahrten keinen Zwang, das Auto zu nutzen. Und bei 19 % (fast ein Fünftel) gibt es auch keine subjektiven Gründe, die die Pkw-Nutzung erklären würden; sie könnten also sofort verlagert werden, wenn die jeweiligen Fahrer(innen) es nur wollten („wahlfrei“). Schließlich sind bei 37 % der Pkw-Fahrten ausschließlich subjektive Gründe verantwortlich für die Verkehrsmittelwahl.
Diese Gründe sind sehr unterschiedlich und reichen von Informationsmangel (nur gegenüber ÖPNV) bis zu den Kosten (deutlich weniger wichtig als andere Aspekte).
Bei dieser Datenlage könnte man es sich leichtmachen und feststellen, dass 56 % aller Autofahrten genauso gut mit anderen Verkehrsmitteln durchgeführt werden könnten. Doch so einfach ist das wirkliche Leben vermutlich nicht. Auch bei objektiver und subjektiver Wahlfreiheit kann es Alltags-Befindlichkeiten geben, die den Verkehrsmittelwechsel dann doch ausschließen. Und bei den subjektiven Gründen gibt es natürlich welche, die leicht behebbar sind (z. B. Information), aber auch solche, die hartnäckig und anhaltend wirken (z. B. tiefe Abneigung gegen öffentliche Verkehrsmittel). Deshalb haben wir uns zu einer Annahme entschlossen: Wir gehen davon aus, dass von den wahlfreien Pkw-Fahrten zwei Drittel und von den nur subjektiv gebundenen ein Drittel leicht auf ein anderes Verkehrsmittel verlagert werden können.
Diese Annahme ist sehr konservativ und wird den Spielraum für Veränderungen eher unter- als überschätzen. Ihr Vorteil liegt darin, dass wir eine einzige Zahl zur Beschreibung der Veränderungspotentiale verwenden können: Demnach können gegenwärtig mindestens 25 % aller Pkw-Fahrten ohne große Umstände durch ein Verkehrsmittel des Umweltverbundes ersetzt werden.
Diese verlagerbaren Pkw-Fahrten finden wir überall. Um dies zu zeigen, haben wir eine Vielzahl von Tabellen bereitgestellt, die nur einer grundsätzlichen Erklärung bedürfen.
Von allen Pkw-Fahrten in deutschen Städten werden 61 % von Männern durchgeführt, 39 % von Frauen. Leicht verlagerbar sind davon bei den Männern 23 % (von 61 %), bei den Frauen aber 28 % (von 39 %). Die Wirkung wäre also bei den Frauen relativ und bei den Männern absolut größer.
Mit höherem Alter steigt die Möglichkeit zur Verlagerung. Allerdings sind 35- bis 64-jährige für 60 % aller Pkw-Fahrten verantwortlich und könnten ein gutes Viertel davon sofort ersetzen.
Die Möglichkeit, auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen, sinkt leicht, wenn die Passagierzahl steigt. Sie ist weitgehend unabhängig von der Tageszeit (selbst in den Abendstunden ist noch über ein Fünftel der Pkw-Fahrten verlagerbar).
Besonders groß sind die Verlagerungspotentiale bei kurzen Autofahrten. Erst bei Fahrten über zehn Kilometer gehen sie zurück (ein Zwölftel). Dementsprechend sind die Chancen zur Reduzierung des Pkw-Verkehrs auch im Binnenverkehr unserer Städte (79 % aller Wege) noch größer (29 % von 79 %).
An Werktagen sind die Veränderungspotentiale größer als am Wochenende und im Sommer sind sie geringer als im Winter.
Und bei einer Aufgliederung nach Aktivitäten zeigt sich, dass die Verlagerungspotentiale bei Einkauf und Begleitung am größten und bei Ausbildung am geringsten sind.
Die bisherigen Auswertungen sollten vor allem eines belegen: Wir haben erhebliche Potentiale zur Reduzierung des Autoverkehrs. Diese Potentiale gelten für alle Pkw-Fahrer und für alle Lebensbereiche und verlangen nur kleine, wenig spürbare Verhaltensänderungen. Und sie könnten rasch umgesetzt werden. Das wird besonders deutlich, wenn wir uns eine detailliertere Aufgliederung der Freizeit-Aktivitäten (26 % alle Aktivitäten) ansehen.
