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Die Sicherheit im Straßenverkehr von „besonders schützenswerten“ Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmern, wie beispielsweise Kindern oder Menschen mit Beeinträchtigungen, ist eine selbstverständliche Notwendigkeit. Insbesondere an Haupt- und Durchgangsstraßen stellt der motorisierte Verkehr eine Gefahr gegenüber diesen Gruppen dar. Mit Einführung der Verwaltungsvorschrift zu § 45 (9) 6 der Straßenverkehrsordnung (StVO) wurde bereits im Mai 2017 eine theoretische Grundlage zur Geschwindigkeitsbeschränkung geschaffen, um diese Gefahr weiter einzudämmen. Doch wie sieht es mit der praktischen Umsetzung aus?

Rechtsgrundlage:

§ 45 (9) 6 StVO → Erlaubt werden die „innerörtlichen streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen von 30 km/h [...] auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) oder auf weiteren Vorfahrtstraßen [...] im unmittelbaren Bereich von an diesen Straßen gelegenen Kindergärten, Kindertagesstätten, allgemeinbildenden Schulen, Förderschulen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern.“

Ende 2016 hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur die neue Rechtsnorm § 45 (9) 6 StVO zur Geschwindigkeitsbeschränkung verabschiedet(1). Mussten bisher immer Gründe des Lärmschutzes oder der Nachweis eines Unfallschwerpunktes aufgeführt werden, um eine Reduzierung der Geschwindigkeit an Hauptverkehrsabschnitten vornehmen zu können(2), gilt seit der Änderung der Rechtsnorm § 45 StVO vor sozialen Einrichtungen die Regelgeschwindigkeit 30 km/h. Durch Umkehr des Regelfalls wird Tempo 50 hier zur begründeten Ausnahme. Durch die Änderung der StVO wurde somit die Möglichkeit geschaffen, die Bevölkerung an aufgeführten Einrichtungen auch präventiv zu schützen, ohne dass zuvor Unfälle geschehen mussten.

Umsetzung der Möglichkeit in Kommunen

Knapp zwei Jahre nach in Kraft treten des § 45 (9) 6 StVO, hat sich der Fachverband Fußverkehr bei Kommunen in Deutschland umgehört, wie es um die Umsetzung des Paragraphen in der Praxis steht. 500 Kommunen wurden angeschrieben, von denen uns 107 Gemeinden und Städte bereitwillig Auskunft erteilten. Dabei ging es um die Beantwortung der Fragen, ob eine Umsetzung bereits stattgefunden hat, welche Schwierigkeiten zu erkennen oder befürchten sind, welche Auswirkungen die Umsetzung auf das Verkehrsgeschehen hat und ob weitere Erleichterungen vom Gesetzgeber gefordert werden.

Gut die Hälfte (54%) aller befragten Kommunen haben die neu geschaffene Möglichkeit genutzt und Geschwindigkeitsreduzierungen aufgrund der neuen Rechtsgrundlage § 45 (9) 6 StVO in mindestens einem Fall umsetzen können. Überwiegend erfolgte diese vor Schulen und Kitas. Die Bereitschaft oder gesehene Notwendigkeit zum Schutz von Kindern überwiegt somit gegenüber anderen Gruppen besonders schützenswerter Verkehrsteilnehmer und -teilnehmer­innen. Nach der Verwaltungsvorschrift zum § 45 (9) 6 StVO sind die Geschwindigkeitsbegrenzungen „soweit Öffnungszeiten (einschließlich Nach- und Nebennutzungen) festgelegt wurden, auf diese zu beschränken.“ Die Anordnung wurde vor einigen Bildungseinrichtungen umgesetzt, wodurch Ferienzeiten und Abend- sowie Nachtstunden von der Tempo 30 Regelung ausgenommen sind.

In jedem Fall bedarf es aufgrund der Rechtslage einer Einzelfallprüfung. Jede sechste Gemeinde untersucht aktuell noch mindestens einen Streckenabschnitt oder befindet sich in der Planungsphase zur Umsetzung. Verantwortliche Gründe, weshalb bei 40% bislang keine Umsetzung der neuen Regelung vorgenommen wurde, sahen betroffene Kommunen in der fehlenden Notwendigkeit oder in unzureichenden Voraussetzungen. Unter anderem wurde aufgeführt, dass dem Verkehrsfluss Rechnung getragen werden muss und eine Beschilderung an einigen Stellen unvertretbare Behinderungen des fließenden Verkehrs nach sich ziehen würde.

Knapp die Hälfte (44%) der betroffenen Kommunen gab als Begründung an, dass bei einem Großteil der Einrichtungen bereits eine Temporeduzierung auf 30 km/h vorliege, wobei diese nur selten an das klassifizierte Straßennetz angebunden seien, sondern sich in Nebenstraßen, vorwiegend in Tempo 30-Zonen befänden. Wie mehrere Städte berichteten, hat das Land Nordrhein-Westfalen bereits vor der StVO-Änderung Tempo 30-Abschnitte zum Schutz von Kindern unterstützt, ebenso wie Mecklenburg-Vorpommern. Ersteres hat „mit einem Erlass aus dem Oktober 2014 die Straßenverkehrsbehörden sensibilisiert, dass gemäß Artikel 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention die Interessen von Kindern bei Entscheidungen über die zulässige Höchstgeschwindigkeit hoch zu gewichten seien.“ Mit der neuen Rechtsgrundlage der StVO wurde das Vorgehen auf Bundesebene bestätigt und der Handlungsspielraum diesbezüglich erweitert.

Herausforderungen bei der Umsetzung

Rund ein Drittel (34%) der Kommunen gab in der Befragung an, keine Schwierigkeiten bei der Umsetzung gehabt zu haben, wohingegen jede fünfte Kommune (20%) Probleme zu bewältigen hatte bzw. hat:

In der Umfrage wurde deutlich, dass Zuständigkeiten zur Anordnung der Maßnahme nicht einheitlich geregelt sind und häufig Abstimmungsaufwand und Kooperationsgeschick erfordern. Meist untersteht die Straßenverkehrsbehörde direkt den Kommunen, manchmal auch den Landkreisen oder dem Land und somit deren Zustimmungspflicht. Einige Länder haben zusätzlich restriktive Verwaltungsvorschriften erlassen, welche von einer Kreisstadt in Niedersachsen als weitere Einschränkung wahrgenommen wurden. Fehlende finanzielle und personelle Ressourcen behindern zusätzlich ein zeitnahes Handeln in einigen Kommunen. Bürokratische Abläufe und Vorgaben erschweren somit das Umsetzen der Maßnahme unnötigerweise.

Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen stellt eine wiederkehrende Herausforderung dar, unter anderem auch in der Interpretation der neuen Verwaltungsvorschrift zum § 45 (9) 6 StVO. Ein vermehrtes Problem war dabei die unklare Auslegung der Formulierung „soweit die Einrichtungen über einen direkten Zugang zur Straße verfügen“. Eine Großstadt in Hessen stellte sich hierbei die berechtigte Frage, ob dieser „direkte Zugang“ auch der hauptsächlich genutzte sein muss. Des Weiteren wurde die Forderung, „in die Gesamtabwägung […] die Größe der Einrichtung […] einzubeziehen“ als zu ungenau erachtet, da hierzu keine genaueren Angaben oder Stellungnahmen des Gesetzgebers vorliegen. Im Zweifel gibt es aufgrund solcher Unklarheiten dann keine Geschwindigkeitsbeschränkung.

Die Kommunikation mit der Bevölkerung stellte sich als nicht minder schwer heraus. Während vereinzelt Kommunen mit den Beschwerden und Protesten der Autofahrerinnen und Autofahrer zu kämpfen hatten, mussten andere Kommunen der Bewohnerschaft erklären, warum eine Umsetzung der Geschwindigkeitsbeschränkung nicht an allen Stellen möglich ist oder zeitlich bzw. räumlich begrenzt werden muss. In einer mittelgroßen Stadt des Rhein-Main-Gebietes kam es zu der unerwarteten Situation, dass auf Ansuchen einiger Bürger und Bürgerinnen bereits vorhandene Tempo 30-Abschnitte an Hauptverkehrsstraßen ergänzt werden sollten, diese bei einer Prüfung jedoch für rechtswidrig erklärt wurden und somit aufgehoben werden mussten, was berechtigterweise auf breites Unverständnis in der Bevölkerung stieß.

Eine Herausforderung aufgrund der Geschwindigkeitsreduzierung sahen drei Städte in massiven Auswirkungen auf den öffentlichen Personennahverkehr, unter anderem durch verlängerte Fahrtzeiten. Eine Kommune im Südwesten äußerte die Problematik, dass Rettungsfahrzeuge bei (mit)verschuldeten Unfällen auf Tempo 30 Strecken stärker haften müssen als auf 50 km/h- Strecken. Die Begrenzung „insgesamt auf höchstens 300 m Länge“ der streckenbezogenen Tempo 30 Anordnung wurde ebenfalls als Erschwernis erachtet, da es hierbei zu einem „Flickenteppich“ von Tempo 30 und Tempo 50 Abschnitten kommen kann, was ein Hindernis für die Sicherheit und den Verkehrsfluss darstellen würde. Ein weiteres Problem wurde in der Gefahr eines Schilderwaldes gesehen durch schnell wechselnde Geschwindigkeitsbeschränkungen und gegebenenfalls Zusatzzeichen, welcher eine Verwirrung der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer zur Folge hätte.

Auswirkungen auf das Verkehrsgeschehen

Die Umkehrung des Regelfalls an beschriebenen Streckenabschnitten von Tempo 50 auf Tempo 30, erfordert nicht nur in der Politik und Verwaltung ein Umdenken. In der Umfrage wurde deutlich, dass es vermehrt zu fehlender Akzeptanz oder Wahrnehmung der neuen Tempo 30 Beschilderung durch die Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer kommt. Jede zehnte Kommune äußerte sich hierzu besorgt. Im Gegensatz dazu hoben knapp ein Viertel der Befragten (23%) die deutlich positiven Auswirkungen der Regelung hervor. Über die Hälfte der Teilnehmenden (54%) konnte oder wollte diesbezüglich keine Aussage treffen.

