Im Rahmen des Projekts „GEHsund – Städtevergleich Fußverkehr“ wurde erstmals die Fußgängerfreundlichkeit Schweizer Städte untersucht. Die Beurteilung erfolgte in drei Teilprojekten, einem Fußverkehrstest (Infrastrukturbewertung), einer Onlinebefragung zur Zufriedenheit der Bevölkerung und einer Beurteilung der städtischen Aktivitäten zur Förderung des Fußverkehrs in der Planungspraxis. Projektträger waren umverkehR, Fußverkehr Schweiz und die Hochschule Rapperswil. Das Projekt wurde von den beteiligten Städten und verschiedenen Stiftungen finanziell unterstützt.
Bisher gab es in der Schweiz keine Umfragen oder Erhebungen zur Qualität der Fußverkehrsinfrastruktur. Unbekannt war, wie es in den Schweizer Städten um den Fußverkehr bestellt ist: wo liegen spezifische Qualitäten, wo bestehen Mängel? Über systematische Schwachstellenanalysen im Fußverkehr verfügen die wenigsten Gemeinden.
Hier ist der erste Ansatzpunkt: mit dem Fußverkehrstest wird die Qualität der Infrastruktur bewertet. Als zweites wird in Form einer Onlineumfrage die Zufriedenheit der Bevölkerung im Bereich Fußverkehr erhoben. Das dritte Paket im Städtevergleich umfasst unter dem Titel „Planungspraxis“ eine Auswertung, wie in der jeweiligen Stadtverwaltung und in der Stadtpolitik mit dem Thema Fußverkehr umgegangen wird. Ziel des Städtevergleichs ist es, im Zusammenzug dieser drei Teile stadtbezogene Aussagen zur Qualität des Fußverkehrs machen zu können. Diese Qualitätsaussagen werden in Form eines Rankings unter den Städten verglichen. Das Hauptziel dabei ist nicht nur, herauszufinden, in welcher Stadt es besser oder schlechter bestellt ist um den Fußverkehr, sondern durch das Ranking Anreize zur Verbesserung zu setzen und durch die Bewertung aufzuzeigen, wo genau welche Mängel behoben werden müssten. Pro Stadt werden in Form von Faktenblättern Stärken und Defizite aufgezeigt.
Im Rahmen von Begehungen auf ausgewählten Routen wurden die Elemente des Fußverkehrsnetzes nach einem zuvor festgelegten Kriterienkatalog bewertet. Quervergleiche sind sowohl zwischen den Netzelementen als auch zwischen den Städten möglich.
Netzelemente sind:
Bei den Streckenelementen werden folgende Typen unterschieden:
Bei den Querungen werden drei Typen unterschieden:
Bei den Flächen und Haltestellen gibt es keine Untertypen.
Wegen der Vielfalt der Ansprüche waren entsprechend viele Kriterien in der Bewertung zu berücksichtigen. Der Bewertungskatalog umfasst je Element zwischen 13 und 23 Einzelkriterien. Enthalten sind sowohl quantitative Fakten (z. B. Trottoirbreiten) als auch qualitative Momenteindrücke zum Beispiel hinsichtlich der Beurteilung von Konflikten. Für alle Kriterien sind Mess- oder Einschätzungsgrößen definiert, deren Erfüllungsgrad mit einem dreistufigen Punktesystem bewertet wurde. Für jedes Netzelement kann dann angegeben werden, zu wieviel Prozent die Anforderungen erfüllt sind.
Die Erhebung selbst erfolgt mithilfe einer GIS-Applikation, bei welcher die mit Mobiltelefon oder Tablet erhobenen Informationen direkt auf einer zentralen Datenbank abgelegt werden.
Mit der Bevölkerungsumfrage wurde das subjektive Empfinden der Bevölkerung hinsichtlich der Fußverkehrssituation in ihrer Stadt abgefragt. Der Fragebogen umfasste rund 80 Fragen zu folgenden Themen:
Die Auswertung wurde in die fünf Themenblöcke Fußwegnetz, Infrastruktur, Wohlbefinden, Verkehrsklima und Politik gegliedert, welche mit gleichem Gewicht in die Gesamtbeurteilung einflossen.
Für die 16 am Vergleich beteiligten Städte wurden insgesamt 4068 ausgefüllte Fragebögen eingeholt. Die Zufriedenheit der ZuFußgehenden in der Schweiz wurde mit dieser Umfrage erstmals in diesem Detaillierungsgrad erhoben. Die Umfrage wurde grundsätzlich positiv aufgenommen.
Mittels 60 festgelegter Indikatoren wurden Zielsetzungen, Maßnahmenplanungen und Umsetzung in der Planungspraxis im Bereich Fußverkehr analysiert und bewertet.
Dazu wurden folgende Quellen herangezogen:
Es wurde erhoben, was die Stadt in den letzten Jahren umgesetzt hat und welche Aktivitäten beschlossen sind. Die Bewertung der 60 Indikatoren wurde in folgende fünf Bereiche unterteilt:
Das gesammelte Material (Grundlagen, Webseite, Interviewantworten, Statistiken) bildete die Basis für die Bewertung. Pro Indikator wird jeweils eine Punktzahl von 1 bis max. 3 Punkte vergeben. In jedem der 5 Bereiche wird der Erfüllungsgrad in Prozent ermittelt.
Im Mittel des Gesamtergebnisses wurden die Anforderungen zu 61% erfüllt oder, umgekehrt formuliert, zu rund 40 % eben nicht. Der Städtevergleich zeigt den Umfang des Handlungsbedarfes im Fußverkehr auf und bestätigt, dass es in allen drei untersuchten Bereichen noch viel zu tun gibt. Die Resultate erlauben, Handlungsempfehlungen abzuleiten.
Der Fußverkehrstest bietet auch ohne flächendeckende Schwachstellenanalysen einen guten ersten Ansatzpunkt zur Qualitätsverbesserung. So wurde u.a. deutlich, dass vielerorts die Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes noch nicht erfüllt sind, auch an den Haltestellen. Zu geringe Trottoirbreiten, zu lange Wartezeiten beim Queren und fehlende taktile Elemente an Querungen waren weitere Auffälligkeiten.
Es zeigte sich, dass eine Diskrepanz zwischen den Zielsetzungen im Fußverkehr und den dafür vorgesehenen personellen und finanziellen Ressourcen besteht. Es gibt noch kaum Fußverkehrsfachstellen und es gibt noch keine Strukturen zum fachlichen Austausch zwischen den Städten. Es fehlt an Konzepten mit genügender Konkretisierung. Wirkungskontrollen von Maßnahmen im Fußverkehr existieren fast nirgendwo.
Nicht nur in der Umfrage, sondern in allen drei Teilen des Städtevergleichs wurde deutlich, dass Mischverkehrslösungen von Fuß- und Veloverkehr im städtischen Raum weder räumlich geeignet sind noch auf Akzeptanz stossen (Zufriedenheitswerte unter 40 %).
Trottoirbreiten liegen gemäss Fußverkehrstest oft deutlich unterhalb der Norm. Vor allem in Quartierstraßen, aber auch entlang von Hauptstraßen waren die Bewertungen bei diesem Aspekt tief.
Wartezeiten werden von den ZuFußgehenden als nachteilig empfunden. Gerade die Wartezeit bei sogenannten „Bettelampeln“ entspricht keinesfalls den Anforderungen. Aber auch bei Ampeln ohne Grünanforderung liegen die durchschnittlichen Bewertungen kaum über 50
Temporeduktionen im Fahrverkehrs und Entwicklung von Fußgänger und Begegnungszonen war ein in der Zufriedenheitsumfrage oft deponiertes Bedürfnis. Eine Auswertung der Verkehrsunfallstatistik zeigt im Bereich Planungspraxis zudem: Je höher der Anteil an Straßen mit Tempo 20 und 30 ist, desto weniger Fußgängerunfälle werden gezählt.
Fachstellen für den Fußverkehr sind nach wie vor äußerst rar oder unterdotiert. Nötig ist eine Fachstelle oder eine für den Fußverkehr beauftragte Person, welche über ein Pflichtenheft verfügt, bei Gesamtverkehrsplanungen beigezogen wird, aber auch eigene Projekte lancieren kann und mit einem entsprechenden Budget ausgestattet ist.
Das Projekt zeigt zum ersten Mal in dieser Form auf, wo in den Schweizer Städten im Bereich Fußverkehr Schwächen bestehen und Optimierungspotenzial brachliegt, mit dem die Fußfreundlichkeit erhöht werden kann. Für die beteiligten Städte bieten die Ergebnisse eine gute Grundlage, um Verbesserungen anzugehen.