Ob Kirche/Friedhof, Gastronomie, Sport oder sonstiges, überall liegt der Anteil der leicht verlagerbaren Pkw-Fahrten bei etwa einem Viertel (Erholung, Kultur ein Sechstel).
An dieser Stelle kann man einwenden, dass diese Auswertungen viel zu optimistisch sind und Papier im Übrigen geduldig sei. Deshalb haben wir schon in den Neunzigerjahren ein Verfahren entwickelt, bei dem die Menschen persönlich motiviert werden, diese Verlagerungspotentiale auch tatsächlich umzusetzen. Wir haben in mobilogisch! 1/13 und 2/13 („Das bestgehütete Geheimnis in der Verkehrsplanung: Menschen ändern ihr Verhalten auch freiwillig“) ausführlich über das „Individualisierte Marketing“ (Indimark®) berichtet. Dort war auch erkennbar, dass dieses Instrument in vielen Ländern im Ausland erfolgreich eingesetzt wurde, um den Anteil der Pkw-Fahrten zu senken. In Deutschland aber so gut wie nicht. Eine Ausnahme bildet ein Projekt in Starnberg, das vor etwa zehn Jahren durchgeführt wurde und 8.000 Zielpersonen umfasste. Dabei muss man wissen, dass Starnberg eine der reichsten Gemeinden Deutschlands ist und für die Motivation, weniger Auto zu fahren wahrlich kein einfaches Pflaster. Umso überraschender waren die Ergebnisse:
Der Fahrrad-Anteil wurde verdoppelt die ÖPNV-Nutzung 0,00 cmum 13 % gesteigert und die Pkw-Fahrten um 15 % reduziert.
Inzwischen weiß man auch, dass ein zweiter Durchgang eines solchen Projektes die erzielten Wirkungen mindestens verdoppelt. Zusätzlich entsteht ein sog. Diffusions-Effekt, weil Teilnehmer am Projekt auch mit Nachbarn, Freunden, Familienmitgliedern, Kollegen reden, die nicht am Projekt teilnehmen. Diese Gespräche verlaufen häufig positiv und der hieraus resultierende „Diffusions-Effekt“ liegt bei mindestens einem Drittel der originären Wirkung. Dies bedeutet, dass die ohnehin schon deutliche Reduzierung der Pkw-Nutzung in Starnberg sich in dem Bereich von 25 - 33 % Reduzierung bewegen könnte. Und das alles im bestehenden System, ohne Restriktionen. Nur auf der Basis freiwilliger Verhaltensänderungen. Dabei werden diese Veränderungen in der großen Mehrzahl als positiv empfunden und ein Projekt zur Reduzierung des Pkw-Verkehrs wird mit öffentlichem Beifall umgesetzt.
Vor dem Hintergrund der gezeigten Ergebnisse ist es schwer vorstellbar, warum wir in Deutschland die Bürgerinnen und Bürger nicht auch dazu ermuntern, einfach weniger Auto zu fahren. Solange wir ihnen erzählen, was dazu die anderen erst beitragen müssen (Automobilindustrie, Planung, Politik) wird das nicht einfach. Wenn wir sie aber ernst nähmen und offen und positiv auf sie zugingen, würde sich ein Veränderungsprozess einstellen. Und der täte nicht einmal weh.
In deutschen Städten werden gegenwärtig pro Einwohner und Jahr 374 Wege als Pkw-Fahrer zurückgelegt. Wenn wir die 25 %-Marke für leicht verlagerbare Fahrten ansetzen, wären das 93 Fahrten pro Person und Jahr. Etwa zwei Fahrten pro Woche, einmal hin- und zurück. Das ist machbar, Herr Nachbar.
Bei knapp der Hälfte unserer Autofahrten ist eine Verlagerung auf ein anderes Verkehrsmittel nur schwer möglich. An diese Fahrten denken wir, wenn wir über Verhaltensänderungen reden. Die andere Hälfte vergessen wir gerne. Diese Fahrten ziehen sich aber durch alle Lebensbereiche und haben das Potential, den Autoverkehr um mindestens ein Viertel zu senken. Das geht in der gegenwärtigen Diskussion leider unter.