Die Akzeptanz der Geschwindigkeitsreduzierung hängt laut Aussagen einiger Kommunen stark davon ab, ob besonders schützenswerte Personen oder entsprechende soziale Einrichtungen gut erkennbar sind für die Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer. Hierzu wurden in mehreren Kommunen Zusatzschilder angebracht mit dem Hinweis auf die soziale Einrichtung. Um die positive Wirkung der neuen Tempo 30 Beschilderung zu gewährleisten, erachtet es rund jede vierte Kommune (28%) für notwendig, bauliche Maßnahmen und Geschwindigkeitskontrollen ergänzend umzusetzen.

Forderungen nach weiteren Erleichterungen

Die Frage nach weiteren Erleichterungen seitens des Gesetzgebers, wurde nur von gut einem Drittel (36%) der Kommunen beantwortet. Jede vierte Kommune sah dabei kein Erfordernis für weitere Erleichterungen. - Folgende Forderungen wurden von den übrigen Kommunen geäußert:

Vom Gesetzgeber wurde eine deutliche Positionierung zur Auslegung des § 45 (9) 6 StVO gefordert, unter anderem zur Frage des „direkten Zugangs“ und einer Mindestgröße der schützenswerten Einrichtungen, z.B. in Form der Anzahl an Betten oder Betreuungsplätzen. Nicht nur kleine Kommunen sahen sich hier ihrer Eigenverantwortung überlassen. Eine Großstadt in Niedersachsen wusste sich aufgrund fehlender Unterstützung der obersten Straßenverkehrsbehörde selbst zu helfen, und nahm eigenmächtig eine Selbstabstimmung mit anderen Städten vor.

Des Weiteren wurde eine aktive Öffentlichkeitsarbeit für eine bestmögliche Einbeziehung der Bevölkerung gewünscht, um die teils schwierige Kommunikation in den Gemeinden zu erleichtern. Neben einer fachlichen Unterstützung wurde auch eine finanzielle Unterstützung durch den Gesetzgeber erwartet. Um den verwaltungsrechtlichen Schwierigkeiten der Zustimmungspflichten zu begegnen, forderten insbesondere kleine Kommunen mehr Kompe­tenzen der Selbstverwaltung und die Möglichkeit zur selbständigen Anordnung und Umsetzung der Maßnahme.

Mehr Ermessensspielraum wünschten sich einige Städte bei der Auslegung der „höchstens 300 m Länge“ um nahe beieinander liegende Tempo 30 Abschnitte miteinander verbinden zu dürfen. Hierdurch sollen Verunsicherungen von Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmern bezüglich der erlaubten Geschwindigkeit vermieden werden. Unterstützt werden sollte diese Maßnahme durch eine Vereinheitlichung von Zeiten, auf welche die Beschilderung reduziert werden kann. Drei Städte gingen sogar einen Schritt weiter und forderten die generelle Umkehr der Geschwindigkeitsregelung in der StVO innerorts, also Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit. Mit Umsetzung dieser Forderungen könnte ein weiterer wesentlicher Schritt zur Sicherung besonders schützenswerter Fußverkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer getan werden.

Fazit

Der Gesetzgeber gibt den Kommunen ein Rechtsmittel an die Hand, um die Sicherheit besonders schützenswerter Verkehrsteilnehmer/ innen zu fördern. Dabei lässt er die Kommunen jedoch weitestgehend mit der Handhabung des § 45 (9) 6 StVO alleine. Eine klare Stellungnahme der obersten Verkehrsbehörde wäre an diesem Punkt hilfreich. Obwohl die Änderung der StVO bereits eineinhalb Jahre zurück liegt, scheint diese noch nicht bei allen Kommunen „Programm“ zu sein. Abzuwarten bleibt, wie stark die Zahl der Umsetzungen noch steigen wird und welche Langzeitauswirkungen die Maßnahme mit sich bringt. Weitere Erleichterungen bei der Ausweisung von Tempo 30 Abschnitten, auch flächendeckend, sind aus Sicht von Kommunen wünschenswert.

In Kürze

Im Mai 2017 gab der Gesetzgeber mit der Änderung des § 45 (9) 6 StVO Kommunen die Möglichkeit zur Ausweisung von Tempo 30 Abschnitten vor sozialen Einrichtungen an Hauptverkehrsstraßen. Doch bisher wird diese Rechts­grundlage nur teilweise in den Kommunen umgesetzt. Einige haben mit Folgeproblemen zu kämpfen und fordern weitere Erleichterungen durch den Gesetzgeber.

Quellen:

(1) Bundesanzeiger vom 29.05.2017

(2) VCD 2018: Tempo 30 Soforthilfe-Papier

 

Dieser Artikel von Helena Blaschke ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2019, erschienen.

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Böse Zungen behaupten, es gäbe drei Arten von Radfahrern. Die ersten fahren mit dem Fahrrad von A nach A - drehen eine Runde in der Freizeit damit. Die zweiten fahren mit dem Fahrrad von A nach B - benutzen es also als ganz normales Verkehrsmittel. Und die dritten nehmen ihren Drahtesel in Bahn und Bus mit. Die Vorstellung ist ja auch zu verlockend: Die Benutzung des Fahrrads ist (zweifellos) umweltfreundlich, für die Benutzung von Bus und Bahn gilt das auch, also muss doch die Mitnahme des Fahrrads in Bahn und Bus doppelt umweltfreundlich sein.

Szenenwechsel Verkehrsverbund Rhein-Sieg (VRS). Im September 2017 stand der Fortbestand des Semestertickets der Universität Bonn auf Messer‘s Schneide. Zuvor hatten der VRS beziehungsweise die in ihm zusammengeschlossen Verkehrsunternehmen entschieden, die Fahrradmitnahme mit dem Semesterticket ohne Zuzahlung wochentags erst ab 19 Uhr zu erlauben (am Wochenende weiterhin ganztägig). Für Jobticket-Inhaber war die kostenlose Fahrradmitnahme schon bisher erst ab 19 Uhr möglich, bei den Schülertickets gilt die Regelung seit 01. August 2017. Für die Semestertickets gilt es ab dem Wintersemester.

Der Allgemeine Studierenden-Ausschuss (AStA) der Universität Bonn wollte diese Einschränkung nicht akzeptieren und verweigerte zunächst die Zustimmung zu den geänderten Vertragsbedingungen. Als jedoch klar wurde, dass die Verkehrsunternehmen kein Angebot unterbreiten, welches die ganztägige Fahrradmitnahme weiterhin inkludiert, blieb nur die Wahl, das Semesterticket insgesamt aufzugeben, oder die gestrichene Fahrradmitnahme zu schlucken. Am Abend des 27. September stimmte das Studierendenparlament dann doch noch der Änderung und damit der Fortsetzung des Semestertickets zu.

Grund für die Einschränkung ist, dass es immer wieder - insbesondere zur Hauptverkehrszeit - Konflikte zwischen Fahrgästen mit und Fahrgästen ohne Fahrrad gab. So rücksichtslos, wie man manche Fahrradfahrer in Fußgängerzonen oder auf Wanderwegen erlebt, so haben sich einige Zeitgenossen eben auch in den Fahrzeugen, auf den Bahnsteigen und den Unterführungen benommen.

Fahrräder im Zug

Doch wie rational ist nun die Fahrradmitnahme in der Bahn? (Ich beschränke mich im Rest des Beitrags auf die Fahrradmitnahme im Zug - im Bus spielt sie eine untergeordnete Rolle, allenfalls noch auf einigen Steigungsstrecken, wo das Fahrradfahren mühsam ist.) Die Mitnahme eines Fahrrades benötigt etwa so viel Platz wie die eines weiteren Fahrgastes. Das heißt, wenn alle Fahrgäste ein Fahrrad mitnehmen, dann kann ein Zug nur noch halb so viele Fahrgäste mitnehmen. Der Umweltvorteil der Bahn gegenüber dem Pkw wird etwa mit Faktor 4 angegeben. Dieser Wert gilt im Mittel über alle Tageszeiten und damit bei einem Besetzungs­grad der Züge von im Schnitt grob 25 Prozent.

In der Hauptverkehrszeit (HVZ), wenn die Züge zu 100 Prozent ausgelastet sind, erhöht sich der Umweltvorteil somit auf den Faktor 16. Dies gilt jedoch nicht für die Grenzwertbetrachtung einer zusätzlichen Personen- oder Fahrradbeförderung. Denn hierfür werden zusätzliche Kapazitäten (mit entsprechendem Ressourcenverbrauch) benötigt, die dann den Rest des Tages oftmals nur „warme Luft“ befördern. Die Annahme, dass der ganztägige Durchschnitt auch für zusätzliche Beförderungen in der HVZ stimmt, ist realistisch. Somit ist die Fahrradmitnahme zur HVZ aus Umweltsicht doppelt so gut wie eine Fahrt mit dem Auto, aber nur halb so gut wie die Benutzung des Zugs ohne Fahrrad. Die Fahrradmitnahme zu Zeiten (und auf Streckenabschnitten), zu denen die Züge nicht voll ausgelastet sind, ist unkritisch und aus Umweltsicht immer ein Vorteil.

Fahrräder zum Zug

Bleibt die verkehr- und wirtschaftliche Betrachtung. Das Fahrrad ist ein sehr kostengünstiges Verkehrsmittel, vermutlich sogar billiger als das Zufußgehen; man betrachte nur die Kosten für eine Neubesohlung von Schuhen. Nun ist das Haltestellennetz der Eisenbahn systembedingt recht grobmaschig, das heißt für viele Verkehrs­relationen (Haus zu Haus) sind erhebliche Wege von und zum Bahnhof erforderlich. Dieser Systemnachteil ließe sich durch auch einen massiven Ausbau des Bahnnetzes nur marginal ändern. Insofern bestehen große Chancen, den Einzugsbereich des Schienennetzes mit dem Fahrrad deutlich zu vergrößern - und dies in ökologisch ausgesprochen günstiger Weise.