Gehl, Jan: Project for Public Spaces, A Handbook for Creating Successful Public Spaces, New York 2005
VSS-Schweizerischer Verband der Strassen- und Verkehrsfachleute, SN 640 070 Fußgängerverkehr, Grundnorm, Zürich 2009
Verkehrsclub Deutschland (VCD): VCD Städtecheck- Sicherheit von Fußgängerinnen und Fußgängern, Bonn 2014
Fußverkehr Schweiz: Fußverkehrs-Check in den Kommunen, Beispiele aus der Schweiz, Zürich 2015
Land Baden-Württemberg, Ministerium für Verkehr Fußverkehrs-Checks, Leitfaden zur Durchführung, Stuttgart 2016
Bundesamt für Raumentwicklung (ARE): Externe Kosten und Nutzen des Verkehrs in der Schweiz, Bern 2018
Bundesamt für Strassen (Astra) : Schwachstellenanalyse und Massnahmenplanung Fußverkehr, Bern 2019
https://Fußverkehr.ch/Fußgaengerstadt
Dieser Artikel von Prof. Dipl.-Ing. Klaus Zweibrücken ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2020, erschienen.
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Vorab ganz klar: Fahrradfahren muss gefördert werden. Die Legalisierung des Rechtsabbiegens bei Rot ist grundsätzlich sinnvoll, wenn die Sicherheit und das Wohlbefinden des Fußverkehrs nicht beeinträchtigt werden. Leider ist aber genau das bei der mit heißer Nadel gestrickten deutschen Neuregelung der StVO zu erwarten, die seit 28. April 2020 gilt.
Ohne Abschluss und Auswertung der noch laufenden Forschungsvorhaben der Bundesanstalt für Straßenwesen zum Fahrrad-Grünpfeil hatte der Bundesverkehrsminister im November 2019 dem Bundesrat die Einführung eines Rechtsabbiegepfeils für Fahrräder vorgeschlagen. Schon wenige Wochen später wurde das neue Verkehrszeichen im Rahmen der jüngsten StVO-Novellierung eingeführt.
In der Hektik wurde übersehen, dass der grüne Fahrrad-Rechtsabbiegepfeil grundlegende Schwächen hat. Er wurde aus dem für den gesamten Fahrzeugverkehr geltenden Grünpfeil gebastelt. Ebenfalls auf die Schnelle entwickelt, ist auch dieser ohne ausreichende Vor- und Begleituntersuchungen eingeführt worden - sowohl in der DDR als auch später in der Bundesrepublik (s. unten).
Konstruktionsfehler und Grundübel beim allgemeinen Grünpfeil sowie dem Fahrrad-Grünpfeil sind jeweils die Farbgebung und die Ähnlichkeit mit Lichtsignalen, die eine völlig andere Bedeutung haben.
Gemäß § 37 StVO bedeuten die Lichtzeichen:
- Grün: „Der Verkehr ist freigegeben … Er kann nach den Regeln des § 9 abbiegen“,
- Grüner Pfeil: „Nur in Richtung des Pfeils ist der Verkehr freigegeben“,
- Gelb: „(...) auf das nächste Zeichen warten“ ,
- Rot: „Halt vor der Kreuzung, (..) Einmündung (..) oder Markierung (..) für den Fußgängerverkehr“.
Das normale Grün-Licht für den Fahrzeugverkehr bedeutet, dass abbiegende Fahrzeuge den etwaigen Vorrang von entgegenkommenden Fahrzeugen sowie den der Fußgänger/innen, die die um die Ecke gelegene Furt queren, gewähren müssen.
Demgegenüber signalisiert ein grüner Leuchtpfeil konfliktfreie Fahrt, freie Bahn: „Solange ein grüner Pfeil gezeigt wird, darf kein anderer Verkehrsstrom Grün haben, der den durch den Pfeil gelenkten kreuzt“, heißt es in der für die Straßenbau- und Straßenverkehrsbehörden geltenden Verwaltungsvorschrift (VwV zu § 37 StVO Rn 18).
Das sehr ähnlich aussehende Verkehrszeichen 720 „Grünpfeil“ und der neue Fahrrad-Grünpfeil (Zeichen 721) gebieten jedoch eine völlig andere Verkehrsregel: „Nach dem Anhalten (!) ist das Abbiegen nach rechts auch bei Rot erlaubt (…) Dabei muss man sich so verhalten, dass eine Behinderung oder Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, insbesondere des Fußgänger- und Fahrzeugverkehrs der freigegebenen (!) Verkehrsrichtung, ausgeschlossen ist.“
Das Schild jedoch visualisiert konfliktfreies Abbiegen und freie Fahrt. Es erklärt sich nicht selbst, hat eine falsche Symbolik bzw. Ikonografie. Falscher Grundimpuls sowie Verwechslungsgefahr mit ähnlich aussehenden Lichtsignalen. Um die Verwirrung komplett zu machen, heißen das Blechschild und bestimmte Leuchtpfeile auch noch praktisch gleich(1)!
Eigentlich sollte die Gestaltung dem Inhalt entsprechen - „form follows function“. Die beiden deutschen Schilder zum Rechtsabbiegen bei Rot vermitteln aber nicht, dass zuerst angehalten werden muss. So ist auch beim Radfahr-Grünpfeil zu erwarten, was beim allgemeinen Grünpfeil Alltagspraxis ist: Mehr als 70 % der rechtsabbiegenden Fahrzeuge halten zuvor nicht an der Haltelinie an(2), sondern rollen mehr oder weniger flott über die Fußgängerfurt, die derweil zum Queren freigegeben ist bzw. zum Räumen begangen werden darf. Auch kreuzender Rad- und Kfz-Verkehr hat i.d.R. Grün, wenn die Grünpfeile zum Abbiegen bei Rot benutzt werden.
Das massenhafte Nichtanhalten ist ein wesentlicher Grund für die vom allgemeinen Grünpfeil verursachten Störungen und Gefährdungen für Blinde, Sehbehinderte, sonstige Fußgänger/innen und auch kreuzenden Radverkehr. Dabei spielt ganz gewiss die grafische Gestaltung des Verkehrszeichens eine Rolle.
Nicht ohne Grund haben die europäischen Staaten, die eine Regelung zum Rot-Rechtsabbiegen für den Radverkehr eingeführt haben, kein Grün bei der Beschilderung eingesetzt:
- Niederlande: Weißer Schriftzug auf Blau,
- Frankreich: Gelber Pfeil und gelbes Rad in ei- nem „Vorfahrt-achten-Schild“ mit rotem Rand,
- Belgien: Gelber Pfeil und gelbes Rad in einem „Vorfahrt-achten-Schild“ mit rotem Rand,
- Dänemark: Schwarzer Pfeil und schwarzes Rad auf Weiß mit rotem Rand,
- Schweiz: Gelber Pfeil auf schwarzem Grund.
Wenn auf die positiven Erfahrungen im Ausland beim Rechtsabbiegen bei Rot für Fahrräder verwiesen wird, werden Äpfel mit Birnen verglichen. Besonders gelungen ist das französische Verkehrszeichen, das in leichter Abwandlung auch von Belgien übernommen wurde. Es verdeutlicht die Wartepflicht gegenüber den bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer/innen doppelt: Durch seine Form sowie die Farbigkeit. Darüber hinaus gibt es jeweils auch eine Variation, die Fahrrädern das Geradeausfahren bei Rot ermöglicht.
Der deutsche Verordnungsgeber hätte gut getan, die Schilder aus Belgien bzw. Frankreich zu übernehmen. Sie sind besser verständlich als das hiesige Schild und flexibler einsetzbar.
FUSS e.V. hatte in der Anhörung zur StVO-Novelle sogar eine überall geltende Regelung ohne Schilder vorgeschlagen: Das Rechtsabbiegen von Fahrrädern bei Rot generell erlauben, wenn abgestiegen und über die Fußgängerfurt geschoben wird. Der allgemeine Grünpfeil sollte nach Auffassung von FUSS e.V. bundesweit abgebaut werden bzw. allenfalls noch an Knotenpunkten ohne Fußgängerfurt zulässig sein.
Bei der übereilten Einführung des Rechtsabbiegens bei Rot für Fahrräder wurde in Deutschland ein missverständliches Verkehrszeichen eingeführt: Eine Variante der seit über 25 Jahren umstrittenen fußgängerfeindlichen Grünpfeiltafel, die grafisch und begrifflich verwirrt und somit problematisches Fehlverhalten begünstigt. Besser wäre die Beschilderung aus Frankreich gewesen, die schon von Belgien übernommen wurde.
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In der DDR bestand von 1963 bis 1977 für Fahrzeuge an Lichtsignalanlagen eine generelle Rechtsabbiegeerlaubnis bei Rot. Wegen Unvereinbarkeit dieser Regelung mit internationalem Straßenverkehrsrecht wurde 1978 der Grünpfeil eingeführt. Da das Rechtsabbiegen bei Rot häufig in die Knotenpunktbemessung und die LSA-Planung einberechnet worden war, gab es Bedarf für eine Ersatzlösung. Denn Mittel für die etwaige Umgestaltung der Knotenpunkte bzw. der Signalisierung waren knapp oder nicht vorhanden. So entstand der Grünpfeil ohne wissenschaftliche Analysen und ohne systematische Auswertungen des Konflikt- und Unfallgeschehens.