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2017, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
Ziel jeder Umfrage zum Mobilitätsverhalten ist es, ein möglichst vollständiges Bild der Bewegungsmuster von Personen in einem betreffenden Gebiet zu erhalten. Um dies zu erreichen, sind alle Wege und benutzten Verkehrsmittel zu berücksichtigen. Der Einbezug des Fußverkehrs ist dabei von entscheidender Bedeutung, denn ohne ihn wird nicht nur das Total der zurückgelegten Wege unter-, sondern zugleich der Anteil der übrigen Verkehrsmittel überschätzt.
Die meisten Mobilitätsumfragen beziehen heutzutage den Fußverkehr tatsächlich auch mit ein. Allerdings ist die Datenerhebung methodisch deutlich anspruchsvoller als jene beim Fahrzeugverkehr. Deshalb sind große Qualitätsunterschiede bei Erhebungen in Städten, Bundesländern und auf nationaler Ebene festzustellen. Nichtsdestotrotz werden munter Datenvergleiche vorgenommen und Differenzen, z.B. bezüglich Verkehrsmittelwahl, ausführlich inhaltlich interpretiert. Nur sind die Unterschiede aufgrund der Methodik häufig viel größer als inhaltliche Differenzen, was zum Teil zu verzerrten Darstellungen führt. Werner Brög hat in zahlreichen seiner exzellenten mobilogisch-Artikel schon darauf hingewiesen.
Um die Probleme der unangemessenen Abbildung des Fußverkehrs sowie die fehlende Vergleichbarkeit von Mobilitätserhebungen anzugehen, wurde in den letzten Jahren international an einem Datenstandard für den Fußverkehr gearbeitet. Dieser Standard richtet sich zum einen an Personen, welche die Daten von Mobilitätserhebungen besser verstehen und einschätzen wollen – insbesondere auch die Werte zum Fußverkehr. Und zum zweiten richtet er sich an die zuständigen Behörden und Gremien auf allen Ebenen, die ihre Datenlage verbessern möchten. Sie sind eingeladen, den internationalen Datenstandard zu adoptieren, um so sicherzustellen, dass sie für ihre Politik und Planung eine verlässliche Datengrundlage vorliegen haben und insbesondere den Fußverkehr in einer adäquaten Form berücksichtigen.
Verkehrserhebungsdaten können nur verglichen werden, wenn die Definitionen sowie die verwendeten Methoden kompatibel sind und konsistent angewendet werden. Die vorgeschlagene Harmonisierung der Datenerhebungen im Rahmen des Standards zielt genau darauf ab.
Um der unterschiedlichen Entwicklung in den einzelnen Städten und Ländern Rechnung zu tragen und zugleich eine gute Vergleichbarkeit zu ermöglichen, werden drei Qualitätsstufen unterschieden. Die zuständigen Behörden können so jene Stufe wählen, die ihnen entspricht.
Der Standard basiert auf fünf Schlüsselindikatoren (s. Tabelle) und thematisiert dazu eine Reihe von Anforderungen an die Erhebung, Auswertung und Berichterstattung. Einige Beispiele von Aspekten, die im Standard behandelt werden, sind in der rechten Spaltenhälfte angeführt.
Im Dokument, das den internationalen Datenstandard beschreibt, werden darüber hinaus verschiedene methodische Probleme thematisiert, beispielsweise:
Beispiel 1: Wie wichtig eine einheitliche Erfassung und Darstellung des Mobilitätsverhaltens ist, zeigt das Beispiel der Verkehrsmittelwahl nach Zweck. Es kommt immer wieder vor, dass in Mobilitätserhebungen nur die Arbeitswege dargestellt werden. Sie machen inzwischen jedoch nur mehr rund ein Fünftel aller Wege aus. Die Verkehrsmittelanteile sind je nach Wegzweck sehr verschieden. In der Schweiz beispielsweise werden nur 18% der Arbeits-, aber 37% der Freizeitwege zu Fuß zurückgelegt. Wer sich nur auf den Arbeitsweg konzentriert, unterschätzt den Anteil des gesamten Fußverkehrs meist. Deshalb wird im Standard verlangt, dass alle Zwecke berücksichtigt werden.