Nur hat das Fahrrad einen gravierenden Nachteil, und der ist dessen Empfindlichkeit gegenüber Diebstahl und Vandalismus. Für die Mitnahme eines Fahrrades im Zug besteht keine Notwendigkeit, wenn es nur im Zu- oder Abbringerverkehr benötigt wird und wenn am betreffenden Bahnhof eine sichere Abstellmöglichkeit gegeben ist; das können bewachte Fahrrad-Stationen, abschließbare Boxen oder auch nur einfach gut kameraüberwachte Fahrradständer sein. Wenn im Zu- und im Abbringerverkehr das Fahrrad das Verkehrsmittel der Wahl ist, dann ist auch an die Variante „zwei Fahrräder“ mit guten Abstellmöglichkeiten an beiden Bahnhöfen zu denken. Und da es bei der sicheren Abstellung starke Skaleneffekte bei größeren Mengen gibt, spricht alles dafür, genau diese Kombinationen zu fördern. Die Fahrradmitnahme im Zug hingegen ist keine so gute Lösung. Um es volkswirtschaftlich sinnvoll zu steuern, ist ein angemessener Fahrpreis für die Fahrradmitnahme im Zug während der HVZ durchaus sinnvoll.

 

Reaktionen auf den Beitrag

Unterschiedliche Beweggründe berücksichtigen

Die Frage „sollte die Fahrradmitnahme in der Hauptverkehrszeit wieder eingeschränkt werden?“, geht m.E. am Thema vorbei, da viel zu pauschal gestellt. Zum einen sind die Verkehrsmittel, auch Bahnen, sehr unterschiedlich in ihren Möglichkeiten, Fahrrädern zu transportieren. Und die Beweggründe, ein Fahrrad im Zug zu transportieren, sind ebenfalls sehr unterschiedlich.

Im Artikel von Wolfgang Dietrich Mann wird immer davon ausgegangen, dass ein Berufspendler jeden Tag sein Fahrrad im Zug dabei hat und dies auch noch sehr leichtfertig macht. Dies ist doch nur einer der möglichen Gründe, ein Fahrrad im Zug mitzuführen. Und ich kenne niemanden, der sich diesen Stress aus Lust und Laune gibt.

Soweit die Möglichkeit besteht, den Weg zum oder vom Zug sinnvoll zu Fuß oder per ÖPNV zu erledigen, wird das wohl für Pendler in der Regel die erste Wahl sein. Es gibt aber auch die Gelegenheitsfahrer, z.B. in der Bahn im Fernverkehr, die das Rad mit in den Urlaub nehmen. Deren Ansprüche sind nicht zu vergleichen mit denen von Berufpendlern.

Diese Gemengelage von Verkehrssituationen und Nutzung mit einer Berechnung der Umweltbelastung und der Wirtschaftlichkeit zu erschla­gen, geht meiner Meinung nach völlig am Thema vorbei und ist nicht besonders hilfreich.

Mehr und bessere Abstellanlagen

Ich bin der Ansicht, dass der Transport von Fahrrädern in öffentlichen Verkehrsmitteln untersagt sein sollte – stattdessen, wie im Artikel beschrieben, sind an Bahnhöfen und Haltestellen ausreichend viele und geeignete Abstellmöglichkeiten einzurichten.

Nahverkehrszüge, S- und U-Bahnen sind nicht nur werktags während der Hauptverkehrszeiten voll oder überfüllt. Auch wenn Fahrradtransportierende Rücksicht nehmen und aufpassen, dass sie niemanden behindern, kommt es dennoch zu Problemen, wenn im betroffenen Eingangsbereich Personen mit Rollator, im Rollstuhl oder mit Kinderwagen oder in Begleitung kleiner Kinder ein- oder aussteigen wollen. Es wurden auch schon Fahrradtransportierende gesehen, die mit ihrem Rad drei Sitzplätze blockieren oder ihr Rad an die Tür lehnen (in der Annahme, dass der Bahnsteig auf der anderen Seite sein werde oder Fahrgäste zum Ein- oder Aussteigen auch eine andere Tür benutzen können). Ganz pfiffige Zeitgenossen setzen sich schon in der Bahn in den Sattel, sodass sie, sobald sich die Türen öffnen, als erste die Wartenden auf dem Bahnsteig erschrecken können.

Da viele Haltestellen und Bahnsteige barrierefrei zu erreichen sind, fühlen sich manche Radfahrer eingeladen, bis zu dem Punkt auf dem Bahnsteig zu radeln, bei dem sie einsteigen wollen. Das ist, insbesondere für den Radler, gefährlich und alle anderen können sich belästigt oder gefährdet fühlen.

Wer gut schmiert, der gut fährt – doch Kettenfett auf der Kleidung von Mitreisenden ruiniert deren Hosen und Röcke. Auch sonstiger Dreck von Fahrrädern und auf der Ausrüstung mancher Radler kann die Bekleidung von Mitreisenden für den geplanten Anlass, Fahrt zur Arbeit oder ins Theater, unpassend machen.

Nur wenn ein Fahrrad auf der Radtour kaputt geht, sollte man es in der Bahn nach Hause transportieren dürfen – quasi als sperriges Gepäckstück auf Rädern.

Fehlbelegungen

Innerhalb der Fahrradabteile könnte man es wohl zulassen. Jedoch sind diese meist bereits durch Fahrgäste ohne Rad ausgelastet, so dass dann Fahrgäste mit Rad irgendwo einsteigen, was ich für nicht günstig halte. Allerdings bin ich der Ansicht, dass wieder Fahrradwagen, die an der Spitze oder Ende des Zuges angehängt sind, wieder eingesetzt werden. Dort werden nur die Fahrräder abgegeben, Man erhält eine Marke und sagt, an welchem Bahnhof man wieder aussteigt und erhält das Rad zurück. Dies kostet ggf. ein, zwei Minuten längere Haltezeit, würde aber den Komfort für alle erhöhen und die Mitnahme von Fahrrädern generell erleichtern. Dazu muss natürlich auch wieder mehr Personal bereit gestellt werden, das die Annahme und Ausgabe bewerkstelligt. Aber auch seitens der Politik muss man wissen, was man will. Sollen die Städte und auch ländliche Strukturen wieder lebenswerter und vor allem klimafreundlicher werden, dann muss dafür auch ein Umdenken erfolgen und ein Einsatz geleistet werden. Im Übrigen gab es so etwas schon mal.

Besser ohne Fahrgäste

Aus Umweltsicht ist die Fahrradmitnahme im Zug nur halb so gut wie die Benutzung des Zuges ohne Fahrrad, lese ich in dem o.g. Beitrag. Dem kann ich nur hinzufügen, ohne Fahrgäste fährt der Zug aufgrund des minderen Gewichts noch umweltfreundlicher.

Unsere Züge sollten doch so gut mit Waggons ausgestattet und die Taktung so angelegt sein, dass jeder Passagier - ob mit oder ohne Fahrrad, Rollstuhl, Kinderwagen - zufriedenstellend befördert werden kann. Unsere kaputt gesparte DB kann das im Moment nicht leisten. Ich wehre mich dagegen, dass einer Mängelverwaltung noch Vorschub geleistet wird und wir darüber diskutieren, wer mit der DB wann fahren darf.

Nur als Pannenhilfe

Ich selber mache das nur, wenn das Fahrrad eine Panne hat. Mit meinem Pedelec fahre ich von Warnemünde bis Südstadt (ca. 20 km) ca. 1 Stunde. Zu Fuss und ÖPNV benötige ich die gleiche Zeit von Tür zu Tür. Allerdings verdient der ÖPNV und der Staat an mir. Aber ich habe volles verständnis für diejenigen, die das Fahrrad als Zubringer zur S-Bahn benutzen und es auch mitnehmen - besser als ein Auto zu nehmen. In einer menschengerechten Stadt bestünde kein Zwang zum Radfahren oder Bahn und Bus. In Rostock kommt man von einer auf die andere Warnowseite nur mit Bus oder Fähre. Ansonsten müssen Radfahrer (Cargobikes sowieso) immer außen rum. Also statt 4 sind das dann locker 20 km. Sich 2 Fahrräder zuzulegen und diese dann über Nacht irgendwo am Bahnhof abzustellen ist m.E. unzumutbar. Meiner Tochter wurden auf diese Weise schon 2 Sättel gestohlen. Und wer von den Autofahrern legt sich 2 Fahrzeuge zu, die er dann jeweils am Bahnhof abstellt? Ein Fahrrad beansprucht in der Bahn Platz. An dessen Stelle könnten 2-3 Personen stehen. Aber ein 150 kg schwerer Mensch beansprucht auch den Platz von 3 schlanken Personen. Im Gegensatz zum Fahrradbesitzer braucht er nur einen Fahrschein ziehen.

Nur mit Reservierung?

Die Frage, ob an der aktuellen Praxis der Fahrradmitnahme in Nahverkehrs- bzw. Regionalzügen etwas geändert werden muss, kann meiner Meinung nach nicht nur auf die Hauptverkehrszeit bezogen betrachtet werden. Ich wohne in einer Stadt, die kein schnell erreichbares und für meine Zwecke ausreichend großes Naherholungsgebiet aufweist. D.h. wenn ich eine längere Radtour oder Wanderung machen möchte, bin ich - da ich auf ein Auto verzichte - darauf angewiesen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln einen anderen Ort aufzusuchen. Folgende Probleme gibt es dabei:

  • In den S-Bahnen sind meistens Klappsitze in den sogenannten Fahrradabteilen eingebaut. Diese Klappsitze erfreuen sich bei vielen Reisenden, die weder ein Fahrrad noch einen Kinderwagen mit sich führen, sehr großer Beliebtheit. Das heißt, man muss jedesmal darum bitten, dass der erforderliche Platz - das sind etwa vier Klappsitzbreiten allein für das Rad - frei gemacht wird. Dazu hat nicht jeder Radfahrer Lust, von daher stehen viele Radler mit ihrem Rad dann doch wieder in den Einstiegsräumen. Dies sorgt für Verzögerungen beim Ein- und Ausstieg und in Folge dessen für Verspätungen und ggf. Anschlussverluste.
  • Es gibt keine vernünftigen Einrichtungen, an denen man das Rad befestigen könnte. D.h. es droht umzufallen, man muss es festhalten etc. Dazu muss gesagt werden, dass ich die Fahrradhalter in den ICs oder mittlerweile auch wieder ICEs zwar gut finde, diese stehen aber viel zu dicht. Man muss schon zwischen zwei Räder treten können, auch um ein Schloss anzubringen; bei der aktuellen Anordnung kommen sich die Lenker der einzelnen Räder ins Gehege.
  • Die Anzahl der maximal mitnehmbaren Räder ist häufig - es gibt Ausnahmen - nicht angegeben. Die Folge besonders an Tagen schönen Wetters: die Räder werden aneinander gelehnt, ich habe schon erlebt, wie es dabei zu Beschädigungen oder auch ölverschmierten Hosen gekommen ist. Man muss immer bedenken: in Schienenfahrzeugen müssen sich Reisende so sichern, dass der Zug jederzeit ohne dass jemand zu Schaden kommt, eine Zwangs-/Not- oder Schnellbremsung einlegen kann. Das gleiche gilt für die Fahrräder. Diese müssen so gesichert sein, dass sie eine Schnellbremsung etc. unbeschadet überstehen. Bei den aktuell entstehenden Fahrradknäueln ist dies nicht gewährleistet.
  • Häufig sind für den Notfall freizuhaltende Flächen ebenfalls von Rädern oder ggf. dann auch Reisenden zugestellt, so dass ein Sicherheitsproblem besteht.
  • Gleichzeitig kann man beobachten, dass es in manchen Regionen die Regelung gibt, dass z.B. vor 9 Uhr von mo-fr außer an Feiertagen für die Fahrradmitnahme eine Fahrkarte zu lösen ist. In diesen Regionen gibt es aber Züge, z.B. solche, die gegen die Lastrichtung verkehren, wo genug Platz ist, dass eine gewisse Anzahl an Fahrrädern mitgenommen werden kann, wieso dann eine Abschreckungs- und Strafgebühr? Diese löst doch das Problem nicht.
  • Das jetzige Modell hat schon häufig dazu geführt, dass bei Überbeanspruchung des Fahrradabteils durch zuviele Räder und Begleitpersonen der Zug nicht weiterfahren konnte, vor allem weil die Türen nicht geschlossen werden konnten (da die Lichtschranke ein Hindernis wahrnahm). Es gab schon einige Fälle, da konnte die Problematik erst durch die vom Lokführer herbeigerufene Bundespolizei gelöst werden.
  • Vielen Radfahrern, die das Rad mit in den Zug nehmen, fahren mit dem Rad auf den Bahnsteigen. Das ist verboten und geht gar nicht. Sie gefährden damit, dass die Bahnen überhaupt noch Räder mitnehmen. Häufig haben Radfahrer auch alle Zeit der Welt beim Ein- oder Ausstieg, dass der Zug einen Fahrplan hat, ist vielen nicht bekannt.

Fazit: Wo nur begrenzt Platz ist, kann auch nur eine begrenzte Anzahl - in dem Fall von "Fahrrädern mit Begleitpersonen" befördert werden. Als ersten Schritt gehört der Großteil der Klappsitze ausgebaut. Es sollten - da ja die Räder nicht diebstahlsicher befestigt werden können - nur so viele Klappsitze im Fahrradabteil verbleiben, dass sich Radler, die auf ihr Rad aufpassen müssen, setzen können und ggf. 1-2 weitere für Personen mit Kinderwagen. In einem weiteren Schritt - ggf. erst bei der Umstellung der Fahrzeuge - wären geeignete Abstellanlagen für Fahrräder in die Fahrradabteile einzubauen. Da mittlerweile fast jeder ein Handy hat, wäre ich ein Fan davon, ca. 75 Prozent der Fahrradplätze im jeweiligen Zug des Nah- und Regionalverkehrs über eine Reservierung per Handy zu vergeben. Kommt jemand nicht, kann immer noch ein anderes Rad den Platz einnehmen. Auf Grund des im Artikels angesprochenen Umweltvorteils der Bahn, der durch zuviele mitgenommene Räder schwindet, kann es niemals Ziel sein, allen die ein Fahrrad mitnehmen wollen dies auch jederzeit zu ermöglichen.

Ich fasse zusammen: Das Problem muss insgesamt betrachtet und gelöst werden, und es ist nicht sinnvoll, hier eine Extrabehandlung der Hauptverkehrszeit vorzunehmen. Ihre Hausaufgaben müssen aber wohl beide Seiten machen, Anbieter und Nutzer, soll es zu einer Verbesserung und Entspannung der Situation kommen. Ich persönlich verzichte sogar auf Reisen mit dem Zug aufs Rad, weil so, wie die Fahrradmitnahme derzeit organisiert ist, Konflikte vorprogrammiert sind. Nur bei den Zügen des Fernverkehrs stellt sich dies anders dar.

 

Dieser Artikel von Wolfgang Dietrich Mann ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2018, erschienen. Dieser Beitrag wurde in den GRV-Nachrichten Nr. 110 zuerst veröffentlicht. Hier erscheint er leicht gekürzt.

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Mit dem Urteil vom 27.02.2018 hat das Bundesverwaltungsgericht mit einigen Ausnahmen bestätigt, dass streckenbezogene Fahrverbote, die durch Städte und Kommunen erlassen werden, zur Luft­reinhaltung rechtlich zulässig sind. Damit wurden die Urteile der Verwaltungsgerichte Düsseldorf und Stuttgart bestätigt, dass ausschließlich Fahrverbote über ausreichend Schadstoffminderungspotenzial verfügen, die existierenden Grenzwerte einzuhalten. Was bei den Urteilen häufig aus dem Fokus gerät: Es wurde in Stuttgart auch die Frage der Verhältnismäßigkeit geklärt. In der Abwägungsfrage zwischen den Rechtsgütern Leben und Gesundheit gegenüber Eigentum und allgemeine Handlungsfreiheit wurde zugunsten ersterer entschieden (vgl. Punkt 5.2.4 der Urteilsbegründung VG Stuttgart, 13 K 5412/15).

Durch das Urteil wurde auch die Verkehrspolitik der vergangenen Jahre implizit als nicht gesetzeskonform erklärt. Hier wurde – und wird nach wie vor – in der zu klärenden Abwägungsfrage gegenteilig entschieden. So konnte die Bundesregierung trotz mehrmaliger Initiativen nicht die Gesetzesgrundlage für die „Blaue Plakette“ schaffen, welche die Klagen der Deutschen Umwelthilfe obsolet gemacht hätten. Die bundespolitische Entscheidung gegen wirksame Maßnahmen bedeutet damit auch, dass die Gesundheit von schadstoffbelasteten Personengruppen gegenüber der Handlungsfreiheit von Dieselautofahrenden immer noch nachgeordnet wird.

Dass sich von bundespolitischer Seite an diesem Zustand auch kurzfristig nichts ändern wird, lässt die vorletzte Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel erwarten, in der sie bekräftigt: „Flächendeckende Fahrverbote lehnen wir ab. Wir brauchen vielmehr maßgeschneiderte Lösungen für die von Grenzwertüberschreitungen betroffenen Kommunen“ (RegErkl vom 21. März 2018). Damit wird die „Blaue Plakette“ als bundesweit einheitliche Lösung explizit abgelehnt, während den derzeit einzig wirkungsvollen „maßgeschneiderten Lösungen für [...] Kommunen“, nämlich den streckenbezogenen Fahrverboten, implizit zugestimmt wird. Die Bundespolitik hat sich damit aus Debatte um die momentan drängendste Frage der städtischen Verkehrsplanung vorerst zurückgezogen.

Fahrverbote – Handlungsmacht für Kommunen

In der Konsequenz liegt die verkehrspolitische Verantwortung – aber auch die Handlungsmacht – nun verstärkt im Feld der Kommunen. Sie müssen die „maßgeschneiderten Lösungen“ selbst erarbeiten, um die Emissionsgrenzwerte in Zukunft einzuhalten. Hierzu haben zivilgesellschaftliche Akteure, und dabei insbesondere die Deutsche Umwelthilfe, durch ihre Klagen Rechtsicherheit für die Kommunen gegenüber dem Bund geschaffen. Zusätzlich wurde der verkehrsplanerische Spielraum auf kommunaler Ebene stark erhöht.

Dennoch können die Urteile aus Sicht der integrierten Verkehrsplanung nicht uneingeschränkt positiv bewertet werden. Die singuläre Maßnahme von streckenbezogenen Fahrverboten widerspricht dem Anspruch einer strategischen Verkehrsplanung. Es werden punktuelle Einschränkungen ad-hoc aufgesetzt, die weder Parallelstraßen, Stadt-Umland-Beziehungen noch andere Verkehrsmodi berücksichtigen. Darüber hinaus verfolgt die Maßnahme kein langfristiges Ziel, das über den Anspruch der Einhaltung von Grenzwerten hinausgeht. Die Personengruppe der Dieselautonutzenden scheint dabei zufällig gewählt. Demgegenüber verfolgt eine integrierte Verkehrsplanung den Anspruch, die Abhängigkeiten von Infrastruktur, Verkehr und Mobilität zu berücksichtigen und dabei neben den Umweltzielen auch soziale und ökonomische Interessen zusammenzuführen.(1)

Fahrverbote als Wegbereiter einer integrierten Verkehrsplanung

Wie sollten also Kommunen und Zivilgesellschaft mit der neuen Ausgangslage umgehen? Welche Schritte sind zu unternehmen, damit die Klagen der DUH nicht nur in kurzfristigen Fahrverboten münden, sondern insgesamt zu einer zukunftsfähigen und zielorientierten Verkehrspolitik führen? Idealerweise sollte dabei von kommunaler Seite ein Verkehrssystem hergestellt werden, welches zukünftige Klagen antizipiert und gleichzeitig die Erreichung von Umweltzielen an weitere kommunale Ziele koppelt.

In Beantwortung auf die oben aufgeworfenen Fragen hat das Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung auf Basis eines mehrjährigen Forschungsprozesses Konzepte und Strategien für die deutsche Verkehrspolitik erarbeitet. Mithilfe von Experteninterviews und einer SWOT-Analyse konnten Handlungsempfehlungen für 14 Akteursgruppen erarbeitet werden.(2) Abgeleitet aus den erarbeiteten Handlungsempfehlungen für die identifizierten Akteursgruppen Kommunalpolitik und Verkehrsumwelt lassen sich auch Antworten auf den Umgang mit den anstehenden Straßensperrungen geben. Die Antworten sind im Kern darauf gerichtet, die Fahrverbote auf Ebene der Integrierten Verkehrsplanung zu heben. Hierzu wird zunächst kurz die Ausgangslage für die Akteursgruppe geklärt, ehe die ausgesprochenen Handlungsempfehlungen in Bezug auf die neue Situation konkretisiert werden.