Nach der Wiedervereinigung durfte diese Regelung mit zwei Ausnahmeverordnungen - 1990 und 1991 - zunächst befristet in den neuen Bundesländern beibehalten werden. Obwohl der aus der DDR stammende Verkehrsminister Günther Krause die Gefährlichkeit kannte und deshalb die dauerhafte Abschaffung wollte, hat Nachfolger Matthias Wissmann den Grünpfeil zum 1. März 1994 dauerhaft in die bundesdeutsche StVO übernommen. Und zwar ohne Untersuchung der offenen Forschungsfragen, die die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und Dresdner Wissenschaftler 1992 aufgezeigt und als Einführungsvoraussetzung dargestellt hatten.(3) Die bundesweite Einführung war v.a. ein symbolischer Akt, den Ostdeutschen nicht alles Gewohnte zu nehmen und zumindest eine DDR-Errungenschaft in die Bundesrepublik zu integrieren. Die Einführung erfolgte gegen starke Bedenken von Jurist/innen, Verkehrstechniker/innen, Unfallforscher/ innen, Blinden- und vielen Verkehrsverbänden – auch des FUSS e.V.
Weitere Info: www.gruenpfeil.de und (4)
Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2020, erschienen.
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In einem Studienprojekt untersuchten wir die Qualität von Querungsstellen über die Nebenstraßen eines typischen Berliner Gründerzeitkiezes. Hervor ging ein systematisches Bewertungsschema, das sich auch auf Querungsstellen andernorts anwenden ließe – der „Querungsstellen-Qualitäts-Index“ (QQI). Die Ergebnisse weisen nach: Es besteht großer Handlungsbedarf zur Erleichterung der Querungssituation.
Die Querungsstelle ist zugeparkt. Wie sollte ich jetzt über die Straße kommen, wenn ich im Rollstuhl säße? Für mich ist es „nur“ ein Ärgernis, doch für jemand Anderes ein ernstes Problem. Die Qualität von Querungsstellen lässt vielerorts nicht nur sehr zu wünschen übrig, sie schließt schlicht Menschen von der gesellschaftlichen Teilhabe aus. In einem Studienprojekt am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin analysierten ein Kommilitone und ich die Qualität von Querungsstellen. Denn systematische Untersuchungen mit dem Ziel der Bewertung von Querungsstellen können dazu dienen, eine solide Argumentationsgrundlage in der (lokalen) Verkehrspolitik und -planung zu gewinnen.
So schauten wir uns den Brüsseler Kiez in Berlin-Wedding an, ein typisches Gründerzeitviertel mit fünfgeschossiger Blockrandbebauung, vielen Geschäften und Restaurants in den Erdgeschossen, einer Schule, Kitas, einem kleinen Park, einer guten ÖPNV-Anbindung und einer sehr diversen Bevölkerung. Wir wollten wissen: Wie gut können Zufußgehende hier über die Nebenstraßen kommen? Nicht, dass das Queren von Hauptverkehrsstraßen im Alltag kein Problem wäre. Wir wollten unseren Blick in dieser Arbeit jedoch auf die Nebenstraßen richten, da sich hier ein großer Teil des nachbarschaftlichen Lebens abspielt.
Was ist überhaupt eine Querungsstelle? Im untersuchten Kiez wie auch in den meisten anderen städtischen Räumen ist der Straßenraum gegliedert in seitliche Gehwege sowie eine mittige, vom Fahrzeugverkehr dominierte Fahrbahn inklusive Parkstreifen. Hier sind Querungsstellen die Stellen baulicher Ausprägung, an denen der Fußverkehr regelmäßig die Fahrbahn queren kann und soll. Was gehört zur Qualität von Querungsstellen aus Sicht des Fußverkehrs? Zuerst müssen Querungsstellen dort vorhanden sein, wo sie erforderlich sind: also über alle Straßen an einer Kreuzung oder Einmündung sowie im Straßenzug mindestens alle 150 Meter(1). Des Weiteren müssen Querungsstellen barrierefrei und sowohl objektiv als auch subjektiv verkehrssicher sein, und sie müssen eine möglichst hohe Annehmlichkeit für alle Zufußgehenden gewährleisten – also zum Queren einladen.
Vor dem Hintergrund einer passenden Lage, der Barrierefreiheit, objektiver und subjektiver Verkehrssicherheit sowie einer möglichst hohen Annehmlichkeit versuchten wir, konkrete Indikatoren zu entwickeln, an denen die Qualität der Querungsstellen abgelesen werden kann. Wir überlegten und recherchierten, welche Ausprägungen für die Indikatoren alle möglich sind, um nicht nur die Querungsstellen innerhalb des Brüsseler Kiezes miteinander vergleichen zu können, sondern auch mit Querungsstellen andernorts sowie einer „idealen“ Querungsstelle. Letztendlich konnten wir 14 Indikatoren mit einer Vielzahl an Ausprägungen ausmachen. Dabei orientierten wir uns nicht nur an den allgemeinen technischen Richtlinien und Empfehlungen und den für Berlin geltenden Vorschriften, sondern auch etwa am „Leitfaden Barrierefreiheit“ aus NRW. Wir trafen uns auch mit Stefan Lieb vom FUSS e. V., um das Vorgehen abzusprechen.
Die Qualität von Querungsstellen kann nur anhand der Bedürfnisse und Ansprüche verschiedener Personengruppen bewertet werden. Hierfür bildeten wir sechs zusammenfassende Gruppen: Personen mit Rollstuhl; mit Gehhilfe oder Kinderwagen; mit Sehbehinderung (unterschiedlichen Grades); mit kognitiven Beeinträchtigungen; Kinder oder Personen geringer Körpergröße; „durchschnittliche“ Zufußgehende. Für die 14 Indikatoren versuchten wir zu ergründen, welche Bedeutung der jeweilige Indikator für die verschiedenen Personengruppen hat. Um eine Einstufung der Relevanz vorzunehmen, mussten wir jedem Indikator eine für alle Personengruppen angenommene beste Ausprägung zuweisen.
Dann wurde geschaut: Wie relevant ist der Indikator für die einzelnen Personengruppen? Aus der Summe der Relevanzeinstufungen pro Indikator ergab sich dessen maximale Punktzahl und damit eine Gewichtung der Indikatoren untereinander. Dabei wurden alle Personengruppen gleichwertig betrachtet. Gern hätten wir diese zentrale Wertsetzung möglichst partizipativ gestaltet, aus Gründen der Leistbarkeit konnten wir hierfür lediglich Annahmen aus den oben genannten Quellen sowie aus mehreren Gesprächen mit Menschen im Kiez treffen.
Bei der Frage nach der Bordhöhe trat ein erwartbarer Konflikt auf: Während Personen mit Rollstuhl, mit Gehhilfe oder Kinderwagen einen möglichst ebenen Übergang brauchen, bedürfen Personen mit Sehbehinderung eine ertastbare Kante, um zu erkennen, dass sie die Fahrbahn betreten bzw. wieder verlassen. In Berlin hat es sich daher etabliert, den Bord einfach auf 3 cm Höhe abzusenken – ein Kompromiss. In NRW und andernorts wird dagegen ein höherer Aufwand betrieben: Auf etwa der halben Breite der Querungsstelle wird der Bord komplett eingesenkt, während auf der anderen Hälfte ein 3 bis 6 cm hoher Bord verlegt wird. Zu diesem Bereich führen taktile Platten. Diese sogenannte „Doppelquerung“ wird auch für Berlin diskutiert und wurde von uns als Ideallösung angesehen, die daher beim Indikator Bordhöhe die maximalen Punktzahl erreicht.
Eine andere gute bauliche Lösung stellt die sogenannte Gehwegüberfahrt dar. Hierbei queren Zufußgehende nicht die Fahrbahn, sondern Fahrzeuge kreuzen einen über die Straße gezogenen Gehweg. Zufußgehende haben rechtlich gesehen Vorrang, auch aus diesem Grund überqueren sie auch keinen Bordstein. Daher bekam die Gehwegüberfahrt in unserem Verfahren nur viele Punkte, wenn taktile Platten vorhanden waren. Diese weisen Personen mit Sehbehinderung darauf hin, dass sie einen Bereich betreten, in dem sie zwar Vorrang haben, Fahrzeuge aber regelmäßig kreuzen.