Beispiel 2: Die Anteile der Verkehrsmittelwahl fallen sehr verschieden aus, je nachdem wie sie gemessen werden. Nimmt man die Distanz als Ausgangspunkt, so beträgt der Fußverkehrsanteil in der Schweiz nur gerade 6%. Nimmt man hingegen die Unterwegszeit als Referenz, so sind es 38%. Es ist also bedeutend, dass alle Aspekte sorgfältig erhoben werden, insbesondere auch die Etappen sowie die Unterwegszeit und dass die Darstellung nicht nur nach einer Kategorie erfolgt.
Beispiel 3: Unser Mobilitätsverhalten unterscheidet sich zwischen Werk- und Wochenendtagen deutlich. Deshalb ist es wichtig, alle Tage der Woche miteinzubeziehen und eine Erhebung nicht nur auf die Zeit zwischen Montag und Freitag zu beschränken. In der Stadt Zürich beispielsweise werden von Montag bis Freitag 1.3 Wege zu Fuss zurückgelegt. Am Sonntag sind es gerade noch halb so viele (0.7 Wege). Die Unterwegszeit zu Fuss ist aber am Sonntag mit 38 Minuten leicht höher als unter der Woche (36 Minuten). Am Samstag ist die Zürcher Bevölkerung am längsten (50 Minuten) und am weitesten (3 Kilometer) zu Fuß unterwegs. Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist dann aber viel geringer: 3.6 Kilometer pro Stunde gegenüber 4.7 Kilometer pro Stunde von Montag bis Freitag.
Der Internationale Datenstandard für den Fußverkehr wurde nach einer mehrjährigen Konsultation mit Städten, nationalen Behördenvertretern und unabhängigen ExpertInnen im Oktober 2015 an der Walk21 in Wien verabschiedet. Nun geht es darum, ihn weiter bekanntzumachen und umzusetzen. Alle Städte, regionalen Körperschaften sowie die zuständigen nationalen und internationalen Gremien sind eingeladen, den Standard zu übernehmen und anzuwenden. Mehrere entsprechende Kontakte laufen zurzeit. Wir danken speziell Arndt Schwab für sein diesbezügliches Engagement in Deutschland. Zugleich ist jede weitere Unterstützung für den Datenstandard willkommen, um dem Ziel einer besseren Abbildung des Fußverkehrs in Mobilitätserhebungen möglichst bald näher zu kommen.
Mit dem Internationalen Datenstandard für den Fußverkehr wird das Ziel verfolgt, das Gehen in Mobilitätserhebungen besser abzubilden und die Daten miteinander vergleichbar zu machen. Dies soll dazu beitragen, dass Länder und Kommunen ihre Politik und Planung auf eine verlässlichere Datengrundlage stellen und dem Fußverkehr den ihm gebührenden Stellenwert einräumen. Denn nur was (richtig) gezählt wird, zählt!
Das vollständige Dokument mit dem Internationalen Datenstandard für den Fußverkehr kann zusammen mit den Details, wie er entwickelt wurde und mit den Präsentationen in Wien von folgender Website heruntergeladen werden: www.measuring-walking.org.
Der Standard und die Website sind bis jetzt nur in englischer Sprache vorhanden. Die Website ist zudem noch im Aufbau begriffen und wird in Kürze in einer erweiterten Fassung aufgeschaltet werden.
Zu den AutorInnen des Standards zählen: Daniel Sauter (Schweiz), Tim Pharoah (UK), Miles Tight (UK), Martin Wedderburn (UK), Ryan Martinson (Kanada) und Bronwen Thornton (Walk21, UK).
Dieser Artikel von Daniel Sauter (Urban Mobility Research, Zürich) ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2016, erschienen.
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Eine Aufgliederung der Wege in unserer Alltags-Mobilität nach Etappen gibt dem Zufußgehen einen ganz neuen Stellenwert. Aber es ergeben sich auch wichtige Erkenntnisse darüber, wie man die tägliche Dosis körperlicher Aktivitäten bereits in den Alltag integrieren kann.
In mobilogisch! 2/17 haben wir Ergebnisse einer Auswertung unserer Alltags-Mobilität nach Fuß-Etappen vorgestellt („Das hauptsächlich vernachlässigte Verkehrsmittel“). Diese Auswertungen wurden mit einem Datenbestand für deutsche Städte durchgeführt, der – fortgeschrieben auf 2015 – fast 40.000 Personen umfasst und sorgfältig validiert wurde. Dabei wurde die in der Mobilitätsforschung gängige Definition des „hauptsächlich genutzten Verkehrsmittels (HVM)“ einer Aufgliederung der Verkehrsmittelwahl nach einzelnen Wege-Etappen gegenübergestellt. Diese Etappen wurden zudem unterschieden nach Etappen mit oder ohne „Warten“ (auf ein Verkehrsmittel).