Ausgangslage der Kommunalpolitik

Im vorangegangenen Forschungsprojekt wurde gezeigt, dass die Kommunalpolitik in der Regel durch einen Mangel an Geld, Zeit und verkehrspolitischer Expertise geprägt ist. Gleichzeitig sind verkehrspolitische Entscheidungen stark abhängig von öffentlicher Wahrnehmung und persönlicher Betroffenheit der kommunalpolitischen Entscheidungsträger. Aufgrund der heterogenen Strukturen von Kommunen (Stadt-Land-Gegensatz, Haushaltsnot etc.) sind die strategischen Ziele individuell verschieden, wobei strategische Ziele der Kommunalpolitik häufig durch wirtschaftspolitische Entscheidungen beeinflusst werden.

Für die neu zugesprochene verkehrspolitische Verantwortung bedeutet diese Feststellung zunächst keine besonders positive Ausgangslage. Die mit der Verantwortung einhergehende verkehrspolitische Gestaltungsmacht kann bisher noch nicht konstruktiv genutzt werden. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass von politischer Seite betont wird, dass man Fahrverbote zwar verhindern will, dieser Forderung jedoch keine anderen wirkungsgleichen Ziele oder Konzepte entgegengestellt werden. Die Negierung verkehrspolitischer Zielansprüche geht dabei teilweise soweit, dass sogar die Grenzwerte selbst in Frage gestellt werden.

Handlungsempfehlungen für die Kommunalpolitik

Um die Ausgangslage konstruktiv zu wenden, lässt sich auf eine für die Kommunalpolitik im Forschungsprojekt erarbeitete Handlungsempfehlung zurückgreifen:

Aufmerksamkeit durch verkehrspolitische Innovationen auf Kommunen lenken

Der kommunalpolitische Wettbewerb wird neben ökonomischen Faktoren (Steuern, Bauland, vorhandene Cluster) ebenso auf Basis von sozial-ökologischen Faktoren (Lebensqualität, Lärm- & Schadstoffemissionen, Zugang zu kulturellen Angeboten) ausgetragen. In diesem Zusammenhang steigern hochqualitative und innovative Verkehrssysteme die Standortvorteile der einzelnen Kommunen. Kommunen, die über diese sozial-ökologischen Qualitätsmerkmale verfügen, müssen diese offensiv kommunizieren, um existierende Wettbewerbsvorteile zu nutzen.

Für die Kommunalpolitik bedeutet diese Handlungsempfehlung, dass die einzuhaltenden Grenzwerte als Möglichkeit genutzt werden müssen, sozial-ökologische Qualitätsmerkmale herzustellen, um diese anschließend als Wettbewerbsvorteile auszuspielen. Konkret bedeutet dies, dass man mithilfe des gerichtlichen Drucks das innerstädtische Verkehrssystem so ausgestaltet, dass zusätzlich auch Ziele, wie bspw. Lärmreduktion, Lebensqualität und soziale Teilhabe erreicht werden. Welchen sonstigen Vorteil bietet bspw. eine Straße, auf der zwar Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge gelten, diese aber nur durch andere verbrennungsmotorische Fahrzeuge ersetzt werden, die mit gleicher Geschwindigkeit und gleichem Flächenverbrauch keine Änderungen von Lärmemissionen und Gefahrenpotenzial darstellen? In einem solchen integrierten Gegenkonzept wären dann nicht mehr punktuelle Fahrverbote die geeignete Maßnahme zur Zielerreichung, sondern ein an den Zielen abgeleitetes Maßnahmenbündel, das bspw. aus flächendeckendem Tempo 30 und Parkraumbewirtschaftung, Umwidmungen von Fahrspuren und Parkplätzen zulasten des MIV bei gleichzeitiger Förderung des Umweltverbunds besteht. Hierbei ist eine verpflichtende Kopplung von Push- und Pull-Maßnahmen essentiell.

Zwar wurden durch das Verwaltungsgericht Stuttgart singuläre Maßnahmen wie bspw. die City-Maut als nicht ausreichend wirksam zur Problemlösung erachtet, dies heißt jedoch nicht, dass das strategische Konzept der integrierten Verkehrsplanung als unwirksam erklärt wurde. Auch ließe sich durch das Konzept der originäre Grund der politischen Ablehnung von Fahrverboten auflösen; Die implizite soziale Ungerechtigkeit von Fahrverboten, die einzelne Personengruppen aus dem System ausschließt wird durch den Ansatz ersetzt, bei dem der MIV solidarisch zugunsten des Umweltverbunds zurückgenommen wird. Hierbei stellt sich gar nicht erst die Abwägungsfrage zwischen Gesundheit und allgemeiner Handlungsfreiheit, da letztere unangetastet bleibt.

Außer Frage steht bei diesem Alternativszenario jedoch, dass auch hier Einschränkungen für den MIV vorzunehmen sind. Ein Ansatz, der ausschließlich alternative Fortbewegungsmittel fördert, wird nicht die gewünschten verkehrlichen Effekte hervorbringen und damit auch weiteren Klagen nicht standhalten können. Hier gilt das ökonomische Prinzip, dass die (MIV-) Nachfrage solange steigt, bis ein Angebotspreis erreicht ist, den die Nutzenden nicht mehr bereit sind zu zahlen und sich alternativer Verkehrsmittel bedienen. Da bislang nur in geringem Umfang eine monetäre Bepreisung von Straßen und Stellplätzen stattfindet, sind die nachfragebegrenzenden Kosten für die Nutzenden Staus, Parkplatznot und Zeitverluste. Solange diese immateriellen Preise die Nachfrage limitieren, wird das vorhandene innerstädtische Angebot von Straßen und Stellplätzen immer weitestgehend ausgeschöpft. Ist sich die Kommunalpolitik diesem Umstand bewusst, kann sie wirksame Maßnahmen forcieren, die für die Kommune weitaus attraktiver sind als streckenbezogene Fahrverbote.

Ausgangslage Interessen­vertretungen Verkehrsumwelt

Für die Interessenvertretungen der Verkehrsumwelt bzw. zivilgesellschaftliche Interessenvertretungen wurde im vorangegangenen Forschungsprojekt gezeigt, dass diese im Prozess des politischen Interessensausgleichs eine konfrontative Position gegenüber der etablierten Verkehrspolitik einnehmen. Das strategische Ziel ist dabei die Verringerung der ökologischen Auswirkungen des Verkehrs, die durch das Verkehrsverhalten bedingt werden. Damit wird eine fundamentale Wende der derzeitigen Verkehrspolitik angestrebt.

Die dargestellte Strategie scheint zunächst erfolgreich zu sein. So wurden durch Klagen Kommunen, Länder und Bund unter Handlungsdruck gesetzt, bestehenden rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen und verkehrspolitische Justierungen vorzunehmen. Jedoch muss auch festgestellt werden, dass der juristisch erzeugbare Druck bloß ein Element der strategischen Ziele abdecken kann. So sind Schadstoffemissionen nur Teilaspekt der ökologischen Frage des Verkehrs neben weiteren Umweltwirkungen wie bspw. Bodenversiegelung oder Lärm. Eine ausschließlich konfrontative (juristische) Strategie ist mit Blick auf die ökologischen Ziele nicht erfolgreich.

Empfehlungen für die Interessenvertretungen der Verkehrsumwelt

Sofern Kommunen die Ausgangslage konstruktiv wenden und eine integrierte Verkehrspolitik sowie Mobilitätsmanagement als Gegenkonzept zu Fahrverboten aufgreifen, kann die entwickelte Handlungsempfehlung durch die Interessenvertretungen genutzt werden:

Einbringung von Umweltaspekten im Mobilitätsmanagement sowie Treiber und Motivator

Unter den derzeitigen Gegebenheiten mangelt es dem Gesamtgefüge an einer politischen Stimme, welche die Interessen der ökologischen Nachhaltigkeit beharrlich vertritt. Dabei verfügen die Interessenvertretungen der Verkehrsumwelt über exklusive Expertise, die Operationalisierung der strategischen Ziele auf die ökologischen Nachhaltigkeitsziele hin auszurichten. Die damit erfolgende Abkehr von einer konfrontativen Position, hin zu einer kooperativen, muss genutzt werden, um Mobilitätsmanagement in den Entwicklungsplänen zu institutionalisieren.

Damit kommt den Interessenvertretungen der Verkehrsumwelt in Zukunft die kommunalpolitische Aufgabe zu, die vorhandenen Anknüpfungspunkte auf die gesamte ökologische Frage des Verkehrs hin auszurichten. Hierbei sind Lösungen zu entwickeln, die neben der ökologischen Nachhaltigkeit auch soziale und ökonomische Ziele der Kommunalpolitik integrieren. In diesem Zusammenhang müssen die zivilgesellschaftlichen Interessenvertretungen der Kommunalpolitik aufzeigen, unter welchen Voraussetzungen zukünftige Klagen abgewendet werden können.

Fazit

Nach den Urteilen zu Fahrverboten sollte die Kommunalpolitik ihre Kapazitäten nicht nur dafür aufwenden, möglichen Straßensperrungen defensiv entgegenzuwirken, sondern aktiv die neu gewonnene Gestaltungsmacht für eine nachhaltige Transformation des Verkehrssystems nutzen. Jedoch gilt auch für die Interessenvertretungen der Verkehrsumwelt, dass ein juristisches Vorgehen nicht die ökologische Frage des Verkehrs in Gänze wird lösen können. Vielmehr bieten die anstehenden Fahrverbote neue Handlungsperspektiven für die Städte, die von beiden Akteursgruppen kooperativ genutzt werden sollten. Hierdurch kann die vermeintlich desparate Ausgangslage konstruktiv zugunsten einer Integrierten Verkehrspolitik gewendet werden. Dabei ist elementar, die verkehrspolitischen Maßnahmen in einen restriktiven Rahmen für den MIV einzubetten, da sonst die angestrebten Verkehrs- und Emissionsminderungen nicht zu erreichen sind. Das Zeitfenster des erweiterten Handlungsrahmens für Kommunen ist begrenzt und besteht nur solange Emissionsgrenzwerte in den jeweiligen Städten überschritten werden.

Quellen:

(1) Hierzu wurde von den Autoren im Artikel „Vom Kampf­begriff zum anerkannten Planungsinstrument“ (mobilogisch 4/16) das Konzept der integrierten Verkehrsplanung dargelegt.

(2) Die entsprechende Broschüre „Mobilität erfolgreich managen“ steht auf der Homepage des Fachgebiets zum Download bereit und wird auf Anfrage als print versendet (ivp.tu-berlin.de).