Neben weiteren wichtigen Indikatoren wie der Kfz-Verkehrsbelastung, der Beleuchtung oder auch der Ebenheit des Fahrbahnbelags an der Querungsstelle schlossen wir aus der Personengruppen-Gesamtbetrachtung, dass drei bauliche Einrichtungen zur Verkehrsberuhigung, das Vorhandensein einer Gehwegvorstreckung („Gehwegnase“) und die Sichtverhältnisse entscheidend sind. Verkehrsberuhigungsmaßnahmen wie Aufpflasterungen, schmale Fahrbahnen oder enge Eckausrundungen an Kreuzungen sorgen dafür, dass der Kfz-Verkehr mit angepasster Geschwindigkeit und aufmerksam unterwegs sein muss. Eine Gehwegvorstreckung bis an die Fahrgasse unterbindet illegales, den Fußverkehr blockierendes und sichtbehinderndes Halten und Parken, insbesondere wenn sie mit Pollern oder Fahrradbügeln als Parksperren versehen ist. Die Gehwegvorstreckung verkürzt überdies die Querungsstrecke (ein weiterer, wichtiger Indikator) und vergrößert den Gehwegbereich für den Aufenthalt.
Die Sichtverhältnisse zu untersuchen war die Crux am Projekt. Dass Zufußgehende und Autofahrende sich an Querungsstellen gegenseitig rechtzeitig erkennen können, ist für die Verkehrssicherheit elementar. Hierfür gibt es Vorgaben innerhalb welcher Strecken im Abstand zur Querungsstelle Sichtbehinderungen wie parkende Kfz, Werbetafeln oder dichte Bepflanzungen ausgeschlossen werden müssen – diese gelten jedoch nur auf gerader Strecke.
Was jedoch abbiegende Fahrzeuge betrifft, so geben die Richtlinien keine konkrete Regel vor. Wir wurden daher kreativ und prüften zuerst, ob die Eckausrundung von Sichtbehinderungen freigehalten wurde. Dann schauten wir uns die Querungsstelle über die Straße an, aus der die Fahrzeuge jeweils kommen, wenn sie rechts oder links abbiegen. Wird also beispielsweise die rechte Seite vor einer Querungsstelle freigehalten, so ist davon auszugehen, dass auch die Sichtbedingungen für die rechtsabbiegenden Fahrzeuge auf die rechts liegende Querungsstelle gut sind (bei ebenfalls freigehaltener Eckausrundung). Wir nahmen übrigens eine „Geeignetheit der Maßnahmen zur Sichtfreihaltung“, wie sie die technischen Regelwerke fordern, nur dann an, wenn das Parken durch bauliche Maßnahmen unterbunden wurde – eine reine Halteverbotsanordnung reicht zumindest in Berlin leider nicht aus.
Nachdem wir unser Bewertungsverfahren aufgestellt und einige Probe-Anwendungen gemacht hatten, ging es zwei Tage lang auf die Straße. Mit Klemmbrett, Tabellen und Maßband erfassten wir Querungsstelle für Querungsstelle anhand der 14 Indikatoren. Konnten zum Beispiel beim Indikator „Vorstreckung“ aufgrund der personengruppenspezifischen Gewichtung maximal 36 Punkte erreicht werden, so vergaben wir pro Gehwegseite 14 Punkte für eine Vorstreckung 0,30 bis 0,70 Meter über die Tiefe der Parkstände hinaus, 10 Punkte für eine Vorstreckung über die Tiefe der Parkstände oder 2 Punkte, wenn ein Halteverbot nur durch Fahrbahnmarkierungen hervorgehoben war. 4 Extra-Punkte gab es, wenn Parksperren (Poller, Fahrradbügel) vorhanden waren. In diesem Prinzip gingen wir für alle Indikatoren vor.
Schlussendlich hatten wir Daten von 51 Querungsstellen gesammelt, die wir in unserem Kiez vorfanden. An mindestens elf Orten fehlten Querungsstellen, also an Kreuzungen oder in Straßenzügen mit Querungsstellen-Abständen von über 150 Metern. Die erfassten Querungsstellen trugen wir dann mit einem GIS-Programm in eine Karte ein, diese verknüpften wir mit den Tabellenwerten. Für die Darstellung wählten wir die Summe aller Indikator-Punkte einer Querungsstelle – den „Querungsstellen-Qualitäts-Index“ (QQI). Für einen hohen QQI hätte eine Querungsstelle eine grüne Farbe bekommen, für einen niedrigen eine rote, mit Abstufungen dazwischen.
Leider kam keine Querungsstelle über ein ganz leichtes Hellgrün hinaus – mit gerade einmal 185 von 323 höchstens erreichbaren Punkten. Diese beste Querungsstelle ging über zwei relativ schmale Richtungsfahrbahnen mit ebenem Belag und einem breiten Mittelstreifen dazwischen, besaß Vorstreckungen (allerdings nur über die Tiefe der Parkstände) mit Parksperre und hielt die Vorgaben für die Sichtfreihaltung als einzige (!) komplett ein. Unter anderem fehlten aber verkehrsberuhigende Maßnahmen, eine Doppelquerung, taktile Platten oder auch ein Zebrastreifen, um mehr Punkte zu erhalten.
Die Querungsstellen über die Einmündungen von Nebenstraßen in Hauptverkehrsstraßen schnitten durchschnittlich besser ab als die Querungsstellen tiefer im Kiez. Dies lag an den zumindest für abbiegende Fahrzeuge oft konsequent eingehaltenen Sichterfordernissen, ebenen Fahrbahnbelägen und vorhandenen Ampeln. Neben einigen Ausnahmen schnitten viele Querungsstellen dagegen ziemlich verheerend ab: Zu hohe Borde, vor denen Autos parken, Fahrbahnbreiten von teils über 13 Metern, hohe Geschwindigkeiten trotz buckeligen Kopfsteinpflasters – von taktilen Platten oder einer Beleuchtung bei Dunkelheit ganz zu schweigen. Hier herrscht dringender Handlungsbedarf. Besonders erschreckend: In unmittelbarer Nähe zu der Kreuzung, die die schlechteste Gesamtbewertung von allen erhielt, befinden sich eine Schule und eine Kita.
Unsere Ergebnisse haben wir der lokalen „Bürgerinitiative Brüsseler Kiez“, die sich insbesondere für lebensfreundliche Straßenräume einsetzt, zukommen lassen. In der Diskussion mit Politik und Verwaltung könnte unsere Arbeit als Argumentationsgrundlage dienen. Wir hoffen, dass der Querungsstellen-Qualitäts-Index auch von anderen Akteuren – vielleicht Ihnen – eingesetzt und weiterentwickelt sowie eines Tages gar standardisiert und institutionalisiert wird.
Eine letzte Einsicht ist uns noch wichtig mitzuteilen: Eine schlechte Querungsstelle sollte nicht nur dazu anleiten, nur dort bauliche Verbesserungsmaßnahmen vorzunehmen. Vielmehr sollte gerade eine Häufung schlechter Querungsmöglichkeiten Anlass bieten, grundsätzlich neue Ideen für den Straßenraum zu entwickeln: Könnte nicht ein verkehrsberuhigter Bereich ausgewiesen, die gesamte Breite eben und ansprechend gepflastert(2), die Fahrbahn auf ein Mindestmaß verschmälert und abgepollert, Parkplätze reduziert und der Durchgangsverkehr durch modale Filter ausgeschlossen werden? Könnten nicht ehemals vom Autoverkehr dominierte Kreuzungen zu kleinen Stadtplätzen umgewandelt werden, an denen man sich gerne aufhält und trifft? Um für solche Straßenräume der Zukunft politische Argumentationsgrundlagen in der Hand zu halten, bedarf es in unserer zahlenfixierten Gesellschaft jedoch auch quantifizierter Bestandserhebungen – hierzu hoffen wir einen Beitrag zu leisten.
(1) Diese Angabe stand in den Empfehlungen für die Anlage von Erschließungsstraßen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) von 1985. Der Wert wird heute von FUSS e. V. wieder gefordert. www.geh-recht.de/querungsanlagen
(2) Den Bedürfnissen nach Orientierung von Personen mit Sehbehinderung muss dabei natürlich Rechnung getragen werden, etwa durch kontrastreiche Pflasterung und taktile Platten an den vorgesehenen Haupt-Querungsstellen.
Die Studie kann unter www.umkehr-fuss-online-shop.de → Kostenlose Downloads → Themen-Websites → Geh-Recht heruntergeladen werden.
Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich die Motivationen und Mobilitätspraktiken der Bewohner* innen in neun autofreien Wohnsiedlungen in Deutschland und der Schweiz untersucht. Ihre Gründe, ohne eigenes Auto zu leben, in eine autofreie Siedlung zu ziehen und ihre Alltagsmobilität wurden analysiert und in einer Typologie von unterschiedlichen Lebensstilen zusammengefasst. Außerdem wurde auch das notwendige Umfeld für ein autofreies Leben untersucht.