Ein zentrales Ergebnis war, dass die durchschnittliche Dauer, die wir mit dem HVM Zu Fuß benötigen, bei Berücksichtigung aller Fuß-Etappen mit 1,75 multipliziert werden muss. Bei zusätzlichen Einbezug der Warte-Etappen sogar mit 2,0 (Verdoppelung).
Dieser pauschale Korrekturwert ist hilfreich, um die Dimension der Problematik erkennen zu können. Detailliertere Analysen zeigen dann, wie sich dieser Effekt weiter auswirkt.
So ergibt eine Aufgliederung nach Wege-Zwecken bereits ein sehr variables Bild. Die durchschnittliche Dauer, die für das Zufußgehen aufgewendet wird, übersteigt bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen (Post, Arzt etc.), bei Ausbildung und – vor allem – Beruf den Ausgangswert (hier = 100) zum Teil deutlich (wobei die sehr hohen Werte für Arbeit vor allem darauf zurückzuführen sind, dass nur sehr wenige Menschen zu Fuß in die Arbeit gehen, der Ausgangswert also besonders niedrig ist). Unterdurchschnittliche Zuschläge zeigen sich dagegen bei Begleitung, Einkauf und – vor allem – Freizeit.
Auch eine einfache Aufgliederung nach Alter und Geschlecht ergibt deutliche Unterschiede.
Bei Männern sehen wir überdurchschnittliche Zuschläge bei den beiden jüngeren Altersgruppen und die geringsten bei den Senioren (60+).
Frauen verzeichnen insgesamt höhere Zuschläge bei den Etappen. Bei der jüngsten Altersgruppe sehen wir ähnliche Werte wie bei den Männern. Dagegen fallen die Zuschläge in der Altersgruppe 30-44 Jahre geringer aus als bei den Männern, in den beiden älteren Gruppen aber höher, besonders deutlich bei 45-59 jährigen.
Wir wollen hier aber den Blick über Deutschland hinaus lenken. Dazu benutzen wir einen Datenbestand, den Daniel Sauter auf der „Walk21“ in Hong Kong 2016 vorgestellt hat („International standard for measuring walking: how much we walk and what motivates us to walk“). Dieser Datenbestand enthält Mobilitätsdaten zu zehn Städten/Gebieten aus drei Kontinenten.
Dabei umfasst „STT“ drei englische Mittelstädte, die im Rahmen des Projektes „Sustainable Travel Towns (STT)“ untersucht wurden, D‘ Haag ist die niederländische Hauptstadt Den Haag, Gävle eine schwedische Mittelstadt ca. 170 km nordöstlich von Stockholm, V’couver die kanadische Stadt Vancouver in British Columbia, B’ham die Mittelstadt Bellingham ca. 80 Meilen nordwestlich von Seattle und B’bane die Hauptstadt Brisbane im australischen Queensland.
Ein Blick auf die Verkehrsmittelwahl in diesen Gebieten macht deutlich, warum sie ausgewählt wurden. So variiert etwa der Anteil des Umweltverbundes (Zu Fuß, Fahrrad, ÖPNV) zwischen 77 % (in Basel) und 20 % (in Bellingham). Es wird also eine große Bandbreite des alltäglichen Mobilitätsgeschehens abgebildet.
In diesen Gebieten verzeichnen wir im Durchschnitt 2,9 Wege pro Person/Tag und 5,1 Etappen (ohne Warten). Mit Warten wären es sogar 5,7 Etappen.
Dabei wird deutlich, dass in Städten mit hoher ÖPNV-Nutzung die durchschnittliche Zahl täglicher Etappen spürbar ansteigt, dass aber auch in den anderen Gebieten dieser Durchschnitt immer über vier, oft in der Nähe von fünf oder sogar mehr Etappen liegt.
Man kann bei der Darstellung der Verkehrsmittelwahl aber nicht nur das jeweilige HVM zugrunde legen, sondern man kann die Verkehrsmittelwahl auch auf alle Etappen beziehen.