 

Dieser Artikel von Oliver Schwedes, Benjamin Sternkopf und Alexander Rammert ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2018, erschienen.

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Fragt man Verantwortliche aus Schule, Kommunalverwaltung oder der Polizei, wer früher regelmäßig von den Eltern mit dem Auto zur Grundschule gefahren worden ist, bricht nicht selten ein Gelächter aus. Selbstverständlich kamen die Kinder zu Fuß, mit dem Rad oder auf dem Land mit dem Bus zur Grundschule. Autofahrten waren die Ausnahme. Dabei gelten selbstständig bewältigte Schulwege von Kindern als gesundheits-, entwicklungs- und lernfördernd und liefern auch einen Beitrag zur Verkehrssicherheit, denn die Kinder gewinnen wichtige Erfahrungen als „Verkehrsteilnehmer“. Außerdem hat wohl jedes Kind früher spannende oder prägende Geschichten erlebt oder einen „Schatz“ auf dem Schulweg gefunden. Der Schulweg ist offenkundig mehr als nur eine Ortsveränderung, er ist eine wertvolle Phase in der Entwicklung von Grundschulkindern, den es zu erhalten gilt.

Wachsender Elterntaxi-Anteil

Seit Jahren steigt der Anteil der Kinder, die mit dem Auto zur Grundschule kommen. Durchschnittlich 33 % der Kinder kommen bei mäßiger Witterung regelmäßig mit dem Auto zur Grundschule.(1) Dabei kann der Elterntaxianteil regional und örtlich von Schule zu Schule zwischen 3 % und 70 % schwanken. Freie Schulwahl, hohe Kfz-Verfügbarkeit, veränderte Erwerbsbiografien, Zeitdruck in den Familien, Sorge der Eltern vor Verkehrsunfällen oder Sorge vor Kriminalität können zunehmende Hol- und Bringverkehre begünstigen.

Hohes Dunkelfeld auf Schulwegen zur Grundschule

Häufig unterschätzt oder unbekannt ist das Dunkelfeld von Kinderunfällen auf dem Weg zur Grundschule. Während die polizeiliche Unfallstatistik im Schnitt von etwa 2,7 Kinderunfällen der 6- bis 9-Jährigen pro 1.000 Kindern in der Altersgruppe ausgeht, sind es in der Statistik, die die Träger der Unfallversicherungen führen, in der Grundschule bereits 5,63 meldepflichtige Schulwegunfälle pro 1.000 versicherte Grundschüler. Eigene Statistiken auf Basis von Elternbefragungen an knapp 100 Grundschulen bundesweit mit über 10.000 befragten Eltern bzw. Kindern zu Schulwegunfällen haben gezeigt, dass von einem höheren Kinderunfallgeschehen ausgegangen werden muss, als es aus den amtlichen Unfallstatistiken ablesbar ist. Die Befragungsergebnisse ergaben einen Wert von 10,14 verunfallten Kindern auf Schulwegen pro 1.000 Kinder, die aufgrund des Unfalls einen Arzt aufsuchen mussten.

Tradierte Maßnahmen mit geringer Wirkung

Appellative Ansprachen an die Eltern, repressive Maßnahmen durch Ordnungsämter und Polizei gehören zum Standardrepertoire zur Eindämmung von Elterntaxis vor den Schulen. Der jährliche Elternbrief der Schulleitung, der Eltern­abend mit „Ermahnungen“ der Eltern, das Ordnungsamt, das regelmäßig patrouillieren soll oder der Schwerpunkteinsatz des örtlichen Verkehrsbeamten, der die Einhaltung der Verkehrsregeln durchsetzen soll, sind Alltag an deutschen Grundschulen. Erheblicher Personaleinsatz, Frust bei allen Beteiligten und in der Regel eine geringe und nicht nachhaltige Verbesserung der Situation sind häufig das Ergebnis.

Lösungsansatz: 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“

Man muss schulische Mobilität verstehen, um sie verändern zu können. Zu den Erfolgsfaktoren für mehr Freude am zu Fuß gehen und damit weniger Hol- und Bringverkehr vor den Schulen gehören drei Schlüsselkriterien, die in Kombination erfüllt sein sollen (MAS-Kriterien):

  • Motivation
  • Attraktivität
  • Sicherheit

Um dies erreichen zu können, ist das 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“ entwickelt worden. Hierzu gehören folgende Bausteine:

  • Ein moderner Schulwegplanungsprozess mit sicheren Schulwegen, die den Kompetenzen der Kinder altersangemessen entsprechen und eine fehlerverzeihende Gestaltung aufweisen.(2)
  • Die Einrichtung von Hol- und Bringzonen für Kinder, die keine altersangemessenen Schul­wege haben.
  • Die Verankerung eines schulischen Mobilitätsbildungsprogramms wie z.B. das Verkehrszähmer-Programm (NRW) (3), das Fußgängerprofi-Programm (Niedersachsen) (4) oder vergleichbare Projektansätze mit Verstärkermechanismen.

Dieses 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“ wurde als methodisches Gesamtkonzept erstmalig 2014 durch die Autoren erfolgreich in NRW umgesetzt.(5)

Umsetzungsschritte für schulisches Mobilitätsmanagement

Zur Umsetzung des 3-Säulen-Modells sind folgende 12 Schritte zu empfehlen:

  1. Projektmotivation (Gründung einer Arbeitsgruppe (Schule, Kommune, Polizei, Elternvertretung), Vorstellung Gesamtansatz, ggf. politischer Beschluss)
  2. Sichtung der Unfalldaten im Schulumfeld (5-Jahres-Zeitraum, Berücksichtigung bei den Schulweganalysen)
  3. Schriftliche Elternbefragung zum Mobilitätsverhalten, zu Schulwegrouten und zu subjektiven Problemstellen
  4. Überprüfung der Schulwege und Problemstellen (Bestandsauditierung und kompetenzorientierte Bewertung der Schulweghauptrouten und Problemstellen der Kinder; hilfreiche Frage: Kann ein Kind von 6 bis 7 Jahren diese Verkehrsaufgabe selbstständig, von Eltern unbegleitet und unfallfrei bewältigen?)
  5. Standortauswahl der Hol- und Bringzonen im Umfeld von 200 bis 400 Metern zur Schule (s. Kriterien Leitfaden(6))
  6. Schulumfelderkundung (Hauptschulwege und Wege von den Elternhaltestellen) mit Kindern zum Kennenlernen und Einübung der Schulwege
  7. Lehrerfortbildung zur Mobilitätsbildung (z. B. Verkehrszähmer-Programm (NRW), Programm Fußgängerprofi (Niedersachsen))
  8. Umsetzung von Maßnahmen zur Schulwegsicherung („Grundbedürfnis“ für ein erfolgreiches schulisches Mobilitätsmanagement; orientiert an den Kompetenzen der Kinder)
  9. Schulwegtraining mit Kindern
  10. Einweihung der Hol- und Bringzonen mit Kindern, kommunalen Spitzenbeamten und Presse
  11. Aktualisierung der Schulwegpläne (Berücksichtigung der Hol- und Bringzonen, realistische Wegeempfehlungen auf sicheren Schulwegen)
  12. Evaluation (Wirkungen messen: Verbesserung der Situation vor der Schule, weiterhin bestehende Probleme auf den Wegen oder an den Elternhaltestellen; ggf. nachsteuern)

Evaluationsergebnisse

Dass der oben beschriebene Projektansatz erfolgreich umgesetzt werden kann, es aber auch Grenzen der Wirksamkeit des Konzeptes gibt, zeigen die im Folgenden dargestellten Ergebnisse. In den Jahren 2016 und 2017 wurde das 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“ an der Andreasschule in Essen umgesetzt. Im Juni 2017 fand die Einweihung von zwei Hol- und Bringzonen an dieser Schule statt. Die Standorte der Hol– und Bringzonen wurden mit einem besonderen nichtamtlichen Verkehrszeichen „Hol- und Bringzone“ beschildert (s. Titelfoto dieser Ausgabe). Zur Verbesserung der Schulwege setzte die Stadt Essen verschiedene Verkehrssicherheitsmaßnahmen um (z.B. Verbesserung von Sichtbeziehungen). Im Herbst 2017 konnten die Eltern der Kinder an der Andreasschule im Rahmen einer schriftlichen Befragung über ihre Erfahrungen mit dem umgesetzten Projekt berichten. Ausgewählte Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt.

Bewertung der Projektidee

Das Konzept, Eltern eine Haltemöglichkeit abseits der Schule anzubieten, um die Fußwege und die Verkehrssicherheit vor der Schule zu erhöhen, wird akzeptiert. Mit über 90 % der Antworten wird das Projektkonzept sehr positiv bewertet (ohne Abbildung). Nur rund 7 % der Eltern bewerten das Projekt kritisch.

Weiterempfehlungsabsicht

Eltern empfehlen gut geplante Hol- und Bringzonen auch anderen Eltern. Ein hohes Maß an Zustimmung ist Voraussetzung für die Akzeptanz der Elternhaltestellen. Am Beispiel der Andreasschule in Essen konnte im Rahmen der Elternbefragung eine Weiterempfehlungsabsicht von über 90 % erreicht werden (ohne Abb.).

Entwicklung Mobilitätsverhalten

Ein zentrales Ziel ist die Förderung von Fußwegen der Kinder und eine Reduzierung der Elterntaxi-Verkehre zur Schule. Im Rahmen des Projektes erfolgte daher ein Vorher-Nachher-Vergleich des Mobilitätsverhaltens im Sommer und im Winter bzw. für gutes und für schlechtes Wetter (Abb. 1 und Abb. 2). Die Befragung der Eltern ergab, dass sowohl im Sommer als auch im Winter der Anteil an Fußwegen um rund 20 % gesteigert werden konnte und sich die Elterntaxis vor den Schulen im Sommer oder bei gutem Wetter nahezu halbiert haben. Auch im Winter oder bei schlechtem Wetter sanken die Elterntaxi-Verkehre und stiegen die Fußwege von Kindern im Vergleich zur Vorher-Situation an. Der Vorher/Nachher-Vergleich zeigt, dass der Anteil von zu Fuß gehenden Kindern von rund 56 % auf rund 77 % gestiegen ist (+21 % Fußgänger). Die Elterntaxi-Verkehre sind von rund 37 % auf rund 20 % gesunken (-17 %). Damit verursachen erheblich weniger elterliche Bringverkehre vor der Schule die typischen problematischen Situationen.