Die negativen Auswirkungen von Autos und dem für sie aufgebauten System an Infrastrukturen sind bestens bekannt. Diese haben insbesondere in Städten ein Ausmaß erreicht, das eine Transformation dringend nötig macht. In diesem Kontext sind seit den 1990er-Jahren in verschiedenen westeuropäischen Städten autofreie Wohnsiedlungen entstanden, in denen sich die Bewohner*innen verpflichten, langfristig ohne eigenes Auto zu leben. Um eine autodominierte Gesellschaft zu überwinden ist es wichtig diese Haushalte zu verstehen, da ihre Wohnorte „Reallabore“ einer zukunftsfähigen Mobilitäts- und Stadtentwicklung darstellen.
Dieser Beitrag präsentiert die Ergebnisse meiner Doktorarbeit für welche ich die Bewohner* innen neun autofreier Siedlungen untersucht habe, fünf in der Schweiz (Burgunder in Bern, FAB-A in Biel/Bienne, Giesserei in Winterthur, Oberfeld in Ostermundigen und Sihlbogen in Zürich) und vier in Deutschland (Klein Borstel und Saarlandstraße in Hamburg, Stellwerk60 in Köln und Weißenburg in Münster). Diese beinhalten die unterschiedlichen Arten von autofreien Wohnsiedlungen bezüglich Wohnform (auch wenn sechs davon Genossenschaften oder Wohnprojekte sind), Größe (zwischen 20 und 426 Wohneinheiten), Alter (die älteste wurde ab 2000, die neuste ab 2014 bezogen) und Lage (von der Innenstadt bis zum Stadtrand).
Die Analysen basieren einerseits auf einer 2016 durchgeführten Fragebogen-Befragung der rund 1‘200 Haushalte in allen neun Siedlungen (Rücklaufquote: 46%). Andererseits habe ich im Jahr danach mit 50 Haushalten in sechs Siedlungen ausführliche Interviews geführt.
Die Bewohner*innen zeichnen sich durch sehr spezifische Profile aus. Beinahe die Hälfte der Haushalte sind Familien (41% Paare mit Kind/ ern und 7% Alleinerziehende), rund ein Drittel Ein-Personen-Haushalte und etwa ein Sechstel Paare ohne Kinder. Sie verfügen über ein hohes Ausbildungsniveau, fast zwei Drittel der über 15-Jährigen haben einen Universitäts- oder Fachhochschul-Abschluss. Beim Haushaltseinkommen zeigt sich hingegen eine relativ ausgewogene Verteilung, höhere Einkommensklassen sind leicht übervertreten, was sich aber durch die vielen Familien relativiert. Durch all diese Merkmale unterscheiden sich die Bewohner*innen stark von den autofreien Haushalten insgesamt, aber auch von der Bevölkerung in den Städten, in denen sie leben. Dieser Unterschied zeigt sich auch daran, dass den Bewohner*innen ethische oder altruistische Werte am wichtigsten sind, so würden über 80% links wählen (d.h. in Deutschland Linke und Grüne, in der Schweiz SP, Grüne und AL).
Fast alle Bewohner*innen leben freiwillig ohne eigenes Auto und dies bedeutet kein Verzicht für sie. Ihre Motivationen autofrei zu leben beziehen sich hauptsächlich auf praktische und persönliche Gründe. Erstere sind entweder individuell – kein Bedarf für ein Auto, negative Aspekte des Autobesitzes und des Autofahrens, in der Stadt insbesondere, und nutzen statt besitzen – oder auf den Kontext bezogen – es sind genügend alternative Mobilitätsformen verfügbar oder grundsätzlich eignen sich Städte für ein autofreies Leben. Persönliche Motivationen beinhalten vor allem Überzeugungen, vorwiegende ökologische, aber auch Präferenzen (für andere Mobilitätsformen) und eine negative Einstellung zu Autos, entweder grundsätzlich oder in Bezug auf Städte. Finanzielle sowie Gesundheits- und Altersgründe spielen hingegen nur für sehr wenige Haushalte eine Rolle. Selten erklärt hingegen ein einzelner Grund, dass jemand autofrei lebt. Meistens ist es eine Kombination aus persönlichen und praktischen Motivationen, wobei die Interviews gezeigt haben, dass für die meisten Bewohner*innen die persönlichen überwiegen. Mit anderen Worten: sie wollen und können autofrei leben.
Die Motivationen, in eine autofreie Wohnsiedlung zu ziehen, basieren auch auf praktischen und persönlichen Gründen. Für die meisten Bewohner*innen waren die Eigenschaften der Siedlung zentral, insbesondere in den Genossenschaften und Wohnprojekten, in denen Gemeinschaftsleben, Partizipation und Selbstverwaltung wichtige Eigenschaften sind. Aber auch Energieeffizienz und Gemeinschaftsräume oder die Kinderfreundlichkeit spielten eine Rolle. Die Eigenschaften der Wohnung hingegen waren für viele nicht, wie sonst üblich, von größter Bedeutung. Mobilitätsbezogene Gründe wie die Lage der Siedlung und die Möglichkeit, sich im Alltag zu Fuß und mit dem Rad fortzubewegen gehörten zu den wichtigsten Umzugsgründen, die Autofreiheit der Siedlungen an sich hingegen nicht. Während sie für einige Haushalte zentral war, gab es aber auch Haushalte, die sich trotz Autofreiheit zu einem Umzug entschieden haben. Tatsächlich besaßen insgesamt 25% der Haushalte vor dem Einzug ein Auto. Schließlich gab es auch persönliche Gründe, welche die Wohnungswahl beeinflusst hatten, so beispielsweise der Wille unabhängig von Autos, in einem umweltfreundlichen Umfeld zu leben und Aktivitäten und Einrichtungen mit der Nachbarschaft zu teilen.
Die Bewohner*innen verfügen über ein ausgeprägtes Mobilitätskapital, das heißt sie haben zahlreiche persönliche Zugänge zu Mobilitätsformen wie auch die nötigen Kompetenzen, um ohne ein eigenes Auto mobil zu sein. Diese wurden zusammen mit ihren Mobilitätspraktiken, den tatsächlich zurückgelegten Wegen, zu vier Arten von Strategien zusammengefasst, welche ihnen ermöglichen, ohne eigenes Auto mobil zu sein.
Erstens bauen die Bewohner*innen auf die Nutzung von (erweiterten) alternativen Transportformen. Das ist insbesondere das Fahrrad, fast die Hälfte der Haushalte verfügen über mehr als ein Rad pro Person und nur 9% über kein einziges. Dazu kommen noch Anhänger sowie E- oder Cargo-Bikes. Diese werden oft explizit als Autoersatz gesehen und als viel praktischer, um in der Stadt Einkäufe oder Kinder zu transportieren. Dazu kommt, mindestens für längere Strecken, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Dies zeigt sich auch in der hohen Verfügbarkeit von Abos, insgesamt besitzen 60% der über 16-Jährigen eine Monats- oder Jahreskarte, in Deutschland meist für eine Stadt oder Region, in der Schweiz ist das GA, der Zugang zum öV im ganzen Land, sehr stark vertreten. Schließlich gehen viele Bewohner*innen auch oft und gerne längere Strecken zu Fuß.
Zweitens nutzen sie Mobilitätsdienstleistungen wie Taxis und Lieferdienste, aber auch punktuell Carsharing- oder andere Leih-Autos. Über 80% der erwachsenen Bewohner*innen besitzen einen Führerschein, wobei sich aber gezeigt hat, dass einige seit Jahren nicht mehr Auto fahren. Rund 40% sind Mitglied eines Carsharing-Anbieters, dieser Anteil variiert aber sehr stark, zwischen 19% in der Saarlandstraße und über 60% im Stellwerk60. Auch hat sich gezeigt, dass die große Mehrheit der Bewohner* innen ein Auto seltener als ein Mal im Monat braucht, besonders um große und schwere Dinge zu transportieren, für Freizeitaktivitäten oder Besuche von Freund*innen und Verwandten. Carsharing-Nutzung oder Taxifahrten ermöglichen es auch die vereinzelt genannten Probleme der Unerreichbarkeit gewisser Orte oder Aktivitäten zu lösen.
Im Zusammenhang mit diesen Dienstleistungen hat sich gezeigt, dass die Digitalisierung autofrei leben stark vereinfacht. Insbesondere Smartphone-Apps, welche Zugang zu allen Mobilitätsformen ermöglichen und deren Nutzung unterstützen, spielen eine wichtige Rolle. Dies wurde besonders von älteren Bewohner* innen erwähnt, während sie für jüngere derart normal sind, dass sie meist nicht spontan erwähnt wurden. Aber auch die Kommunikationsmöglichkeiten, unterwegs oder für Heimarbeit, sind ein wichtiger Aspekt der Digitalisierung, wie auch die Möglichkeit, sich (fast) alles online zu bestellen und liefern zu lassen.