Der durchschnittliche Anteil der Fußwege im Gesamt aller Gebiete läge dann nicht mehr bei 21 sondern bei 52 %! Dagegen würde beispielsweise der Anteil der Pkw-Fahrer von 38 auf 22 % absinken.
Und plötzlich gibt es nur noch vier Gebiete mit einem Fußwege-Anteil von weniger als 50 % (darunter interessanterweise auch Den Haag). Der Anteil der Pkw-Fahrer würde nur noch in den klassischen Autofahrer-Regionen (Bellingham, Brisbane) über die 30 %-Marke steigen, der Anteil der Pkw-Mitfahrer bliebe durchwegs unter 15 %. Bei ÖPNV und Fahrrad wären die Wirkungen sehr unterschiedliche: Nur Basel und Wien würden beim ÖPNV über die 20 %-Marke springen, beim Fahrrad wären nur noch Den Haag und Gävle im zweistelligen Bereich.
Wir müssen aber eine Analyse der Alltags-Mobilität nicht auf eine detailliertere Betrachtung der Fuß-Etappen beschränken. Gerade in Zeiten, in denen viel über Fitness und „physical activities“ geredet wird, könnte man ja alle Etappen herausgreifen, bei denen wir uns körperlich bewegen. Das sind im Wesentlichen die Etappen, bei denen wir zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind.
Dabei ist klar, dass wir nur dann „active“ unterwegs sind, wenn wir nicht den ganzen Tag zuhause bleiben, sondern auch das Haus verlassen (sog. „Mobile“). Addiert man jetzt die Dauer aller Fuß- und Fahrrad-Etappen, so ergibt sich die Dauer, die wir pro Tag mit „Active Time“ verbringen.
Im Durchschnitt aller zehn Gebiete liegt dieser Wert bei 28 (mobile Personen) bzw. 24 Minuten (alle Personen). Der von der WHO empfohlene Mindestwert von 30 Minuten pro Person/Tag wird nicht erreicht.
Er wird aber bei den mobilen Personen in allen Gebieten erreicht, bei denen der (HVM-) Anteil der Pkw-Fahrer unter 40 % liegt und bei denen mit einem Anteil unter 30 % (Basel, Wien) sogar im Durchschnitt aller Personen. Das ist ein wichtiger Hinweis auf einen Zusammenhang, den wir schon in früheren mobilogisch!-Artikeln thematisiert haben: Man kann die 30 Minuten physical activities bereits durch geeignete Verkehrsmittelwahl bei der Alltags-Mobilität erreichen und kann sich damit etwa den Gang ins Fitness-Studio ersparen.
Die Aufgliederung wird noch anschaulicher, wenn wir nach der sog. „Verkehrsmittel-Partizipation“ unterscheiden. Anders als bei den gängigen (und bisher diskutierten) Mobilitäts-Kennziffern werden bei der Partizipation nicht Wege sondern Personen klassifiziert. Jede Person, die am Tag mindestens einen (reinen) Fußweg verzeichnet, fällt in die Partizipationsgruppe Zu Fuß, jede, die mindestens einmal mit dem Fahrrad fährt, in die Partizipationsgruppe Fahrrad usw..
Eine Aufgliederung der Verkehrsmittelwahl zeigt, wie prägend das jeweilige Verkehrsmittel für die einzelnen Partizipationsgruppen ist (siehe Diagonale). Wer am Tag wenigstens einmal zu Fuß geht, der erledigt 57 % seiner täglichen Wege zu Fuß, wer Fahrrad oder ÖPNV fährt, 61 % bzw. 62 % mit dem Fahrrad/ÖPNV, wer als Pkw-Fahrer unterwegs ist, nutzt dieses Verkehrsmittel gar bei 79 % aller Wege am Tag.
Dabei geht – im Durchschnitt aller zehn Gebiete – ein gutes Viertel der Bevölkerung (26 %) mindestens einmal zu Fuß (HVM), ein Neuntel fährt Fahrrad und ein Fünftel nutzt den ÖPNV. Diesen insgesamt 57 % stehen 54 % gegenüber, die ein MIV-Verkehrsmittel wenigstens einmal täglich nutzen (Die Summe beider Gruppen liegt über 100, weil es natürlich auch Personen gibt, die sowohl den UV wie auch den MIV am selben Tag nutzen.).