Einschätzung der Verkehrssituation vor der Schule durch die Eltern

Mehr zu Fuß gehende Kinder und weniger Eltern mit Autos vor der Schule wirken sich positiv auf die subjektiv wahrgenommene Verkehrssicherheitssituation aus. 85 % der Eltern gaben an, dass sich die Verkehrssituation vor der Schule im Vergleich zur Situation vor der Einrichtung der Elternhaltestellen verbessert hat. Ein kleiner Anteil von 15 % der befragten Eltern kann keine Verbesserung erkennen (ohne Abb.).

Fazit

Elterntaxiverkehr zu managen ist eine relativ komplexe Aufgabenstellung. Die tradierten appellativen und repressiven Lösungsansätze sind in der Praxis überwiegend gescheitert und aufgrund des hohen Personalaufwandes unwirtschaftlich.

Das Programm „Mehr Freude am Gehen“ funktioniert mit guter Wirksamkeit, wenn die drei erforderlichen Projektbestandteile konsequent umgesetzt werden. 20 % mehr Fußgänger und eine Halbierung der Elterntaxiverkehre sind bei überschaubarem Aufwand realistisch möglich.

Der „sichere Schulweg“ ist dabei die entscheidende Ausgangsgröße für den Projekterfolg und bildet die Basisanforderung insbesondere für die Eltern. Der sichere Schulweg ist dadurch definiert, dass die Kinder die Schulwege selbstständig mit ihren jeweiligen Kompetenzen unbegleitet bewältigen können. Die Abwesenheit von amtlichen Unfalldaten reicht nicht aus, um einen „sicheren Schulweg“ zu definieren. Es gilt im Schulumfeld eine altersangemessene, kom­petenzorientierte Verkehrsplanung konsequent umzusetzen.

Hilfreich ist es, politische Beschlüsse für die Durchführung des Projektes zu erwirken. Dies erleichtert hinterher ggf. die Umsetzung erforderlicher Maßnahmen für die Schulwegsicherung. Voraussetzung für ein erfolgreiches Konzept ist die Bereitschaft der Kommune und der Schule zur Mitwirkung.

Empfehlenswert ist es, für Kommunen ein eigenes Leitbild für eine kinderfreundliche Verkehrsplanung zu entwickeln, das sich intensiver an den Kompetenzen der Kinder orientiert.

Bei der Umsetzung der Projekte an Schulen sollten ggf. vorhandene Einflüsse durch Kitas oder weiterführende Schulen frühzeitig konzeptionell berücksichtigt werden. Insbesondere an weiterführenden Schulen ist zusätzlich mit großen Mengen an Elterntaxis zu rechnen.

Die Empfehlung einer durchschnittlichen Entfernung der Hol- und Bringzone von ca. 250 – 300 Metern abseits der Schule sollte eingehalten werden, da sowohl deutliche Unterschreitungen als auch Überschreitungen negativ bewertet werden.

Unverzichtbar ist auch die kontinuierliche pädagogische Arbeit in der Schule. Die motivierende Arbeit in den Schulen sollte fester Bestandteil des Gesamtkonzeptes im Rahmen der schulischen Mobilitätsbildung sein.

Unter ungünstigen verkehrlichen Rahmenbedingungen im Schulquartier kann es erforderlich sein, für dieses Quartier eine Gesamtverkehrsplanung zu entwickeln. Hier ist dann das 3-Säulen-Modell um eine weitere Säule einer integrierten Gesamtverkehrsplanung im Quartier zu erweitern.

Den Kommunen und Schulen kann empfohlen werden, zunächst ein Schulisches Mobilitätsmanagement im Sinne des hier vorgestellten 3-Säulen-Modells konsequent umzusetzen, um die Elterntaxi-Probleme im Umfeld der Schulen wirksam zu reduzieren.

Aufgrund der Komplexität der Aufgabenstellung ist es hilfreich, Entscheider und Mitarbeiter von Verwaltungen, Polizei, Kommunen und auch von Schulen im vorgestellten 3-Säulen-Modell fortzubilden, um ein gemeinsames Verständnis für die hier vorgestellte, erfolgreiche Lösungsstrategie zu entwickeln.

Quellen:

(1) Leven J., Leven T. (2018): Schulisches Mobilitätsverhalten von Grundschülern in Deutschland. Analyse von Mobilitätsbefragungen von 10.276 befragten Eltern an 93 Grundschulen in 25 deutschen Kommunen. Stand April 2018

(2) Leven J., Leven T. (2017): Sichere Räume, sichere Wege - Leitbild Wohlfühlmobilität, https://vm.baden-wuerttemberg.de

(3) Baker-Price, A. (2015): Verkehrszähmer Leitfaden. Verfügbar unter: www.zukunftsnetz-mobilitaet.nrw.de

(4) Meine, A.; Gottmann, T. (2018): Die Fußgänger-Profis – Unterrichtsmaterialien zur Mobilitätsbildung in den Jahrgängen 1 bis 3 der Grundschule. Verfügbar unter: www.nibis.de

(5) https://dosys01.digistadtdo.de www.verkehrswachthessen.de

(6) Winkler, R.; Leven, T.; Leven, J.; Beyen, M.; Gerlach, J. (2015): Das Elterntaxi an Grundschulen – Ein Leitfaden für die Praxis. ADAC e. V. München, 2015. In Kürze erscheint die 3. überarbeitete und ergänzte Auflage.

 

Dieser Artikel von Tanja und Jens Leven ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2018, erschienen.

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Wer kennt das nicht: Plötzlich endet der Radweg und es bleibt nur die Wahl, sich entweder auf die vierspurige Schnellstraße zu wagen oder aber auf den Gehweg auszuweichen – sehr zum berechtigten Ärger der Fußgänger*innen. Oder als solcher ist man kaum losgegangen, da wird die Fußgängerampel schon wieder rot, und die Straße kann gar nicht in einer Ampelphase überquert werden? Hat man es dann erstmal geschafft, ist gar nicht daran zu denken, auf dem Fußweg entspannt nebeneinander zu laufen, da dieser größtenteils von parkenden Fahrzeugen eingenommen wird?

Das Auto dominiert den öffentlichen Raum

Im Straßenraum hat der motorisierte Verkehr heute noch Vorrang – und das im doppelten Sinne: Zum einen nimmt er wesentlich mehr Fläche ein und zum anderen genießt er in vielerlei Hinsicht rechtliche Privilegien. Das Problem dabei: Wir haben uns daran gewöhnt und es im Großen und Ganzen akzeptiert.

Gleichzeitig scheint es zumindest an den Universitäten und in der medialen Berichterstattung langsam aber sicher durchzusickern, dass wir ein Umdenken brauchen. Unsere öffentlichen Räume sollen nicht länger nur als Verkehrsräume für den motorisierten Individualverkehr verstanden werden, sondern vielmehr als ein wertvoller „Lebensraum“ für vielfältige und nachhaltige Städte. Sie stellen einerseits sichere Möglichkeiten für umweltfreundliche Verkehrsmittel zur Verfügung und bieten gleichzeitig Raum für das städtische Leben und den städtischen Austausch. Gelungene Beispiele für Veränderungen und für die Rückeroberung der Straße ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und kreieren in mancherlei Hinsicht ein Bild, dass dieses Umdenken bereits stattgefunden habe. Die meisten Räume, Planungsdiskurse und tatsächlichen Planungen orientieren sich jedoch weiterhin an alten Paradigmen.

Sind die anfangs beschriebenen Situationen also alles nur noch Überreste alter Planungen? Planen wir heute anders, wird also die Stadt in 30 Jahren anders aussehen? Und wie können wir heute Veränderungen bewirken?

Lebendige Straßen

Von diesen Überlegungen ausgehend entstand an der TU Berlin ein selbstbestimmtes Masterprojekt von sechs Studierenden der Stadt- und Regionalplanung. Betreut wurde das Projekt von Susanne Thomaier, wobei sowohl Fragestellung und Methodik selbst definiert und die Arbeitsprozesse selbst organisiert wurden.

Motivation für das Projekt war unsere Überzeugung, dass der öffentliche Raum vielfältige Funktionen erfüllen, er ein Ort der Kommunikation, des Verweilens, der nachhaltigen und sicheren Fortbewegung, des politischen Ausdrucks und des Wohlfühlens sein kann.

Mit der Umsetzung des Projekts wollen wir die jetzigen Hindernisse für eine andere Straßenplanung verstehen, das Problembewusstsein forcieren und der gesellschaftlichen Relevanz des Themas mit praxisorientierten Maßnahmen­vorschlägen begegnen – in Kooperation und am Beispiel des Berliner Bezirks Pankow, aber durchaus mit allgemeingültigem Anspruch. Dabei ging es sowohl um Aspekte der Gestaltung als auch um das Verstehen politischer Prozesse.

Mithilfe von Literatur, eigener Bestandsanalysen und Vor-Ort-Befragungen sowie eines Experten-Interviews wurden heutige Straßenräume und jetzige Planungsprozesse analysiert. Eine Herausforderung stellte dabei die Vielfalt der Straßenräume und deren unterschiedliche Funktionen im gesamtstädtischen Kontext sowie deren Bedeutung für die Bewohner*innen dar. Um diese Diversität nutzen zu können, wurde eine Typologie von Straßenräumen entwickelt, die sich nicht hauptsächlich nach Verkehrsstärke, Verbindungsfunktion oder weiteren auf den motorisierten Verkehr bezogene Kriterien richtet, sondern die Frage nach der Aufenthaltsfunktion bzw. -potenzials an die erste Stelle rückt. Erst in einem zweiten Schritt folgt eine Einordnung nach Größe und Verkehrsstärke. Durch diese Klassifizierung wird die stadträumliche Funktion in den Fokus gerückt.

Entsprechend der Typologie wurde ein umfassender Maßnahmenkatalog zur Gestaltung lebenswerter Straßenräume erarbeitet. Dieser stellt in sieben Themenfeldern (Wahrnehmung, Aufenthalt und Spiel, Stadtökologie, Reduktion des Kfz-Verkehrs, Fußverkehr, Radverkehr, öffentlicher Verkehr) über 300 verschiedene Maßnahmen zusammen. Jede Maßnahme ist unter anderem sortiert nach der Maßstabsebene, nach Zeithorizonten und Kostenrahmen. Besonders an diesem Katalog ist die Einschätzung der Eignung der jeweiligen Maßnahme für jede der sechs definierten Straßentypologien.