Drittens favorisieren die Bewohner*innen autofreie Erreichbarkeit und daher für ihre Alltagsaktivitäten oft Ziele in der Nähe. Insbesondere Einkäufe werden meistens zu Fuß oder mit dem Fahrrad in nahe gelegenen Geschäften erledigt. Für Freizeitaktivitäten, aber auch für Arbeitsstellen stellt die Erreichbarkeit oft ein wichtiges Kriterium dar, und in einem weiteren Sinn auch für Urlaubsreisen, wobei hier zahlreiche Bewohner*innen auch auf Autos zurückgreifen oder gar mit dem Flugzeug verreisen.
Viertens erschien die Gemeinschaft der Bewohner*innen auch als wichtig. Auf der praktischen Ebene erleichtern Nachbarschaftshilfe oder Gemeinschaftsaktivitäten in der Siedlung autofreies Leben, dadurch dass Wege gar nicht erst entstehen oder Transporte gemeinsam organisiert werden. So gibt es in vielen Siedlungen Kommunikationskanäle, über welche sich Nachbar*innen absprechen können, wenn zum Beispiel jemand einen Transporter mietet und zum Baumarkt fährt. Darüber hinaus stärkt die Gemeinschaft die Bewohner*innen auch und „normalisiert“ diese Lebensform.
Obschon wie beschrieben für Motivationen und Praktiken klare Tendenzen bestehen, existiert eine große Vielfalt an Bewohner*innen. Basierend auf den Wertvorstellungen und Motivationen, autofrei zu leben, wie auch auf den Mobilitätspraktiken, wurden sechs Typen von Lebensstilen gefunden: ökologische, pragmatische und nutzenorientierte Fahrradfahrende sowie die selben drei Typen von Multimodalen.
Diese unterscheiden sich einerseits durch die unterschiedliche Bedeutung ökologischer Werte für Ihr Leben. Während für die Ökologischen der Umweltschutz all ihre Praktiken beeinflusst und leitet, haben die Pragmatischen zwar ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein, das aber nicht genügend wäre um autofrei zu leben. Für sie spielen praktische Aspekte auch eine wichtige Rolle für die Mobilität. Bei den Nutzenorientierten dagegen erklären ausschließlich praktische Gründe ihr autofreies Leben, sie brauchen kein Auto um in der Stadt mobil zu sein und begründen dies nicht mit bestimmten Wertvorstellungen. Bei allen drei Typen gibt es zwei unterschiedliche Muster der Alltagsmobilität: während für die einen das Fahrrad ganz klar das Hauptverkehrsmittel ist, sind die andern multimodal unterwegs und nutzen, regelmäßig oder gar überwiegend, auch öffentliche Verkehrsmittel.
Neben all diesen Aspekten, welche sich auf die Personen beziehen, braucht es schließlich aber auch einen räumlichen und sozialen Kontext, der es ermöglicht, autofrei zu leben. Nach Einschätzung der Bewohner*innen sind Infrastrukturen auf drei Ebenen wichtig. In der Siedlung selbst muss der Wichtigkeit des Fahrrads Rechnung getragen werden und für sichere, genügend große und einfach zugängliche Fahrradparkierungsmöglichkeiten gesorgt werden. Ein minimales Carsharing-Angebot scheint notwendig, wie auch eine ansprechende Gestaltung der Außenbereiche sowie Räume, welche Gemeinschaftsaktivitäten ermöglichen. Im umliegenden Quartier sind insbesondere Nahversorgungsmöglichkeiten aber auch Naherholungsgebiete zentral, während alle anderen Orte wie Poststellen oder Restaurants auch etwas weiter entfernt sein können. Schließlich hat sich gezeigt, dass nicht eine bestimmte Distanz zum Stadtzentrum ein Kriterium ist, sondern vielmehr eine gute Anbindung mit (mehreren) ÖPNV-Linien sowie attraktive Fuß- und Fahrradwege zur Innenstadt und anderen Alltagsorten. Kurz zusammengefasst scheint also autofrei Wohnen fast überall in (vor)städtischen Gebieten möglich.
Andererseits beinhaltet der zum autofreien Leben notwendige Kontext aber auch immaterielle Aspekte. Dazu gehören insbesondere soziale Normen welche ermöglichen, Autofreiheit überhaupt in Betracht zu ziehen, aber auch Gesetze, welche autofreie Wohnsiedlungen nicht erschweren und Autobesitz und -fahren erleichtern.
Zusammengefasst muss ein System von autofreier Mobilität aufgebaut werden, um das bisher dominierende System der Automobilität zu überwinden. Ein solches System besteht einerseits aus den verschiedenen individuellen Strategien der autofreien Menschen, aber auch aus einem räumlichen und sozialen Kontext, der autofreies Leben ermöglicht.
Für die Stadt- und Mobilitätsplanung heißt das, dass es zwar nicht sehr viel braucht (Fahrrad-Infrastruktur, ÖPNV, Nahversorgung und -erholung sind oft bereits vorhanden), damit Menschen erfolgreich autofrei leben können. Aber so lange das Auto in den Städten nicht grundlegend eingeschränkt wird und der „Nutzen“ und die gesellschaftliche „Normalität“ nicht gegeben sind, wird die notwendige Transformation zu einem System autofreier Mobilität nicht gelingen.
Meine Doktorarbeit untersuchte die Bewohner* innen neun autofreier Wohnsiedlungen in der Schweiz und Deutschland, die sich zu einem Leben ohne eigenes Auto verpflichten. Der Beitrag beantwortet die Fragen wer sie sind, weshalb und wie sie autofrei (und in diesen Siedlungen) leben und welchen räumlichen und sozialen Kontext es dazu braucht.
Die Dissertation (auf Englisch) wird Ende 2019 publiziert, kontaktieren Sie mich bei Interesse (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!).
Weitere Informationen zum Thema: Plattform autofrei/autoarm Wohnen: www.wohnbau-mobilitaet.ch
Dieser Artikel von Daniel Baehler ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2019, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.
Rechtsabbiegender Lkw übersieht eine/n geradeausfahrende/n Radfahrer/in, die/der zuvor parallel zu ihm fuhr. Im Durchschnitt fast wöchentlich kommt es so in Deutschland zu einem Todesfall an einer Kreuzung oder Einmündung. Dieses Risiko muss bestmöglich vermieden werden. Neben Abbiegeassistenten für Kfz und dem Schulterblick ihrer Fahrer/innen spielt u.a. auch die Infrastruktur eine Rolle.
Besonders gefährlich ist überraschenderweise die Situation, wenn das rechtabbiegende Kfz gehalten hat und wieder anfährt, während das geradeaus orientierte und bevorrechtigte Fahrrad (bei Grün) ohne Halt herannaht..(1) Gemäß Untersuchungen der Unfallforschung der Versicherer (UDV) im Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) sind Lieferwagen, Lkw und Busse zwar nicht überproportional häufig an Rechtsabbiegeunfällen mit Fahrradkollision beteiligt, sondern in etwa nur im Rahmen ihrer Verkehrsanteils. Doch haben Unfälle mit Beteiligung von Lkw und Lieferwagen im Mittel schwerere Unfallfolgen für den/die Radfahrer/in. Der Pkw-Anteil bei den 873 untersuchten Rechtsabbiegeunfällen lag bei 86 %.(2)
Geeignete infrastrukturelle Maßnahmen sind grundsätzlich:
In den letzten Monaten haben fast alle klassischen Medien über die Problematik der Rechtsabbiegeunfälle berichtet, zugespitzt von „Todesstreifen“(5) etc. geschrieben. Meist wurde dabei eine derzeit stark beworbene Wunderlösung vorgestellt und indirekt eingefordert: Die geschützte Kreuzung nach niederländischem Vorbild. Interessanterweise wird dieser Lösungsansatz hierzulande v.a. von verkehrsplanerischen Laiinnen und Laien in Initiativen, Blogs, Leserbriefen etc. eingefordert, während die einschlägig ausgebildeten Fachleute ganz überwiegend zurückhaltend bis ablehnend sind.
Beim Hype um die niederländischen Sicherheitskreuzungen wird oft vergessen, dass es sich um eine Bauform handelt, die in vielen deutschen Dörfern und Städten überhaupt nicht realisierbar ist: In Mittelgebirgslagen fehlt in vielen Straßenräumen schlichtweg der Platz – sowohl für gesonderte Radwege als auch deren Integration in die Einmündungen und Kreuzungen. Und auch in flachen Regionen gibt es teilweise enge historische Siedlungsstrukturen mit engen Hauptverkehrsstraßenräumen.