Diese Aufgliederung zeigt aber noch etwas ganz anderes: Wer am Tag mindestens einmal zu Fuß geht (als HVM), der erledigt ein weiteres Sechstel seiner Wege mit dem Fahrrad oder ÖPNV und nur ein gutes Viertel (27 %) mit einem motorisierten Individualverkehrsmittel (MIV). Wer Fahrrad fährt, benutzt den MIV bei 21 % seiner Wege, die anderen Umweltverbund-Verkehrsmittel (UV) aber nur unwesentlich weniger (18 %) und wer den ÖPNV benutzt, der geht genauso oft zu Fuß wie er/sie den Pkw nutzt (als Fahrer oder Mitfahrer).
Umgekehrt verzeichnen Pkw-Fahrer am gleichen Tag die niedrigsten Werte (17 %) im UV (und übrigens auch als Pkw-Mitfahrer).
Zusammengefasst heißt das: Wer mindestens einmal am Tag ein Verkehrsmittel des UV nutzt, der nutzt für mindestens 73 % seiner Wege den Umweltverbund. Und wer mindestens einmal täglich den MIV nutzt, der erledigt mindestens 73 % der Wege im MIV.
Da aber die über das HVM definierte Verkehrsmittelwahl viele kleine Etappen – vor allem Zu Fuß – unberücksichtigt lässt, wäre es sinnvoll, die in diesem Beitrag gezeigte „Active Time“ für die einzelnen Verkehrsmittel-Partizipationsgruppen auch für unsere zehn Beispielgebiete zu kalkulieren.
Es zeigt sich, dass Personen mit Umweltverbund-Nutzung im Durchschnitt aller Gebiete deutlich über 30 Minuten pro Tag an Active Time erreichen (von 41 Minuten bei der Partizipationsgruppe ÖPNV bis 61 Minuten bei Fahrrad). Es zeigt sich aber auch, dass dies ebenso zutrifft für Gebiete mit hoher Nutzung an motorisierten Individualverkehrsmitteln. Die Active Time liegt zwischen 33 und 83 Minuten und damit durchgängig über 30 Minuten. Und bei Fußgängern und Radfahrern sinkt sie nirgends unter 40 Minuten ab. Es ist wie bei der Verkehrsmittelwahl: Wenn man will, dass die Menschen ausreichend körperliche Bewegung bereits in ihrer Alltagsmobilität erreichen, muss man sie „nur“ dazu bringen, dass sie wenigstens einmal zu Fuß gehen, Fahrrad fahren oder den ÖPNV nutzen. Den Rest regeln sie dann ganz alleine; detailliertere Anleitungen werden nicht benötigt. Und das gilt nicht nur für Gebiete mir umweltverbundfreundlicher Angebotsgestaltung, sondern auch für MIV-orientierte Kommunen!
Und umgekehrt erreicht im Durchschnitt dieser Gebiete niemand, der motorisierte Individualverkehrsmittel nutzt, die 30 Minuten-Marke an aktiver Zeit. Bei der Partizipationsgruppe Pkw-Fahrer sind es nur 17 Minuten, bei motorisierten Zweirädern 19 und bei Pkw- Mitfahrern gerade 20.
Und auch in Gebieten mit hoher Umweltverbund-Nutzung wird diese Marke in allen Partizipationsgruppen verfehlt (Ausnahme: Den Haag, motorisierte Zweiräder). Insbesondere für die Pkw-Fahrer ist der Befund eindeutig. Der Anteil an Active Time liegt nur zwischen 14 und 24 Minuten. Wer also mit dem Auto fährt, muss zusätzliche Aktivitäten unternehmen, wenn er ausreichend körperliche Bewegung erreichen möchte.
Der Einbezug von Wege-Etappen gibt Mobilitätsanalysen eine ganz neue Qualität. So kann beispielsweise die Zeit bestimmt werden, die wir tatsächlich zu Fuß gehen. Oder auch die Zeit, in der wir uns körperlich bewegen: Wer mindestens einmal am Tag den Umweltverbund nutzt, kommt dabei über die 30 Minuten-Grenze und wer ein Auto nutzt, schafft das nicht.
Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2017, erschienen.
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