Dieser Maßnahmenkatalog verdeutlicht die Bandbreite der Möglichkeiten und soll somit eine Inspiration und ein Ansatzpunkt für Planende, Politik und Verwaltung sein. Er soll Politiker*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen vom Paradigmenwechsel überzeugen und Inspirationen für ihre alltägliche Arbeit geben. Zudem können vor allem mittels der erzeugten Bilder der Beispielentwürfe im Bezirk Pankow räumliche Auswirkungen der Vision verdeutlicht werden.

Im Folgenden sollen einige Denkansätze und offene Fragen aus unserer Arbeit vorgestellt und geteilt werden – in der Hoffnung, eine Diskussion anzustoßen.

Wo müssen wir ansetzen?

Im Laufe des Projektes wurde für uns deutlich, dass bereits sehr viele Ansätze für einen Wandel in der Planung vorhanden sind – es gibt vielfältige Ideen für andersartige Gestaltung, eine große Reihe an möglichen Maßnahmen, es gibt versprechende Beispiele aus aller Welt. Trotzdem müssen für eine umfassende Veränderung der Planung noch einige Hindernisse überwunden werden – wie an unseren gegenwärtigen öffentlichen Räumen und selbst neuen Planung offensichtlich wird. Was sind hier die springenden Punkte? Die folgenden Überlegungen sollten als offene Anregungen gesehen werden – und sind teilweise bewusst provokant formuliert.

Paradigmenwechsel und Problembewusstsein

Zunächst einmal vollzieht sich ein solcher Wandel nur sehr langsam, denn er betrifft teilweise große Infrastrukturentscheidungen, die Zeit und Geld für einen Umbau erfordern. So dauert es oft viele Jahre, bis es zum Umbau einer Straße kommt. Ist es dann soweit, werden häufig nur Minimallösungen, „faule Kompromisse“ oder Teillösungen umgesetzt. Die Chance auf eine wirkliche Veränderung wird so für viele weitere Jahre vertan. Und das scheint an festgefahrenen Strukturen zu liegen: Nicht nur in der gebauten Umwelt, sondern auch in vielen Köpfen.

So erlaubt die aktuelle Richtlinie für die Anlage von Stadtstraßen (RASt06) durchaus, von den Standardstraßenquerschnitten abzuweichen, in der Praxis wird dies aber nur selten angewandt. Es stellt sich die Frage, zu welchen Teilen das an der Ausbildung und der Praxis derjenigen liegen könnte, die momentan in den leitenden und entscheidenden Positionen sitzen – wird sich das also automatisch ändern, wenn in anderem Sinne ausgebildete Planer*innen ans Werk gehen? Ein Blick auf die heutige Ausbildung in der Verkehrsplanung zeigt allerdings, dass integrierte Herangehensweisen und Interdisziplinarität immer noch kaum gelehrt werden und ein Austausch zu beispielsweise der Stadtplanung kaum stattfindet.

Zudem zeigt auch die Diskussion um die notwendige Verkehrswende, dass in vielen Köpfen ein Paradigmenwechsel noch nicht stattgefunden hat. Denn es reicht eben nicht, konventionelle Antriebe durch elektrische oder auch autonome Autos zu ersetzen – ein Umdenken muss fundamentaler sein, es darf kein Tabu mehr bleiben, auch Rechte und Privilegien wegzunehmen – sowohl für etablierte Industriezweige als auch für einzelne Verkehrsteilnehmende. Das führt zum nächsten Punkt:

Mut zu Konflikten

Ein anderer hemmender Grund ist der oft fehlende politische Wille. Raum für Aufenthalt und den Umweltverbund zu schaffen, bedeutet gleichzeitig auch, Raum wegzunehmen. Raum, der in vielen Großstadt knapp ist. Bestehende Ordnungen zu verändern erfordert also Mut, und wir sollten nicht so tun, als wäre eine Verkehrswende zunächst eine Veränderung, von der alle profitieren – es wird Menschen geben, die Privilegien abgeben müssen. Ein anderes Verständnis zu öffentlichem Raum braucht engagierte und mutige Politik, und sie braucht eine engagierte Auseinandersetzung – und Konflikte sind ein Teil davon.

Das wirft die Frage nach der Rolle der Planenden auf – denn auch mit guten Absichten gibt es oft von verschiedenen Seiten Proteste. Es fallen schließlich oft Parkplätze weg, zusätzliche Kosten für die Nutzung des Pkw entstehen und Veränderungen führen generell oft zu Alarmbereitschaft. Wie wird damit umgegangen?

Daten und Fakten

In einigen Fällen ist wirklicher Wille zur Veränderung in der Politik und Verwaltung da – und es tun sich neue Probleme auf: Eine Planung, die für Aufenthalt und nicht motorisierten Verkehr planen will, steht vor dem Problem, dass kaum Daten verfügbar sind. Zu Fahrrad- und Fußverkehr gibt es wenige Erhebungen, und erst recht nicht zu Aufenthaltsqualität – denn das ist ein schwer fassbares Thema. Zwar erheben Städte Daten, allerdings lange nicht in dem Maße, in dem Kfz-Daten erhoben werden. Das ist besonders relevant, wenn es nicht mehr nur um einige Modellprojekte in den Stadtzentren europäischer Großstädte gehen soll, sondern um einen Umbau an vielen, auch dezentralen Stellen. Dazu müssen kontinuierlich und systematisch Daten erhoben werden.

Auch sind Evaluationen unabdingbar, welche die Effekte bestimmter Maßnahmen aufzeigen. Dazu muss schnell angesetzt werden. Es könnten beispielsweise Universitäten beauftragt werden – wie ändert sich die Wahrnehmung der Menschen durch einen Umbau? Wie ändert sich die Nutzung des Raumes, wie ändert sich der Modal Split? Das wiederum könnte die Kommunikation von Maßnahmen der Öffentlichkeit gegenüber deutlich erleichtern.

Es bleibt die Frage, wie mit diesen wenig greifbaren oder messbaren Merkmalen umgegangen werden soll. Die RASt06 beispielsweise erlaubt es, sich an solchen Merkmalen zu orientieren und sie in die Gestaltungen einfließen zu lassen. Aber das scheint oftmals nicht oder nicht im gleichen Maße zu passieren, wie es bei „harten“ verkehrstechnischen Faktoren der Fall ist. Sollte man also Faktoren der Aufenthaltsqualität operationalisieren, um sie leichter in die Logik der RASt einzufügen, und dazu vergleichbare Daten erheben zu können? Oder nimmt man ihnen damit ihre eigentliche Qualität - und sollte stattdessen eher auf weniger Regulierung und auf eine stärker integrierte Ausbildung gesetzt werden?

Visionen?

Mithilfe von Straßentypologien und dazugehörigen Idealbildern zu planen, die die stadträumliche Funktion einer Straße als Ausgangspunkt nehmen, bedeutet auch, sich der Ziele im Klaren zu sein, die mit Veränderungen jeweils bewirkt werden sollen.

Planung für den öffentlichen Raum sollte auf klaren Visionen basieren. Verschiedene Funktionen sind an verschiedenen Orten sinnvoll, und dafür kann und sollte gezielt geplant werden. An manchen Orten hat etwa der Aufenthalt einen besonders hohen Stellenwert, an anderen die Durchlässigkeit für den Fußverkehr, nur um zwei Beispiele zu nennen.

Das heißt auf der einen Seite, dass Maßnahmen für Aufenthaltsqualität auch für Straßentypen angewandt werden können, in denen gegenwärtig diese Nutzung keine Rolle spielt, aber in Zukunft eine größere Rolle spielen soll - während in manchen Fällen Aufenthalt keine Rolle spielt, und das auch nicht muss. Nicht jede Straße muss eine Aufenthaltsstraße werden. Somit muss die Straße auch stets im Kontext des Quartiers und der Stadt betrachtet werden, und hier spielt Bürgerbeteiligung eine essentielle Rolle.

Das bedeutet auch, dass differenzierte Visionen gebraucht werden – also mehr als nur ein allgemeines Leitbild für einen zeitgemäßen öffentlichen Raum. Ein stadtweiter, detaillierter und differenzierter Entwicklungsplan mit Fokus auf den öffentlichen Raum könnte diese Funktion erfüllen - wie es das beispielsweise in Berlin Ende der 1990er Jahre mit dem Stadtentwicklungsplan öffentlicher Raum schon einmal gab.

Fazit

Gerade der letzte Punkt macht noch einmal deutlich: es gibt nicht den einen öffentlichen Raum oder die eine Lösung. Auch der Maßnahmenkatalog, der im Zuge unseres Projektes entwickelt wurde, ist kein Rezeptbuch. Es ist ein Anfang, eine Anregung, ein Aufruf.

Wir wollen eine neue Herangehensweise an den öffentlichen Raum und dessen Planung. Ein Wandel ist angestoßen, aber es bleiben offene Fragen, die genau jetzt diskutiert werden müssen. Wir appellieren also an euch, die ihr den Raum plant oder nutzt:

  • Versteht den Straßenraum als öffentlichen Stadtraum! Tragt dazu bei, den Raum in seiner Gesamtheit zu verstehen und zu dokumentieren!
  • Nutzt die rechtlichen Spielräume und sucht nach Möglichkeiten, sie zu erweitern. Arbeitet weiter an den Richtlinien, und passt sie regelmäßig an!
  • Forscht und kommuniziert zu den Effekten von Umgestaltungen – konkret und belastbar!
  • Redet miteinander – und fangt damit schon in der Ausbildung an! Traut euch, Konflikte auszutragen!

In Kürze

An der TU Berlin erarbeitete ein selbstbestimmtes Masterprojekt von sechs Studierenden der Stadt- und Regionalplanung ein Planungshandbuch mit Straßentypologien, Maßnahmenkatalog und Testentwürfen am Beispiel des Berliner Bezirks Pankow. Auf dieser Grundlage formulieren sie Anforderungen an eine offensivere und politischere Planung und plädieren für Straßenraum als öffentlichen Stadtraum.

 

Dieser Artikel von Laura Bornemann, Sebastian Gerloff, Leonie Hock, Melana Jäckels, Laura Mark, Julia Theuer ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2018, erschienen.

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