Kernelement, das die Sicherheit verbessern soll, ist das Abrücken der Furt nach Außen. Die deutsche Variante gibt es schon lange als „Knotenpunkt mit weit abgerückter Fahrradfurt (> 4 m)“. Da sie in wissenschaftlichen Sicherheitsstudien insgesamt oft schlecht bis sehr schlecht abgeschnitten hat, wird sie von den hiesigen technischen Regelwerken (RASt 2006, ERA 2010 samt Vorgängerausgaben) nicht favorisiert – obwohl oder weil es sich um eine besonders autofreundliche Lösung handelt. Zur Absicherung der Rad- und Fußverkehre werden Teilaufpflasterungen empfohlen.(6) Die weite Abrückung der Furt hat einzelne Vorteile, sicherheitsmäßig aber bedeutsame Nachteile
mit Beampelung:
ohne Beampelung:
Mit und ohne Beampelung:
ohne Beampelung:
mit Beampelung:
Mit und ohne Beampelung:
Die weiteren Bausteine der idealtypischen „geschützten Kreuzung“ sind in den Niederlanden kein allerorten und immer ganz selbstverständlich gegebener Standard (auch wenn manche euphorische Beschreibung in der jüngsten deutschen Literatur durch Pauschalisierungen den entsprechenden Eindruck erweckt): Die Wartenischen (2) (s. Abb.) mit vorgezogener Haltelinie (4) sind nur bei ausreichendem Platz realisierbar.16) Die ungewöhnlichen „Schutzinseln“ (1) haben hauptsächlich die Aufgabe, den Radverkehr auf die abgerückte Furt zu lenken. Eine wichtige und vorbildliche niederländische Besonderheit ist dabei, dass an diesen Stellen praktisch nichts herumsteht, was die Sicht auf den Radweg (und die Fußgängerfurt) stören würde. Während in Deutschland zu diesem (umstrittenen) Zweck an etlichen Knotenpunkten noch heute Absperrgeländer im Einsatz sind, sind die meist durch erhöhte Borde ausgebildeten „Schutzinseln“ eine städtebaulich ansprechendere Barriere (doch als solche auch mit den genannten Nachteilen verbunden). Interessant ist, dass in den Niederlanden nur die bevorrechtigten Radfurten eine Farbmarkierung (3) aufweisen (ziemlich regelmäßig, wenn auch nicht überall).
An manchen beampelten Knotenpunkten wird der Radverkehr gesondert signalisiert, Freigabe dann oft nur nach Anforderung z.B. durch Drucktaster.
Die Abrückung der Radfurt beeinträchtigt den Fußverkehr, denn die Fußverkehrsfurt wird gleichermaßen abgerückt. Meist liegt sie dann nicht mehr in der Gehwegachse, was Umwege zur Folge hat.
„Das Rechtsabbiegen von Kraftfahrzeugen ist an Knotenpunkten mit Lichtsignalanlage der Hauptkonflikt bei Radwegführungen. Hier schneiden die Führungen des Radverkehrs auf der Fahrbahn oder auf Radfahrstreifen erheblich günstiger ab.“17)
In einer Untersuchung im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) wurden speziell Rechtsabbiegeunfällen mit Lkw- und Radfahrerbeteiligung analysiert. Dabei zeigte sich, dass knapp die Hälfte (333 von 684 Unfällen) an lichtsignalisierten Knotenpunktarmen mit Radweg und einer geringen Furtabsetzung von 0 bis 2 m auftrat.18)
Die GDV/UDV-Studie „Abbiegeunfälle Pkw/Lkw und Fahrrad“ aus dem Jahr 2013 , die Unfälle und Konflikte mit allen Kfz einbezog, zeigt keine eindeutige Sicherheitspräferenz bezüglich einer bestimmten Radverkehrsführungsform an Knotenpunkten im Hinblick auf Rechtsbbiegeunfälle von Kfz mit Fahrradkollision auf.
Der Mischverkehr auf der Fahrbahn war übrigens bei Knotenpunkten ohne LSA besonders sicher. Bei dieser Führungsform verunglückten bei den (allerdings nur fünf) untersuchten Unfällen keine Radfahrer/innen auf der Fahrbahn, sondern nur diejenigen, die unrechtmäßig auf dem vermeintlich sicheren Gehweg Rad fuhren (Diskrepanz von subjektiver und objektiver Sicherheit, s.u.).19)
Am unfallauffälligsten waren Knotenpunkte mit LSA und Radwegen mit mittlerer Furtabsetzung (zwischen 2 und < 4 m).(20) „In Bezug auf Rechtsabbiegeunfälle (…) [sind Knotenpunkte] ohne LSA [mit] (...) weiter Furtabsetzung > 4 m unfallauffällig. Es handelt sich hierbei um eine vergleichsweise seltene Führungsform mit insgesamt eher geringen Unfallzahlen, Unfalldichten und Unfallkostendichten. Für Rechtsabbiegeunfälle weisen die (…) [Knotenpunkte] jedoch im Vergleich (...) das höchste individuelle Unfallrisiko für Radfahrer und rechtsabbiegende Kfz (höchste Unfallraten) sowie die höchsten Unfallkostenraten auf.“(21)
An Knotenpunkten mit LSA und Radfahr- bzw. Schutzstreifen ist das „individuelle Unfallrisiko für geradeausfahrende Radfahrer und abbiegende Kfz (...) sehr gering“(22) (trotz hoher Unfallquoten und -dichten an den Untersuchungsknotenpunkten, was weiteren Forschungsbedarf aufzeigt). „In der Verhaltensbeobachtung wurde festgestellt, dass bei Radfahr-/Schutzstreifen die regelkonforme Nutzung am höchsten ist. Nur selten wird auf dem Gehweg oder in falscher Richtung gefahren. In der Befragung wurde bei dieser Führungsform das schnelle Vorankommen am positivsten bewertet.“(23)
In einer noch nicht veröffentlichten Studie im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums wurden Radfahrstreifen in Mittellage zwischen Geradeaus- und Rechtsabbiegestreifen untersucht. Sie sind Bestandteil des deutschen technischen Regelwerks (ERA 2010, Bild 52) und verlagern das gefährliche Kreuzen zwischen rechtsabbiegenden Kfz und geradeausfahrendem Kfz in den Streckenabschnitt kurz vor dem Knotenpunkt, um ihn zu entschärfen. Dort tritt das später nach recht abbiegende Kfz nur als Fahrstreifenwechsler auf. Bei den Unfall- und Verhaltensanalysen ergaben sich unter bestimmten Bedingungen Sicherheitsvorteile (u.a. viel Radverkehr geradeaus, wenige Kfz-Rechtsabbieger, ausreichend lange Rechtsabbiegespur, bestimmte Breiten- und Längenmaße).(24)
Gut ausgeführte Radfahrstreifen in Mittellage sind eine attraktive Infrastrukturvariante im Zuge von Hauptverkehrsstraßen für den Stadtverkehr gewohnte Radfahrer/innen. Ein bisher vernachlässigter Ansatz zur Verbesserung von Sicherheit und Allgemeinakzeptanz der Radfahrstreifen in Mittellage sowie zur Ausweitung ihrer Einsetzbarkeit könnte eine zusätzliche leichte „Teilaufpflasterung“ (bauliche Anhebung) sein.
Damit das Fahrrad ein Alltagsverkehrsmittel für Alle wird, braucht es grundsätzlich für jede Relation mindestens eine möglichst schöne anfänger-/behinderten-/kinder-/senioren-/familienfreundliche Route, die wenig oder keinen Kfz-Verkehr aufweist, und darüber hinaus eine schnelle Direktverbindung für das dynamische und selbstsichere Segment der Radfahrerschaft (vgl. RiN 2008 / Richtlinie zur integrierten Netzgestaltung).
Bekanntlich fühlt sich ein Großteil der praktizierenden und vor allem der potentiellen Radfahrer/innen am sichersten auf Wegen mit einer baulichen Abgrenzung Kfz-Verkehr (bzw. ganz ohne Autoverkehr). Dass Bordsteinradwege objektiv nicht immer sicher sind, ist in Fachkreisen hinlänglich bekannt, bei den Radfahrenden aber oft nicht in ausreichendem Maß. Erwähnt seien hier nur die Stichworte „Knotenpunkte“ (s.o.!), „Grundstücksein- und Ausfahrten“, „Mitbenutzung durch Fußgänger/innen“, „hoher Anreiz zum gefährlichen unrechtmäßigen Befahren von Einrichtungsradwegen in Gegenrichtung“ (Linksfahren/ „Geisterfahrer“). Gewiss gibt es durchaus Radwege ohne erhöhtes Risiko, so wie es auch sichere und unsichere Schutz- und Radfahrstreifen gibt - je nach Breite oder möglichen Planungsfehlern.
Markierungslösungen sind oft sicherer als baulich angelegte Radwege. Bei auf der Fahrbahn markierten Radverkehrsanlagen gilt es v.a., ausreichend breite Sicherheitsstreifen zu parkenden Kfz einzuplanen (einheitlich 0,75 m) und möglichst kenntlich zu machen (Längsmarkierung auch an den Parkständen). Bei Fahrbahnführungen ist ruhender Kfz-Verkehr das Hauptrisiko für Radfahrer/innen, wo keine ausreichend breiten Radverkehrsanlagen bestehen oder eingerichtet werden können. Fahrradpiktogrammketten in entsprechend abgerückter Lage zum Kfz-Parken und -Halten können bei schmalen Fahrbahnen ein Lösungsansatz sein, um vor „Dooring“-Unfällen durch Autotüraufschlagen schützen (was derzeit im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums untersucht wird).
Ein weiterer Lösungsansatz wäre die (ggf. durch Begleitmaßnahmen durchgesetzte) Verlangsamung des Kfz-Verkehrs auf Tempo 30 oder weniger. Diese kostengünstige Sofortmaßnahme müsste rasch als Standard für Innerortsstraßen eingeführt werden.
„Obwohl ein gutes Kreuzungsdesign lebensnotwendig für Radfahrende ist und das Thema im Zentrum der Diskussion über mehr Verkehrssicherheit steht, gibt es in Deutschland bisher keine angemessenen Lösungen“, kritisiert der ADFC etwas zugespitzt. Der Verband ist zu Recht besorgt wegen der zu erwartenden Zunahme der Radunfälle, die sich aus der Aufkommenssteigerung und mehr Pedelecs ergibt.(25)
Die deutschen technischen Regelwerke basieren i.d.R. auf umfangreichen wissenschaftlichen Studien oder konkreten positiven Praxiserfahrungen. Sind niederländische Varianten für sich genommen tatsächlich sicherer? Entsprechende Studien fehlen bzw. sind nicht bekannt, zumindest ist das Sicherheitsniveau in den Niederlanden nicht so gut wie oft behauptet. Auf jeden Fall greift es zu kurz, ausschließlich auf Unterschiede bei der Radverkehrsführung zu schauen, weil nicht immer ein ganzes Spektrum an Einflussfaktoren das Auftreten von Unfällen sowie deren Ausprägung bestimmt, z.B.:
In den Niederlanden läuft der Straßenverkehr im Allgemeinen entspannter und ausgeglichenerer als in Deutschland ab; das Auto ist mehr Gebrauchsgegenstand als Statussymbol (Mentalitätsunterschiede). Schnelles Autofahren ist kein nationaler Kulturbestandteil (Tempobegrenzungen auf Autobahnen und Landstraßen). Wer schon als Kind und Jugendliche/r viel „Fiets“ gefahren und in einem Land mit hohem Radverkehrsaufkommen lebt, wird auch als Auto-/ Bus-/Lkw-Fahrer/in ein gewisses Grundverständnis aufweisen und mit dem Auftreten von Fahrrädern rechnen (Kulturunterschiede, biografische Prägung). Die Sanktionen bei Verkehrsverstößen mit Kfz sind stärker und somit auch (sicherheits-)wirksamer als in Deutschland, wo selbst sichtbehindenderndes Falschparken wenig kostet und kaum rechtssicher abgeschleppt werden darf (ordnungsrechtlicher Rahmen, Würdigung des Autos im Vergleich zu nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer/innen). Wer in den Niederlanden mit dem Kfz eine/n Radfahrer/in schädigt, hat bei Kindern stets die volle Schuld und bei Jugendlichen und Erwachsenen immer mindestens die halbe (Verschuldungsvermutungshaftung) ... Mobilitätskultur wird durch vielerlei politische Rahmensetzungen gestaltet. Infrastruktur ist dabei nur ein Baustein.
Für Situationen mit viel Kfz-Verkehr gibt es nicht „den“ optimalen Straßenkreuzungstyp zur Vorbeugung von Rechtsabbiegeunfällen mit Gefährdung von Radfahrer/innen. Letztlich muss jeder Straßenraum und jeder Knotenpunkt individuell für die jeweilige Situation geplant und in Zukunft ggf. angepasst werden. Selbstverständlich sollten dabei erfolgreiche Lösungsansätze angewendet werden. Viel Positives findet sich bereits im geltenden deutschen Regelwerk. Die Einbeziehung internationaler Erfahrungen ist sinnvoll, doch nicht alles ist unmittelbar übertragbar bzw. überall gleich wirksam. Schließlich sind auch nicht-bauliche Rahmenbedingungen für (Un-)Sicherheit von Infrastrukturen verantwortlich, einschließlich der Mobilitätskultur. Ruhender Kfz-Verkehr ist oft der größte Flächenkonkurrent in den Straßen. Die Verkehrswende braucht sowohl aus Sicherheits- als auch Kapazitätsgründen oft mehr Platz für Fahrrad, doch auch ausreichend breite und ungestörte Flächen zum Gehen. Gute Radverkehrsförderung zu Lasten der Fußgänger/innen geht nicht!
Die in der deutschen Debatte zum Radverkehr z.Z. sehr angesagte „geschützte Kreuzung“ wird überschätzt, u.a. weil sie vielerorts gar nicht angewendet werden kann und auch gewisse Nachteile aufweist, insbesondere für den Fußverkehr. Radverkehrssicherheit wird nicht nur von der Infrastruktur bestimmt, sondern von vielerlei Rahmenbedingungen.
(1) Zum Unfallrisiko bei rechtsabbiegenden Kfz, die verkehrsbedingt hinter der „grünen“ Ampel anhalten mussten und wieder anfuhren, siehe Verkehrsunfalldienst Bremen: Untersuchung von Radfahrer- und Fußgängerunfällen an Knotenpunkten mit Lichtsignalanlagen. Bremen 1985; zit. n. Alrutz / Schnüll 1992, S. 27. Zur besonders hohen Konfliktrate von Kfz, die bei Rot an der Haltlinie (und nicht verkehrsbedingt dahinter) gestoppt hatten und nach dem Anfahren auf bei Grün fahrende Fahrräder treffen, siehe: Kolrep-Rometsch u.a.: Abbiegeunfälle Pkw/Lkw und Fahrrad. Forschungsbericht Nr. 21. Hrsg.: Gesamtverband der dt. Versicherungswirtschaft GDV / Unfallforschung der Versicherer UDV. Berlin 2013, S. 94 /
(2) Kolrep-Rometsch u.a. 2013 , S. 65
(3) Welleman, A.G.: Konfliktfreie Phasen für Radfahrer und Mopedfahrer; Zeitschrift für Verkehrssicherheit, Heft 3/1984, S. 106-113; zit n. Alrutz / Schnüll 1992, S. 28.
(4) 43 % aller in einer BASt-Studie untersuchten Knotenpunktarme mit dokumentierten Lkw-Rechtsabbiegeunfällen und Fahrradbeteiligung wiesen Sichtbehinderungen durch Begrünung, parkende/haltende Kfz oder ÖPNV-Haltestellen auf, wodurch das Sichtfeld am Lkw-Fahrerplatz weiter eingeschränkt wurde. Quelle: Richter, T.: Sicherheit von Radverkehrsanlagen an Knotenpunkten –wie (un-)sicher sind regelkonforme Lösungen? In: Neue Wege im Verkehr 2018 – Seminar-Handout. Hrsg.: SHP Ingenieure Hannover, 26.9.2018, S. 1f
(5) TAZ: „Radeln auf dem Todesstreifen“, 19.3.2019, S. 1
(6) Alrutz / Schnüll u.a.: Sicherung von Radfahrern an städtischen Knotenpunkten. Bericht zum Forschungsprojekt 8925 der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Hrsg.: BASt. Bergisch Gladbach 1992, S. 237 und 242
(7) ebenda, S. 246
(8) ebenda, S. 230
(9) ebenda, S. 243
(10) ebenda, S. 238
(11) ebenda
(12) ebenda, S. 228
(13) ebenda, S. 246
(14) vgl. Kolrep-Rometsch u.a. 2013, S. 80 u. 88
(15) vgl. ebenda, S. 79
(16) vgl. fehlende Wartenische oben links in der Gesamtansicht des Musterknotenpunkts „Geschützte Kreuzung“ (s. Abb.)
(17) Alrutz / Schnüll u.a. 1992, S. 237
(18) Richter, T.: Sicherheit von Radverkehrsanlagen an Knotenpunkten –wie (un-)sicher sind regelkonforme Lösungen? In: Neue Wege im Verkehr 2018 – Seminar-Handout. Hrsg.: SHP Ingenieure Hannover, 26.9.2018, S. 1f
(19) Kolrep-Rometsch u.a. 2013, S. 78
(20) ebenda, S. 87
(21) ebenda
(22) ebenda S. 88
(23) ebenda
(24) vgl. Richter 2018, S. 2
(25) ADFC (Hrsg.) So geht Verkehrswende. Berlin 2018, S 35
Dieser Artikel von Arndt Schwab ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2019, erschienen. Die vorliegende Onlinefassung wurde stellenweise ergänzt.
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